Geschichten für Kinder

Übersicht:

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- Julia (Geschichte eines mutigen Mädchens aus dem Mittelalter)

- Der Wildweibchenstein (2 Kinder erleben eine Odenwald-Sage)

- Hannes (Geschichte von 3 Jungen, einem Hund und dem Auto

  "Hannes")

- Die Unterirdischen (ein seltsames Abenteuer mit den ...)

- Die Geschichte vom Drachen Eujeujeu

- Mühlengeschichten I

Mühlengeschichten II

- Das Fest der Schneemänner

 

Bitte beachten Sie!

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Julia (Geschichte eines mutigen Mädchens aus dem Mittelalter)

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von Joachim Größer (2009)

 

„Oh, ist der schwer!“, stöhnte Julia und hob den eisernen Helm hoch. Sie wuchtete ihn auf ihren Kopf und sah durch die beiden Schlitze die Welt nur noch als Ausschnitt. „Und damit musste der Ritter in die Schlacht ziehen?“, fragte sie ihren Vater.

Statt einer Antwort reichte der Vater Julia das Schwert, geschmiedet aus bestem Eisen. „Hier das Schwert, Julia!“ Julia nahm das Schwert und fast wäre es ihr aus der Hand gefallen. Lachend sagte der Vater: „Jetzt fehlt noch die eiserne Rüstung und du könntest als Jeanne d'Arc gegen die Feinde in die Schlacht ziehen.“

„Durften denn früher Mädchen in den Krieg ziehen, Papa?“, fragte Julia. Und während Julia das Schwert und den Ritterhelm auf die alte Kommode zurücklegte, erzählte ihr Vater von Jeanne d'Arc, die als Jungfrau von Orleans das französische Heer im Hundertjährigen Krieg gegen die Engländer in die Schlacht führte und diese glorreich besiegte. Gebannt hörte ihm Julia zu. Für sie war es sehr verwunderlich, wie eine junge Frau im Mittelalter zur Heldin werden konnte. Sie stellte ihrem Vater viele Fragen und der meinte, dass Julia zu Hause in einem Büchlein über die legendäre Jungfrau von Orleans selbst nachlesen könne.

Vater und Tochter verließen den Wohnturm, der einem mittelalterlichen Turm nachgebaut war. Unten auf dem großen Hof wurden sie schon von Julias Mutter erwartet. „Wir müssen unbedingt noch zur Schmiede gehen“, sagte sie. „Ein alter Schmied zeigt seine Kunst.“ So standen sie jetzt in einer mittelalterlichen Schmiedewerkstatt. Der große Blasebalg erzeugte den Luftstrom, der das Feuer anfachte. Ein alter Mann, mit rußgeschwärztem Gesicht, stand am Feuer und stocherte mit einem Eisen im Feuer. Dann nahm er das rotglühende Eisen und bearbeitete es mit dem Hammer auf dem Amboss. Julia und ihre Eltern waren die einzigsten Zuschauer und so fragte der alte Schmied: “Möchte jemand von Ihnen sich in der Schmiedekunst probieren?“

„Los, Julia!“ Julia erhielt von ihrem Vater einen kleinen Schubs und schon stand sie vor dem Amboss. Der Schmied zeigte ihr, wie das Eisen im Feuer gehalten und gedreht wurde. Dann hielt Julia den schweren Schmiedehammer in den Händen und schlug auf das rotglühende Eisen. Ihr zitterten von den schweren Schlägen die Hand, aber der alte Schmied meinte nur: „Schmiede das Eisen, solange es heiß ist!“ Und so bearbeitete Julia das Eisen unter Anleitung des Schmiedes und das Eisen wurde zu einem Schwert. Julia schwitzte, ihre Hände begannen zu brennen, aber sie gab nicht auf. Immer und immer wieder erhitzte sie das Eisen im Feuer, die Schläge hallten weit über dem Hof, ihre Eltern schauten geduldig zu und der alte Schmied war des Lobes voll über seinen kleinen Lehrling.

Dann war der Zeitpunkt gekommen, an dem der Schmied mit dem Ergebnis zufrieden war. „Es ist ein gutes Schwert, mein kleines Fräulein“, sagte er und nickte bedächtig. „Kein Meisterstück, aber eine gute Arbeit. Lass mich die letzten Handgriffe vornehmen und du erhältst dein eigenes Schwert.“ Nach wenigen Minuten überreichte er Julia das Schwert. „Jetzt müssen wir es nur noch 'besprechen', damit es dich immer gut beschützt.“ Ein Lächeln huschte über die alten rußgeschwärzten Wangen und in seinen Augen blitzte der Schalk. Und Julia musste drei Schläge ausführen, langsam und behutsam, und der Schmied murmelte zu jedem Schlag unverständliche Worte. „Gib deinem Schwert einen Namen“, sagte er mit Augenzwinkern. Und Julia nahm das Schwert in beide Hände. „Es soll Juliet heißen“, antwortete ihm Julia. „Ich werde es gut bewahren, danke!“

Der alte Schmied lächelte, als er sagte: „Dein Schwert 'Juliet' wird dich beschützen.“

Während der Heimfahrt hielt Julia ihr Schwert in den Händen. Es besaß noch die Wärme des Schmiedefeuers und vermittelte ihr das Gefühl, etwas Lebendiges in den Händen zu spüren.

Wieder zu Hause gab ihr der Vater eine Broschüre über das Bauernmädchen Jeanne d'Arc. Sie schmökerte noch vor dem Einschlafen darin. Ihr Schwert hatte ihr Vater an der Wand aufgehängt und zwar so, dass es Julia von ihrem Bett aus sehen konnte. So galt ihr letzter Blick vor dem Lichtausschalten ihrem Schwert.

