Geschichten für Erwachsene: Fantastisches und Skurriles

Übersicht:

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- Die gläserne Kugel

- Die Köpfe

Déjá-vu

- Gespenster

- Der Computer-Mensch

- Die Wolke

- Das Rätsel 

 

Bitte beachten Sie!

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Die gläserne Kugel

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von Joachim Größer (2007)

 

Auf dem Flohmarkt herrschte lebhaftes Treiben. Es war erstaunlich, wie viele Leute irgendetwas zu verkaufen hatten. Erstaunlich auch, dass mindestens dreimal so viele Menschen über den Markt schlenderten, um irgendetwas Antikes, was meist garantiert nicht antik und absolut nutzlos war, zu erwerben.

Da hatte ein Flohmarkt-Händler auf eine Pappe mit großen Buchstaben gekritzelt „GARANTIRT ANTIEK!“. Ein anderer pries Schallplatten an, wo man vermuten konnte, dass bestimmt nur die Hüllen noch in Ordnung waren. Die meisten der Flohmarkt-Händler standen oder saßen und warteten auf Kauflustige.

Herr Schulze, um es mit seiner Frau, die leidenschaftlich gern Flohmärkte besuchte, nicht zu verderben, schlenderte an ihrer Seite über diesen legendären Markt, der alljährlich im Mai das ganze Zentrum des Städtchens füllte. Am Stand eines kleinen alten Mannes, bestimmt ging er schon auf die 80 zu, hielt Herr Schulze an. Sein Blick fiel auf eine gläserne Kugel, wie er sie in Filmen bei Wahrsagerinnen gesehen hatte. Sie hatte die Größe einer Pampelmuse, war milchig eingefärbt und trotzdem glasklar. Und dieser letzte Umstand ließ Herrn Schulze am Stand verweilen. Er nahm die Kugel aus einem wunderschönen, aus Elfenbein geschnitzten Ständer und begutachtete das Stück. Der Alte, der aufgrund seiner langen Händlertätigkeit sofort ein kauffreudiges Opfer ausmachte, erklärte Herrn Schulze ohne dessen Aufforderung: „Billig, mein Herr – sehr billig! Beste Handarbeit und garantiert über hundert Jahre alt. Diese Kugel wird Ihren Schreibtisch zieren, mein Herr!“

„Wie viel?“, fragte Herr Schulze. Und der Alte lächelte freundlich: „Nur 400 €!“. Er hielt Herrn Schulze auch den Ständer zur Begutachtung hin. Herr Schulze nahm den Ständer und besah die Elfenbeinschnitzereien. Seine Frau flüsterte ihm zu: „400 €! Du willst das doch nicht etwa kaufen?!“

Der Alte, der zwar nicht das Geflüster der Frau Schulze verstand, dafür aber ihre Mimik und Gestik deutete, machte Herrn Schulze ein erneutes Angebot: „Nur für Sie, mein Herr – ich gebe ihnen dieses Prachtstück für schlappe 350 €. Es ist ein Unikat und garantiert viel mehr wert!“

Frau Schulze, die den begehrenden Blick ihres Mannes zu deuten verstand, konterte: „Wenn Ihre komische Kugel viel mehr wert ist, ja warum verkaufen Sie die dann so billig?“ Und sehr energisch fügte sie hinzu: „Komm Hans!“

Und Hans, eigentlich hieß er ja Johannes Schulze, trabte seiner Gattin hinterher, nicht ohne vorher dem Alten zuzuflüstern: „Für 300 kaufe ich sie! Ich komme wieder!“

Der Alte lächelte weise: „Ja, ja, die lieben Frauen.“ Er nahm die gläserne Kugel samt Ständer und legte sie in einen alten Koffer.

Kurz bevor das Ehepaar Schulze das Auto erreichte, sagte Herr Schulze: „Mechthild, ich gehe schnell noch auf die Toilette.“ Und ehe seine Mechthild antworten konnte, drückte er ihr den Autoschlüssel in die Hand und verschwand.

Der Weg zur Toilette endete am Stand des Alten. „Dreihundert!“, sagte Herr Schulze und zückte sein Portemonnaie. „350, mein Herr, 350!“ Der Alte blieb hart.