Lange brauchte Julia, ehe sie in einen unruhigen Schlaf fiel. Sie wälzte sich hin und her, strampelte die Bettdecke ab und plötzlich stand sie wach neben dem Bett. Ein schepperndes Geräusch war die Ursache und das hatte ihr Schwert ausgelöst. Es lag nämlich auf dem Boden. Julia hob es auf, legte es zu sich ins Bett und endlich fiel sie in einen tiefen Schlaf.

Doch Seltsames muss mit ihr und ihrer Umgebung vorgegangen sein. Als sie wieder erwachte, wusste sie nicht, ob sie wach war oder ob es nur geträumt hatte. Selbst das sichere Mittel, sich kräftig in den Arm zu kneifen, versagte – sie konnte Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden. War sie doch in einer ganz anderen Umgebung aufgewacht. Ihr Bett war aus grobem Holz gefertigt, statt auf einer Matratze lag sie auf einem Strohsack und ihr Pyjama war ein Hemd aus grobem Leinen.

„Herrin! Herrin!“, hörte Julia eine Männerstimme. Kräftige Schläge an der Tür ließen diese erzittern. Noch ein mächtiger Schlag und die Tür sprang auf.

„Verzeiht, Herrin!“ Ein älterer Mann, bekleidet mit grobem Leinen, stieß diese Worte erregt aus. „Verzeiht, es gibt böse Nachricht! Euer Vater, unser Herr, ist vom Feind beim Jagen gefangen genommen worden.“

Jetzt war Julia richtig wach. Nur wieso ist ihr Vater in Gefangenschaft, und von wem ist er gefangen genommen worden? Und warum spricht dieser alte Mann, der aussah wie der Schmied aus dem Freilichtmuseum, sie mit Herrin an? Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Also zog sie sich an, das heißt - sie wurde von zwei jungen Mädchen, die der Alte gerufen hatte, angekleidet. Statt ihrer Jeans trug sie Lederhosen, statt des T-Shirts ein Leinenhemd, statt der leichten Sommerjacke eine Lederweste. Die Stiefel waren aus weichem Hirschleder gefertigt und passten wie für sie gemacht. So gekleidet stand Julia vor dem Spiegel, der eigentlich ein großes silbernes Tablett war. Julia sah ein fast 13-jähriges Mädchen im Spiegel, das schlank gewachsen und nicht unrecht aussah. Ihre dichten Haare waren wie bei einem Jungen kurz geschnitten. Dreimal mit den Händen durchgekämmt und jedes Haar lag so wie immer – wirr durcheinander.

Es klopfte wieder und erneut betrat der Alte das Zimmer. „Gibt es Neuigkeiten von meinem Vater?“, fragte ihn Julia barsch.

Julia erschrak. Das war nicht ihre Stimme, so sprach sie nicht und so herrschte sie auch nicht einen alten Mann an. Erschrocken schaute sie zu dem Alten. „Nein, Herrin“, erwiderte der. „Ich komme, um zu melden, dass euer Pferd gesattelt und der Bursche zu eurer Verfügung steht.“

Julia nahm sich vor, nicht mehr so barsch zu reden. Doch bereits auf dem Gang fauchte sie einen Jungen an, der, nicht älter als sie, ihr den Weg versperrte: „Hast du nichts Besseres zu tun als hier herumzustehen, Heinrich?! Hol Juliet und sattele ein Pferd für dich! Wir erkunden die Lage!“

„Nicht nötig, Herrin“, antwortete der Junge. „Johann, der fahrende Händler, hat das feindliche Heer erspäht. Es befindet sich einen halben Tagesritt von unserem Hof entfernt. Euer Vater speiste gestern Abend mit dem Grafen. Johann konnte sich dicht an das Lager heranschleichen. Er hörte auch ein Gespräch zwischen unserem Herrn und dem Grafen. Johann möchte es euch berichtet. Er isst noch in der Küche. Ich hole jetzt euer Schwert und warte auf dem Hof.“

Schnell verschwand der Rotschopf, den Julia mit Heinrich angeredet hatte. Sie selbst ging rasch in die Küche. Dort saß auf einer Bank ein Mann: Mitte 40, von kräftiger Statur und mit einem wallenden Bart, der fast sein gesamtes Gesicht bedeckte, versehen. Als er Julia sah, erhob er sich. Eine leichte Verbeugung und sofort begann Johann, zu reden.

„Euer Vater ist vom Grafen gefangen genommen worden. Ich habe ein Gespräch belauscht und möchte euch dies berichten.“

„So sprecht doch, Johann!“, erwiderte Julia. „Was konntet ihr vernehmen?“

„Ei, ei – schlechte Nachricht, Julia! Schlechte Nachricht!“ Johann schüttelte betrübt den wallenden Bart. „Der Graf will euren Hof - mit allem, was euch gehört!“

„Was?!“, schrie Julia. „Was will er?! Unseren Hof? Wir sind Freisassen, frei geboren und nur dem Kaiser untertan! Nie, niemals!“

„Ja, Julia“, antwortete Johann, „der Graf hat eurem Vater gedroht, ihn so lange in den Hungerturm zu stecken, bis er die Schenkungsurkunde unterschrieben hat. So soll er es auch schon mit dem Freisass, er hieß Rosebach und hatte sein Gut nahe der gräflichen Burg, getrieben haben. Der Graf schreckt vor nichts zurück.“ Johann strich sich über seinen Bart.

In Julia kochte die Wut hoch: „Dieser Graf! Niemals bekommt er unseren Hof! Und wenn ich zum Kaiser reite und ihn um Schutz bitten muss – der Graf bekommt unseren Hof nicht!“

„Ach Julia, der Kaiser ist weit weg und hier ist der Graf der mächtigste Mann. Ich möchte euch gern helfen, weiß aber auch nicht wie! Vielleicht warten wir auf die Rückkehr eurer Mutter?“

„Nein, Johann. Meine Mutter ist vier Tagesreisen bei Verwandten zu Besuch. Das dauert zu lange. Wir müssen sofort handeln!“ Julia zog die Stirne kraus. Dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und fast fröhlich rief sie aus: „Und ich weiß auch schon wie!“

„Julia.“ Fast verlegen sagte Johann ihren Namen. „Julia, ich habe noch mehr belauscht. Und das ist auch keine gute Kunde.“

„Nun sprich schon“, ermunterte Julia Johann, den Händler. „Was soll noch schlimmer als die Botschaft von der Gefangennahme sein?!“

„Das gräfliche Heer ist auf dem Vormarsch zu eurem Hof!“

Julia erstarrte. Dann fragte sie nur: „Weißt du, wie viele Söldner er hat?“

„Nachdem, was ich an den Lagerfeuern sah, könnten es fünfzig sein.“

„Gut“, antwortete Julia, „mit denen werden wir auch noch fertig!“ Sie ging auf die Außentreppe und schrie: „Heinrich! Jakob!“

Heinrich stürzte auf den Hof. „Ja, Herrin?“

„Rufe das gesamte Gesinde! Sofort!“

Heinrich rannte zur Schmiede und schlug mit dem Knüppel kräftig auf ein am Baum hängendes Eisen. Weit erklang der scheppernde Ruf. Immer und immer wieder schlug Heinrich das Eisen. Als alle Knechte und Mägde sich auf dem Hof eingefunden hatten, rief Julia: „Hört, welch schlechte Botschaft mir Johann, der fahrende Händler, verkündet hat: Der Graf hat meinen Vater in seiner Gewalt! Er will damit unseren Hof erpressen und marschiert mit seinen Söldnern gegen uns! Meine Mutter ist nicht erreichbar, also bin ich die Herrin!“ Julia schaute sich um. Dann rief sie: „Jakob?“

Julia suchte den Alten. Der stand abseits und trat jetzt vor. „Ja, Herrin?“

„Jakob, ich verlasse mit Heinrich und Mechthild den Hof. Dir übergebe ich den Befehl über das Gesinde. Bereite alles für die Verteidigung vor. Wenn alles so klappt, wie ich es geplant habe, wird es niemals zum Angriff auf unser Gut kommen.“

„Julia, ihr könnt mit den wenigen Leuten das Gut nicht verteidigen.“ Johann stand jetzt hinter Julia. Eindringlich redete er auf sie ein: „Nehmt meine Hilfe an. Ich bringe euch mehrere Dutzend junger Männer, die nur darauf warten, es dem Grafen heimzuzahlen. Ihr wisst doch, dass er unser kleines, aber stolzes Städtchen ebenfalls zu seinen Besitzungen machen wollte. Vor zwei Jahren haben wir unsere Stadt verteidigt und euer Vater kämpfte mit seinen Knechten mit uns gegen den Grafen. Jetzt kämpfen wir mit euch!“

„Danke, Johann“, antwortete Julia. „Hole deine Männer! Unsere Keller und Scheuer sind gut gefüllt. Wir haben Essen und Trinken, um selbst mehrere Dutzend Männer eine Woche beköstigen zu können. Ich reite zur gräflichen Burg. Hilf du dem alten Jakob. Dein Schaden wird es nicht sein, Johann!“

„Ich weiß, Julia“, erwiderte Johann lächelnd, „in eurem Haus bin ich immer willkommen.“

Johann verbeugte sich leicht zu Verabschiedung und eilte zu seinem Pferdegespann. Mit „Hü“ und „Hot“ fuhr er durch das große Tor. Sein Peitschenknallen war noch lange zu hören. Den Zurückbleibenden versprach dies Knallen aber Hilfe in ihrer großen Not.

Jakob, der alte Schmied, hatte inzwischen ruhig und mit Bedacht die Aufgaben verteilt. Zwei Knechte, der Hans und der Frieder, öffnete die Schleuse zum nahen Bach. Gurgelnd floss das Wasser in den sonst als Schafweide dienenden Graben. Die kleinen Kinder holten die Schafe in den Hof, die größeren trieben die Kühe von der Weide in den Pferch, der zwar außerhalb der festen Palisadenzäune lag, aber durch den Wassergraben geschützt war. Die Mägde trugen Waffen herbei und legten sie am Tor ab. Da lagen sie, die Waffen, die der Schmied Jakob in diesen unruhigen Zeiten für ihre Verteidigung geschmiedet hatte. Grob geschmiedete Schwerter, aber scharf geschliffen. Spieße, die nicht nur zur Wildschweinjagd taugten, sondern auch in Bauernfäusten jedem Angreifer das Fürchten lehrte. Und drei Armbrüste lagen samt Pfeile bereit. Nur als die Magd diese neben die Sauspieße ablegen wollte, knurrte Jakob verärgert: „In den Wohnturm, das weißt du doch Berta!“

Hier, von der Höhe des Wohnturmes aus, konnte ein guter Schütze die Pfeile weit hinter den Wassergraben schießen. Und damit man den Feind auch traf, hatte der Herr, Julias Vater, zwei Knechten Schießunterricht erteilt.

Jakob blickte sich auf dem Hof um, ob alle Arbeiten zu seiner Zufriedenheit ausgeführt wurden. Als er Julia sah, wie sie mit Heinrich und Mechthild die Pferde aus dem Stall führte, eilte er zu ihr. Vertraulich zog er sie zur Seite. Er sprach sie nicht mit Herrin an, sondern verwandte das vertrauliche Du. „Julia, ich habe deinem Vater geschworen, dich zu beschützen – komme, was da wolle! Was hast du vor? Wie kann ich dir helfen?“

„Ach Jakob, mach dir keine Sorgen um mich. Ich passe schon auf mich auf. Helfen kannst du mir, indem du unser Gut gut beschützt.“

„Julia, was willst du unternehmen?“ Besorgt schaute sie der Alte an.