Herr Schulze war besessen von der Idee, diese Kugel zu erwerben. „Ich habe nur 310 € in Scheinen. Ich gebe Ihnen mein ganzes Kleingeld dazu!“ Herr Schulze legte die Geldscheine auf den Tisch und schüttete sein gesamtes Kleingeld dazu. Der Alte erkannte mehrere Ein- und Zweieuromünzen. So antwortete er großzügig: „Aber nur, weil Sie es sind, mein Herr!“

Herr Schulze eilte zum Auto zurück. Er verstaute seine Neuerwerbung im Kofferraum und hoffte nur, dass seine Frau, die mit einer Lektüre beschäftigt war, nichts von seinem Kauf mitbekommen hatte. Da keine Frage diesbezüglich kam und auch sonst der Haussegen nicht gelitten hatte, entschloss sich Herr Schulze, am nächsten Tag seine Frau mit einem Geschenk zu überraschen. Er kaufte ihr die Halskette, die im Schaufenster des Juweliers schon lange die Aufmerksamkeit seiner Mechthild genoss, aber deren Kauf bisher wegen des ausgewiesenen Preises nicht in Frage kam.

Zu Hause musste sich Frau Schulze mit geschlossenen Augen vor den Spiegel stellen. Ihr Mann legte ihr die Kette um und verkündete strahlend: „Na, ist das nicht eine wunderschöne Kette?“

„Du hast die Glaskugel gekauft! Ich habe es geahnt!“ Die Augen seiner Mechthild blitzten vor Zorn.

Kleinlaut erwiderte Herr Schulze: „Ich konnte einfach nicht widerstehen. Das musst du doch verstehen, Mechthild. Ich habe auch den Preis heruntergehandelt.“

Frau Schulze drehte sich wieder zum Spiegel und betrachtete mit Wohlgefallen das Geschenk ihres Hans. Herr Schulze kannte seine Frau nach 35-jähriger Ehe gut genug, um zu wissen, dass er nichts mehr zu befürchten hatte. Also lief er zur Garage und entnahm dem Kofferraum Kugel samt Ständer. Vorsichtig trug er beide Gegenstände in sein Arbeitszimmer und stellte sie so, dass er immer einen Blick darauf werfen konnte. Fast zärtlich strich er über die glatte Oberfläche der Kugel. Johannes Schulze dachte: „Ich werde mich erst einmal am Glanz und am Farbspiel meiner Kugel erfreuen.“ Und es war ihm, als würde die Kugel ihm antworten: „Tu das, Johannes! Tu das!“

Den ganzen Nachmittag verbrachte Herr Schulze im Arbeitszimmer. Das war für seine Frau nichts Ungewöhnliches, war doch ihr Mann Übersetzer und verbrachte fast die ganze Arbeitszeit am Schreibtisch.

Am nächsten Morgen wiederholte sich alles. Herr Schulze nahm die Kugel in die Hand, betrachtete sie mit Wohlgefallen und murmelte: „Ist sie nicht herrlich! Solch ein schönes Exemplar! Ich könnte sie stundenlang ansehen!“

Und wieder glaubte er, die Kugel zu hören: „Ja dann tu es doch, Johannes!“

Auch an diesem Tag übersetzte Johannes Schulze kein einziges Wort.

Pünktlich um 8 betrat Herr Schulze sein Arbeitszimmer, verließ es für kurze Zeit gegen 12. Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten legte er sich nach dem Mittagessen nicht für ein halbes Stündchen aufs Ohr, sondern eilte sofort wieder an seinen Schreibtisch. Die ganze Woche ging das so. Frau Schulze, an die Arbeitsweise ihres Mannes gewöhnt, ging ihrer Tätigkeit nach und wurde erst hellhörig, als ein Anruf vom Verlag kam. Sie nahm das Gespräch entgegen und übermittelte es ihrem Mann: „Hans, du hast den Termin der Abgabe beim Verlag nicht eingehalten! Ruf bitte zurück!“

Frau Schulze hörte ihren Mann von „unvorhersehbaren Schwierigkeiten“ sprechen. Auch wiederholte er mehrfach, dass Montag früh alles, aber auch wirklich alles, beim Verlag vorliegen würde. Was das hieß, wusste Frau Schulze. Das Wochenende würde sich ihr Mann nur in die Arbeit knien. Sie bereitete sich schon innerlich darauf vor, dass ihm selbst das Essen mundgerecht serviert werden musste. Aber es kam anders. Ihr Mann ging zwar ins Arbeitszimmer und eigenartigerweise hörte sie ihn dann laut mit sich selbst sprechen. Doch Sinn und Inhalt verstand sie nicht. Nach kurzer Zeit kam ihr Mann hochroten Kopfes mit allen Unterlagen ins Wohnzimmer und kommentierte diesen Umzug: „Damit du nicht das ganze Wochenende alleine bist, arbeite ich ausnahmsweise hier. Ich hoffe, es stört dich nicht.“

Natürlich störte das Frau Schulze nicht, nur – alles wiederholte sich in der kommenden Woche: der Anruf vom Verlag, das Arbeiten übers Wochenende. Und auch die dritte und vierte Woche verlief nicht anders.

„Johannes, jetzt reicht es!“, schimpfte Frau Schulze. „Der Verlag wird dir noch deinen Vertrag kündigen! Finde zu deiner alten Arbeitsweise zurück oder ...“ Hier machte seine Mechthild eine lange Pause, ehe sie den Satz aussprach, der ihn aufschrecken sollte: „... dann ist nicht nur dein Arbeitsverhältnis bedroht, sondern auch unsere Ehe!“

Und diese Androhung tat Wunder. Johannes Schulze forderte sogar seine Frau zu einem längeren Spaziergang durch den Stadtwald auf und versprach ihr beim Spazierengehen, dass alles wieder ins Lot kommen werde. Richtig gut tat ihm dieser Spaziergang. Er atmete tief durch und er, der Johannes Schulze, verstand gar nicht mehr, warum er sein Arbeitszimmer nicht mehr verlassen hatte. Froh über die Wandlung ihres Mannes, wollte sie ihm frisch gebackenen Kuchen und heißen Kaffee ins Arbeitszimmer bringen. Doch hinein ging sie nicht. Ihr Mann sprach nämlich laut und deutlich: „Ja, ich werde dich nicht mehr verlassen!“ und „Ich werde dich immer anschauen!“ Erschrocken stürzte Frau Schulze in die Küche. Was sollte sie tun? Hatte ihr Mann Besuch, von dem sie nichts wusste? Aber wie denn, da niemand das Haus betreten hatte!

Also beschloss sie, das Arbeitszimmer doch zu betreten. Am Schreibtisch saß ihr Johannes - vor ihm lagen die Schriftstücke, die er übersetzen sollte. Er aber saß nur da und stierte auf die gläserne Kugel.

„Hans!“, rief sie. „Ist alles in Ordnung?“

„Aber ja“, antwortete ihr Hans verstört, „ich will mich nur konzentrieren.“

Frau Schulze verließ sehr beunruhigt das Arbeitszimmer. Das war nicht mehr ihr Hans. Seine Augen glänzten fiebrig, sein unsteter Blick und die ganze Haltung drückten aus: Lass mich in Ruhe! Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben! Und da sie in ihrer langjährigen Ehe keinen einzigen Tag getrennt waren, wusste sie, warum das Verhalten ihres Mannes sie beängstigte.

Sie beobachtete ihren Hans sehr genau. Er verließ so gut wie gar nicht mehr das Arbeitszimmer, aß kaum noch etwas und übersetzte kein einziges Wort. Sein Wangen fielen ein, rasieren tat er sich auch nicht und Frau Schulze hatte das Gefühl, dass das, was sie ihm sagte, gar nicht mehr in sein Bewusstsein drang.

In ihrer Verzweiflung suchte sie ihren Hausarzt auf. Doch der glaubte ihr nicht so recht. Wie sollte auch innerhalb weniger Wochen aus einem gesunden Manne, der gerade mal seinen 60. Geburtstag gefeiert hatte, ein willenloser, verkommener Alter geworden sein?

„Bringen Sie ihn heute Nachmittag in meine Sprechstunde“, sagte der Arzt. „Ich werde mich mit ihm unterhalten.“

Aber wie sollte sie ihren Mann bewegen, das Arbeitszimmer, geschweige denn das Haus, zu verlassen? Nun erhielt sie auch keine Antworten mehr. Ihr Mann saß nur noch da und stierte auf die gläserne Kugel.

„Doktor“, schluchzte Frau Schulze am Telefon, „Sie müssen kommen! Bitte, kommen Sie!“

Am Abend erschien der Arzt: „Na, wo steckt er denn, unser Zimmerhocker?“, sagte er betont jovial.

„Gehen Sie ins Arbeitszimmer, Herr Doktor“, antwortete Frau Schulze mit verheultem Gesicht. „Jetzt spricht er auch nicht mehr mit mir!“

Der Arzt erschrak, als er das Zimmer betrat, und seinen Patienten am Schreibtisch sitzen sah. Diesen Mann hätte er auf der Straße nicht mehr als Herrn Johannes Schulze erkannt. Hastig maß er Puls und Blutdruck, schaute dem Patienten in die Augen und sprach ihn an. „Wie geht es Ihnen, Herr Schulze?“, fragte er. Als er keine Antwort erhielt, fragte er nochmals: „Erkennen Sie mich? Ich bin Ihr Hausarzt!“

Johannes Schulze saß und rührte sich nicht. Er nahm nichts mehr von seiner Umwelt wahr.