„In der letzten Predigt las der Priester auch einen Satz aus der Bibel vor und der lautete: '... so sollst du geben Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß'. Diese Worte habe ich mir gut eingeprägt. Hat der Graf meinen Vater gefangen, so nehme ich seine Frau oder seinen Sohn gefangen!“ Julia kicherte: „Am besten alle beide!“

„Julia! Julia!“ Der Alte schüttelte unwirsch den Kopf. „Es gibt doch bestimmt einen anderen Ausweg!“

„Nein“, erwiderte Julia, „mein Vater sagte erst vor kurzem, dass der Graf selbst für Geld und Macht morden würde und dass er nicht die Seele eines Christenmenschen hätte.“

Heinrich kam jetzt zu den beiden. „Herrin, euer Schwert“, sagte er und hielt Julia das Schwert hin. Doch Jakob nahm es ihm ab. „Komm, Herrin!“, sagte er befehlend und eilte zur Schmiede. Dort glimmte das Schmiedefeuer. Einige kräftige Züge des Blasebalges und das Feuer flackerte. Der alte Schmied erwärmte das Schwert im Feuer. Er trug es zum Amboss und bedächtig führte er drei Schläge aus. Dabei murmelte er unverständliche Worte. Zufrieden mit seiner Arbeit legte er das Schwert in Julias Hände. „Jetzt wird es dich statt meiner beschützen, Julia.“

Julia fühlte die Wärme des Feuers im Schwert und steckte es in den Gürtel. „Hab Dank, treuer Jakob“, sagte sie und gab dem Alten einen Kuss auf die Wange. „Vertrau mir, alles wird gut!“

Julia schwang sich auf ihren Braunen. Das Pferd war klein gewachsen, aber zäh und ausdauernd. Da Julia es als Fohlen bekommen hat, hing ihr Brauner genauso an ihr, wie sie an ihm. Auch Heinrich und Mechthild bestiegen ihre Pferde, wobei Mechthild mit ihrer Ungeschicktheit das Lachen der Zuschauer herausforderte. Immer wieder rutschte sie fast von dem breiten Pferderücken und erst als Heinrich in die Zügel griff und das Tier beruhigte, beherrschte auch Mechthild das Pferd.

In einem leichten Trab ritten die Drei gen Osten. Als letztes Zeichen vom heimatlichen Gut hörten sie, wie mit Quietschen die mächtige Zugbrücke hochgezogen wurde. Die Kinder mussten sich sputen, denn fast einen Tagesritt von dem Gut entfernt lag die gräfliche Burg. Nur einmal hatte Julia als sehr kleines Mädchen die Burg betreten. Damals waren ihre Eltern zu Gast beim Grafen. Doch das war schon lange her! Jetzt mieden ihre Eltern jeden Kontakt zur gräflichen Familie.

Julia ritt vorneweg. „Heinrich, du siehst so schwarz im Gesicht aus?“, fragte sie lächelnd. Und Heinrich errötete und stotterte verlegen: „Ich, ich habe mich aber heute Morgen gewaschen, Julia.“ Mechthild, Heinrichs Zwillingsschwester, bestätigte lachend: „Ja, zwei Finger waren im Wasser und zwei Finger waren auf den Augen!“

„Wenn wir den Fluss durchreiten, kannst du dich sauber schrubben!“ Julia kicherte. „Und wenn du das nicht freiwillig tust, dann werden wir das erledigen!“

„Fein, Julia!“, rief Mechthild. „Ein Vollbad wäre für Heinrich mal seit langer Zeit wieder notwendig.“

„Aber ohne mich!“ Heinrich haute seinem Pferd die Hacken in die Seiten, sodass es zu galoppieren begann. Julia und Mechthild folgten ihm lachend.

Die drei Kinder waren auf dem Gut unzertrennlich. Aufgewachsen wie Geschwister hingen sie auch wie Geschwister aneinander. Als die Eltern der Zwillinge von einer bösen Krankheit dahingerafft wurden, übernahm Julias Vater die Vormundschaft über die beiden. Waren die Drei unter sich, so wurde aus der Herrin Julia nur Julia, und die wollte es auch so.

Im Schritt durchquerte das Pferd den Fluss und um dem Vollbad zu entgehen, schöpfte Heinrich vom Rücken seines Pferdes Wasser und wusch sein Gesicht. „Zufrieden?“, fragte er und zeigte ein strahlendes Lächeln.

Die nächsten Stunden vergingen recht schweigsam. Sie mieden alle Ortschaften, auch einzelne Gehöfte, und selbst, wenn sie Menschen auf den staubigen Wegen sahen, schlugen sie einen großen Bogen, um keine Fragen beantworten zu müssen. Trotzdem kamen sie gut voran, und als sich der Abend ankündigte, erblickten sie auf dem Berg die mächtige Burg des Grafengeschlechtes. Ihre festen Mauern schienen uneinnehmbar und den drei Kindern kam diese Wehrhaftigkeit wie eine Drohung vor. Etwas ängstlich fragte deshalb Mechthild: „Gibt es keinen anderen Weg, Julia, um deinen Vater zu befreien?“

„Nein, Mechthild! Ich werde es wagen und werde gewinnen!“

„Aber wie willst du den Grafensohn gefangen nehmen?“

„Das, Mechthild, weiß ich auch nicht. Hier soll uns der Zufall helfen?“

„Vielleicht können wir heimlich die Mauern erklettern“, sagte Heinrich und erntete mit seinem Vorschlag nur Spott.

„Schau dir diese Mauern an, Heinrich!“, erwiderte Julia. „Wenn du diese Mauern erkletterst, dann werde ich dich auch heiraten!“

Mechthild prustete los, Heinrich wurde knallrot im Gesicht. Hatte doch Julia seine geheimsten Gedanken in Worte gefasst. Er, Heinrich, zwar Julias Freund, aber trotzdem nur Knecht auf dem Gut, war in Julia bis über beide Ohren verliebt.

Verlegen und verärgert ritt er im Galopp auf die Burg zu. Mechthild und Julia lachten und gackerten und Heinrich wusste auch, über wen sie lachten.

Als sie das Burgtor erreichten, war die Sonne schon hinter dem Horizont verschwunden. Die Nacht schickte sich an, die Herrschaft über den Tag anzutreten. Die Zugbrücke war hochgezogen und auf Julias Rufen wurde neben dem Tor ein kleiner Fensterladen aufgestoßen. Grob rief eine Männerstimme: „Wer seid? Was wollt ihr?“

„Wir sind Kinder auf dem Weg nach Osten, um Verwandte zu besuchen. Wir haben uns verirrt und bitten um ein Nachtlager im warmen Stroh.“

„Unser Herr ist auf Reisen und deshalb darf das Tor erst bei Sonnenaufgang geöffnet werden!“, schrie der Mann durch die Fensterluke. „Unten im Graben findet ihr bei den Schafen Stroh. Dort könnt ihr nächtigen!“

„Aber, wir ...“ Julia wollte erwidern, wurde aber von einer keifenden Frauenstimme unterbrochen: „Jonathan, was ist das für ein Krach?“

„Es sind Kinder, die ein Nachtlager suchen, Herrin!“, rief der Torwächter.

Die Kinder schauten zur Burg hinauf und erkannten an einem Fenster die Umrisse einer Frau.

„Sie sollen sich zum Teufel scheren!“, schrie die Frau und der Torwächter schimpfte: „Verschwindet, jetzt habe ich den Ärger mit der Herrin!“

Also blieb den Dreien nichts anderes übrig, als nach einer anderen Möglichkeit, in die Burg zu kommen, zu suchen. Sie führten die Pferde auf einem schmalen Pfad in den Graben. Dort fanden sie neben blökenden Schafen auch das Stroh. Die Pferde konnten Gras fressen und eine etwas tiefere Pfütze reichte, um den Durst der Tiere zu löschen. Julia setzte sich neben Mechthild ins Stroh. „Es muss doch einen Weg geben, um in die Burg zu kommen!“, sinnierte sie laut. „Ach Julia, vielleicht soll es nicht sein! Lasst uns etwas ausruhen und dann reiten wir heim“, erwiderte Mechthild.

„Nein, so schnell gebe ich nicht auf“, antwortete Julia.

Heinrich, der die beiden Mädchen allein gelassen hatte, erkundete die Burgmauern. Er hatte schon so viele Bäume und Felsen erklettert, warum soll er diese Mauern nicht bezwingen können. Aber vom Graben aus sahen diese Mauern noch unbezwingbarer aus. Im letzten Licht des Tages wirkten die Burgmauern sogar bedrohlich. Trotzdem schritt Heinrich weiter im Graben entlang, immer den Blick nach oben gerichtet. „Verdammt!“, fluchte er mit einem Male und hüpfte auf einem Bein. Mitten im Graben lagen behauene Steine. Wenige Meter weiter standen Holzbottiche und etwa in 10 Meter Entfernung lehnte eine lange Leiter an der Mauer. Oben war die Mauer abgetragen und alles sah danach aus, dass die Handwerker ihre Arbeit noch nicht beendet hätten.

Heinrich rannte zu den beiden Mädchen zurück. Atemlos stotterte er: „Julia, Julia, gilt dein Versprechen, dass du mich heiratest, wenn ich die Mauern erklettere?“

Doch Julia hörte nur „Mauern erklettern“ und fragte: „Wo?!“

„Kommt!“, sagte Heinrich immer noch aufgeregt. „Das schaffst du auch! Die Handwerker haben eine Leiter stehen gelassen!“

Die Mädchen folgten dem Heinrich. Dann standen sie vor der Leiter und erblickten oben diese Mauerbresche. „Heinrich, du bist ein Schatz!“ Julia drückte dem Heinrich einen Kuss auf die Wange. Der wurde knallrot, sagte aber nichts. Nur Mechthild kicherte leise.

Jetzt übernahm wieder Julia das Sagen: „Heinrich, du kletterst mit mir hinauf, Mechthild, du bleibst bei den Pferden. Achte darauf, dass sie nicht erst eingefangen werden müssen.“

„Soll ich hier mit den Pferden warten?“, fragte Mechthild.

„Nein, lass sie noch fressen und saufen“, antwortete ihr Julia. Sie wandte sich an Heinrich: „Hast du dein Messer? Und auch einen Strick?“

Heinrich zog ein langes Messer aus dem Gürtel. Und dieser Gürtel war sein Strick. Julia und Mechthild prusteten beide los, als sie das sahen. „Wie willst du deine Hose halten, wenn du den Strick brauchst?!“ Julia lachte ihren Verehrer aus und der erhielt wieder einen knallroten Kopf. Zum Glück für ihn umhüllte die Dunkelheit sein verlegenes Grinsen.

Julia begann, die Leiter zu ersteigen. Heinrich folgte ihr. Zwar schwankte die Leiter bedrohlich unter dem Gewicht der beiden Kinder, hielt aber. Auf der Mauer angekommen, zischte Julia: „Du bleibst dicht hinter mir! Und mach ja keine Geräusche!“

Wie eine Katze schlich Julia durch die schmalen Gänge, immer hoffend, dass sie keiner der Burgbewohner oder Wächter entdeckt. Sie hatte sich die Richtung, in der die Gräfin aus dem Fenster gekeift hatte, gut eingeprägt. Trotz der verzweigten und verwinkelten Gänge glaubte sie, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Dann endlich hörte Julia eine hohe Frauenstimme. Das konnte die Stimme der Burgherrin sein: hoch und schrill. Aber noch eine weitere Stimme, auch die einer Frau oder doch eines Kindes? Julia lauschte. Jetzt hatte sie Gewissheit: Es war eine zweite Frau in diesem Raum. Durch einen kleinen Spalt in der Tür fiel schwaches Licht. Julia versuchte, in den Raum zu schauen. Doch kaum hatte sie einen Blick hineingetan, als sie Heinrich zuzischte: „Weg!“

Die beiden Kinder huschten in einen Nebengang und drückten sich in eine Nische. Die Tür zur gräflichen Kemenate wurde aufgestoßen und eine schlanke Frauengestalt, die ein Licht vor sich hertrug, verließ mit einer tiefen Verbeugung den Raum. Eilig, zum Glück für die Kinder, hastete sie den Hauptgang entlang.