Der Doktor verließ das Arbeitszimmer. „Ist es schlimm?“, fragte Frau Schulze, wieder dem Weinen nahe. „Sehr schlimm“, erwiderte der Arzt. „Er muss sofort ins Krankenhaus! Es besteht Lebensgefahr!“ Nun konnte Frau Schulze ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Aufschluchzend ging sie ins Wohnzimmer. Der Arzt folgte ihr. „Nehmen Sie die Tablette“, sprach er. „Sie müssen sich beruhigen. Ich rufe den Krankenwagen und werde Ihren Mann ins Krankenhaus begleiten. Anschließend komme ich wieder zurück.“

Dankbar schluckte Frau Schulze die Tablette und noch während der Arzt telefonierte, schlummerte sie ein. Geweckt wurde sie von der Klingel im Flur. Draußen stand im Dunklen der Hausarzt.

„Ihr Gatte ist in der Psychiatrie, Frau Schulze. Morgen früh möchte Sie der behandelnde Arzt, das ist Dr. Robert Mayen, gern sprechen. Er wird ihnen Fragen stellen wollen.“

Frau Schulze nickte nur, krampfhaft die Tränen zurückhaltend. „Wenn es Ihnen nicht gut geht, rufen Sie mich an, bitte! Auch nachts, Frau Schulze!“ Ihr Hausarzt musterte sie durch seine dunkle Hornbrille. „Sie haben mich doch verstanden, Frau Schulze?“, fragte er, als er von Mechthild Schulze keine Antwort bekam.

„Ja, ja Doktor“, erwiderte sie. „Ich verstehe Sie und ich melde mich, wenn es mir schlecht geht.“ Kaum hatte sie das letzte Wort gesprochen, da schossen ihr erneut die Tränen in die Augen. Der Arzt gab ihr noch eine Tablette und verabschiedete sich dann mit besorgtem Blick.

Am nächsten Morgen fuhr Frau Schulze in die Klinik. Auf Dr. Mayen musste sie warten. Dann endlich kam er. Frau Schulze bestürmte den Arzt: „Wie geht es meinem Mann? Kann ich zu ihm?“

„Wir haben Ihren Mann so weit stabilisiert, dass er außer akuter Lebensgefahr ist. Überraschenderweise bat er uns, allerdings nur mit Gesten – ohne zu reden, um Papier und Schreibstift. Die halbe Nacht saß er und hat uns eine Geschichte aufgeschrieben. Würden Sie diese bitte lesen!“

Der Arzt reichte Frau Schulze mehrere Seiten. Sie erkannte die Handschrift ihres Mannes, kaum lesbar wie immer. Sie überflog das Gekritzel mehr, als das sie es las.

„Das ist seine Geschichte“, sagte sie flüsternd.

„Ja“, antwortete der Arzt, „die hat ihr Mann für uns aufgeschrieben!“

„Doktor“, erwiderte Frau Schulze, „das ist die Krankengeschichte meines Mannes! So, genauso hat alles angefangen und so hat es auch geendet!“

Sie nahm aus ihrer großen Handtasche eine gläserne Kugel und ein Gestell aus geschnitztem Elfenbein. „Die Kugel hat mein Mann auf dem Flohmarkt gekauft. Sie stand dann auf seinem Arbeitstisch und diese Kugel hat mein Mann immer und immer wieder angestarrt!“

Dem Gesicht des Arztes sah man an, dass er dieser Darstellung wohl nicht so recht folgen mochte.

„Lassen Sie uns die Kugel hier“, sagte er trotzdem. „Vielleicht kann sie bei der Therapie hilfreich sein.“

Der Arzt trug die Kugel in das Arztzimmer. Dann betrachtete er sie auf ihrem wunderschön geschnitzten Elfenbeingestell näher. Sie hatte die Größe einer Pampelmuse, war milchig eingefärbt und trotzdem glasklar. „Du bist ja wirklich eine Schönheit“, murmelte der Arzt. „Man könnte dich immer und immer wieder anschauen!“

Und es war ihm, als würde die Kugel antworten: „Tu das, Robert! Tu das!“ ....