„Uff“, sagte Heinrich erleichtert und steckte sein Messer wieder in den Gürtel.

„Angst gehabt?“, fragte Julia leise. Doch Heinrich blieb ihr die Antwort schuldig.

Jetzt hielt Julia den Augenblick geeignet, um die Gräfin gefangen zu nehmen. Sie schlich zur Tür, drehte sich zu Heinrich um, der dicht hinter ihr stand und flüsterte: „Die Gräfin darf nicht schreien! Das ist wichtig, klar?!“

„Ja, ich tue mein Bestes“, flüsterte Heinrich zurück.

Julia stieß die Tür auf. In dem schwachen Licht einer Wachskerze verschwanden die Umrisse des Raumes. Julia suchte die Gräfin vergebens. Sie fragte Heinrich leise: „Siehst du sie hier?“ Doch statt Heinrich antwortete eine hohe Frauenstimme: „Bist du es Hildtraut?“

Jetzt wusste Julia, wo sich die Gräfin aufhielt. In einer Nische lag sie auf einem breiten Bett und neben ihr ein kleiner Junge. Die Gräfin hatte sich aufgerichtet und starrte verwundert Julia an. Die hatte ihr Schwert gezogen und wedelte damit vor dem Gesicht der Gräfin. „Ich will kein Schreien hören! Ein Ton und ich steche zu!“

Verängstigt erhob sich die Gräfin. Julia stieß sie in die Mitte des Zimmers. Dort stand Heinrich mit gezücktem Messer. Entgegen Julias Befehl, jammerte jetzt die Gräfin los: „Mein Kind! Mein Jost!“

„Hole es!“, befahl Julia barsch. Die Gräfin ging zurück zum Bett und hob einen schlafenden etwa 6 Jahre alten Jungen hoch.

„Folge mir!“ Julia nahm die Kerze vom Tisch und ging zur Tür und die Gräfin folgte ihr gehorsam. Heinrich sah im schwachen Kerzenlicht Tücher auf einer Bank liegen. Diese ergriff er und steckte sie sich hinter den Gürtel. Sein Messer hielt er immer noch in der Hand.

Julia besaß ein ausgezeichnetes Ortsgedächtnis. Sie schlich vorsichtig voraus und hinter ihr stolperte die Gräfin mit dem immer noch schlafenden Jungen im Arm. Eine Unebenheit ließ sie fast stürzen. Aber der Ruck, mit dem sie ihren Jungen hochgerissen hatte, ließ den erwachen. „Mama“, greinte er. „Pst, pst“, flüsterte seine Mutter, die Spitze eines Messers im Rücken fühlend. Noch wenige Schritte und Julia war an der Mauerbresche angekommen.

„Ich steige zuerst“, sagte sie leise. „Frau Gräfin, ihr folgt mir, dann klettert euer Sohn die Leiter hinunter!“

„Das kann mein Jost nicht! Er wird abstürzen! Nie und nimmer steige ich die Leiter hinunter!“

Die Gräfin drückte ihr Kind an sich. Julia blickte Hilfe suchend zu Heinrich. Natürlich hatte die Gräfin recht – für einen sechsjährigen Knirps war diese Kletterei viel zu gefährlich.

„Ich werde mit dem Kind klettern“, sprach Heinrich und nahm der Gräfin den Jungen weg. Der fing an zu weinen, doch Heinrich setzte ihn auf seinen Rücken und befahl: „Gut festhalten!“

Jost umklammerte mit seinen Armen Heinrichs Hals, sodass der kaum atmen konnte. „Höher! Höher!“, herrschte er Jost an und versuchte, das Kind mit den Händen etwas höher zu schieben. Doch Jost Kraft reichte nicht aus, sich so festzuklammern, dass Heinrich gefahrlos klettern konnte. Da fielen dem Heinrich die Tücher ein. Er zog sie aus dem Gürtel und band damit Jost auf seinem Rücken fest. So stieg er zuerst hinab, dann folgte die Gräfin und Julia kletterte auch noch auf die Leiter, obwohl diese bereits bedrohlich schwankte.

Heinrich, auf dem Boden stehend, befreite den gräflichen Spross aus den Tüchern. Die Gräfin war behänd die Leiter hinunter gestiegen, kümmerte sich am Boden aber nicht um ihren Sohn, sondern entriss Julia das Schwert aus dem Gürtel und stieß damit nach Julia. Doch so gut auch der Stoß in der Dunkelheit geführt war, das Schwert berührte Julia nicht. Dafür spürte die Gräfin eine Messerspitze im Rücken. „Nicht noch einmal, Herrin!“, hörte sie den Jungen sagen. „Julia steht unter meinem Schutz!“

Julia entwand der Gräfin ihr Schwert. „Danke, Heinrich!“, sagte sie und leise fügte sie hinzu: „Danke, treuer Jakob!“

Damit war der Widerstand der gräflichen Frau gebrochen. Sie ergab sich in das Schicksal, von zwei Kindern gefangen zu sein. Der Junge greinte und weinte nach seiner Mutter. Doch Heinrich ließ ihn nicht von seiner Hand. Nur wenige Schritte und Mechthild stand mit den drei Pferden vor ihnen. Jetzt war es Heinrich, der bestimmte: „Mechthild, du sitzt bei Julia auf! Der Junge reitet bei mir! Frau Gräfin, euer Pferd ist die Schecke!“

Zuerst wollte Julia protestieren, doch dann ließ sie Heinrich gewähren, denn er hatte klug entschieden. So ritten sie schweigend gen Westen. Nur das Pferdegetrappel zeigte an, dass hier mehrere Reiter sich in der nächtlichen Dunkelheit verbargen. Das Morgenrot ließ sie Bekanntes entdecken. Sie überquerten den Fluss und weiter auf dem Weg zum heimatlichen Gut begegnete ihnen der Priester. Laut begrüßte er Julia und fragte nach dem sonderbaren Ausflug. Doch die Gräfin, bis dahin vor sich hindösend, schreckte hoch und schrie: „Helft, Gottesmann! Ich und mein Kind sind entführt! Helft und vernichtet dieses Pack!“

Wen sie mit Pack meinte, war wohl eindeutig. Der Priester sah verwundert zu Julia. Doch die lächelte dem Priester zu und antwortete: „... so sollst du geben Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß!“ Dem Priester ahnte jetzt, was Julia mit seinem Bibelzitat meinte, denn der fahrende Händler Johann hatte die Kunde von der Gefangennahme des Freisassen schon überall verbreitet. „Julia“, fragte er, „ist das gottgefällig?“

„Kommt zum Gut, wenn das Grafenheer zum Kampf erscheint, Hochwürden!“, antwortete Julia. „Wir werden eure Schreibkunst brauchen. Bringt mehrere Bogen Pergament und auch Feder und Tinte mit! Es wird euer Schaden nicht sein!“

Kopfschüttelnd, seinen Esel mit den Hacken antreibend, ritt der Priester weiter. „Schlechte Zeiten!“, murmelte er. „O Herr, lass nicht zu, dass Julia und ihren Freunden etwas Böses geschieht.“

Im Dunst des Morgens erschien jetzt das Gut des Freisassen. Die Nebel stiegen über den Wiesen auf und gaben nur die Sicht auf den Wohnturm frei. „Geschafft!“, rief Julia triumphierend.

„Noch nicht, Julia!“, rief Heinrich und zeigte auf den Wald. Dort, hinter den Wiesen, hatte der Morgennebel das Lager des gräflichen Heeres bisher verhüllt. Jetzt schien die Sonne drauf und ließ die neben den Zelten aufgestellten Hellebarden funkeln. Einer der Wachsoldaten musste die kleine Reiterschar erblickt haben. Er blies ein kurzes Signal mit seinem Horn und sofort saßen mehrere Männer auf ihren Pferden und galoppierten zum Gut. Ihre Absicht war eindeutig: Sie versuchten, die Kinder auf dem Weg zum Gut gefangen zu nehmen.

„Los, zur kleinen Pforte!“, schrie Julia und galoppierte los. Heinrich hinterher. Doch dann zügelte er sein Pferd. Obwohl der Grafenspross mit auf Heinrichs Pferd saß, witterte die Gräfin jetzt eine Möglichkeit, ihrer Gefangennahme zu entgehen und ritt den gräflichen Reitern entgegen.

Heinrich schrie: „Julia!“ Die zügelte ihr Pferd, ließ Mechthild vom Pferd gleiten und jagte der Gräfin hinterher. Auch Heinrich ließ den jetzt laut brüllenden Knaben vom Pferd gleiten. Mechthild rannte zu Jost, um dann, den Jungen hinter sich herziehend, den rettenden Wassergraben zu erreichen.

Entweder war die Gräfin keine gute Reiterin oder ihr Pferd war von dem langen Ritt zu erschöpft, die beiden Kinder holten sie nämlich schnell ein. Aber auch die gräflichen Reiter waren inzwischen bedrohlich nahe gekommen. Julia entriss der Gräfin die Zügel und Heinrich klatschte dem Pferd kräftig aufs Hinterteil. Während Julia versuchte, den Häschern zu entkommen, riss Heinrich sein Pferd herum und jagte den gräflichen Reitern entgegen. Drei Reiter waren es und Heinrich gelang es, zwei der Reiter zu verleiten, hinter ihm herzureiten. Der dritte jedoch galoppierte hinter Julia her. Heinrich war ein ausgezeichneter Reiter. Immer und immer wieder schlug er Haken und wütend über ihre Misserfolge, verfolgten die beiden Reiter ihn mit lautem Schimpfen.

Julia sah sich nun aber von dem dritten Mann bedroht. Der hatte die Gräfin erkannt und versuchte, mit gezogenem Schwert Julia zu bedrohen. Doch die, in der linken Hand die Zügel zweier Pferde und in der rechten ihr Schwert, parierte den Hieb. Das machte sie so geschickt, dass dem Mann sein Schwert entglitt und auf den Boden fiel. Während der mit dem Aufnehmen des Schwertes Zeit verlor, gelang es Julia, den Wassergraben zu erreichen.

Im Gut hatte die Wache, die Jakob in den Wohnturm befohlen hatte, längst Alarm gegeben. Aus Fenstern und Nischen verfolgten viele Augen den Kampf der Kinder mit den Söldnern. Sie schrien und bangten mit ihnen. Als Julia in den Wassergraben ritt, war ihr Verfolger wieder sehr nahe gekommen. Er riss eine Armbrust vom Rücken und legte einen Pfeil in den Lauf. Doch zum Abschuss kam er nicht mehr. Wolfhard, einer der von Julias Vater ausgebildeten Armbrustschützen, war schneller und sehr treffsicher. Sein Pfeil bohrte sich in das Holz der Armbrust. Die Wucht war so groß, dass dem Reiter die Waffe aus den Händen gerissen wurde und zu Boden fiel. Daraufhin ließ der von seiner Verfolgung ab und unter dem Freudengejohle der Bewohner des Gutes ritt er ins gräfliche Lager zurück.

Auch Heinrich konnte seinen Häschern entkommen. Bis an den rettenden Wassergraben hatte es Heinrich geschafft, immer wieder seinen Verfolgern davon zu reiten. Nun stand er mit dem Pferd vor dem Graben und versuchte, das Pferd mit Worten und auch mit Schlägen zu bewegen, ins Wasser zu gehen. Doch der Gaul scheute und ließ sich nicht in den Wassergraben reiten. Jubilierend griffen die gräflichen Söldner nach ihm. Doch Heinrich ließ sich vom Pferderücken direkt ins Wasser fallen. Wie ein Hund paddelte er, mit Händen und Füßen strampelnd, und war bereits in der Mitte des Grabens, als der eine Söldner begann, sein Pferd in den Graben zu treiben. Doch ein lauter Ruf vom Wohnturm und das Zeigen einer gespannten Armbrust ließ ihn fluchend sein Vorhaben aufgeben. So zogen die beiden Reiter, nur als Beute das wasserscheue Pferd hinter sich herführend, in Richtung gräflichen Lagers.

Die kleine Pforte war längst geöffnet und unter Freudengeschrei wurden die drei Kinder wie Helden begrüßt. Jetzt standen sie da - tropften und froren in der Morgenkühle - und waren doch überglücklich.

Jakob umarmte Julia und auch für Mechthild und Heinrich fanden sich viele Arme, die sich um die Zwillinge legten.

„Jetzt soll der Graf nur kommen!“, jubilierte Julia.

„Ja, soll er nur kommen, der Herr Graf!“, pflichtete Heinrich bei.

„Dein Vater wird bald bei uns sein“, frohlockte auch Jakob. Und die drei Kinder anschauend, sagte er laut: „Ihr seid schon Helden - reitet zur Grafenburg und stehlt die Gräfin mit ihrem Spross!“

Unsere Helden wurden in die warme Küche geführt und der Koch schöpfte eine heiße Suppe in die Schüssel. Auch der Gräfin und ihrem Sohn wurde warme Suppe gebracht, die die Frau Gräfin jedoch von sich wies. Auch weigerte sie sich zuerst, die nassen Kleider gegen trockene zu tauschen. Erst als Jost bitterlich zu weinen begann und immerzu wehklagte, dass er friere, ließ sie sich mit Jost in eine Kammer führen und wechselte nun die Kleidung.

 Jost, jetzt in trockener Kleidung, griff auch nach dem Holzlöffel und zog die dampfende Schüssel zu sich heran und mampfte, dass der Koch seine Freude an diesem Anblick hatte. „Lass es dir nur schmecken“, murmelte er freundlich.

Die Kinder erzählten den Versammelten, wie es ihnen gelungen war, in die gräfliche Burg einzudringen und die Herrschaft gefangen zu nehmen. Heinrich erzählte und kaute gleichzeitig, bis ihn Mechthild aufforderte, doch nur eins von den beiden zu tun. „Aber solche Abenteuer machen doch hungrig“, kommentierte Heinrich und aß weiter und redete auch weiter.

Ein Hornsignal unterbrach das Frühstück. Jakob stieß ein Fenster auf und deutlich hörte man Wolfhard rufen: „Was wollt ihr?“

„Mein Herr, der Graf, verlangt die sofortige Freilassung unserer Herrin! Ist sie in einer Stunde nicht frei, stürmen wir das Gut!“

Julia war längst nach draußen geeilt. Ihre helle Mädchenstimme gab dem gräflichen Boten die Antwort: „Hier spricht Julia, Tochter des Mannes, den der Graf gefangen hält. Sage deinem Herrn: In der Bibel steht '... so sollst du geben Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß!' An dieses Wort halte ich mich! In einer Stunde erhält der Graf seine Frau und ich meinen Vater, der auf unserem Pferd reiten muss!“

Mit dieser Antwort ritt der Bote zurück ins Lager.

Im Gut herrschte jetzt emsiges Treiben. Jakob befahl jeden Knecht, jede Magd auf den zugewiesenen Platz. Selbst die Kinder standen bereit, den Erwachsenen bei der Verteidigung der Burg zu helfen. Nur der Koch verblieb in seiner Küche und musste die beiden Gefangenen bewachen.

Heinrich war einer der Letzten, der die warme Küche verließ. Auf dem Gang zum Hof stieß er mit einem fremden jungen Mann zusammen. „Wer bist du denn?“, fragte er verwundert.

„Ich, ich bin Melchior. Mein Vater ist der Schreiner in der Stadt.“

„Und was willst du hier?“ Heinrich machte sich immer noch keinen Reim auf die Anwesenheit des Fremden.

„Na kämpfen, du Dummbart!“, erwiderte lachend Melchior und zeigte dem Heinrich seine Armbrust. „Zwar kann ich nicht so gut schießen, wie euer Wolfhard, aber treffen, tue ich bestimmt auch.“

„Sind noch mehr Stadtleute da?“

„Zehn Männer in dem Gut, bereit mit euch dies Gut zu verteidigen. Fünfzig sind heute Morgen in der Stadt losgezogen, um das gräfliche Heer von hinten anzugreifen – sollte der Graf den Angriff wagen.“

„Dann kann ich ja ruhig weiter essen“, sagte Heinrich lächelnd und wollte zurück in die Küche. Doch seine Schwester Mechthild suchte ihn schon. „Heinrich, Julia verlangt nach dir!“

„Ich komme ja schon“, antwortete ihr Heinrich und hatte es mit einem Male sehr eilig, nach draußen zu kommen.

Julia stand mit Jakob mitten auf dem Hof. Beide redeten aufeinander ein und Heinrich hörte den alten Jakob sagen: „Vorsicht ist immer besser als Draufgängertum, Julia.“ Und Julia antwortete ihm: „Hab keine Sorge um mich, Jakob. Ich habe doch meinen Heinrich.“

Dem Heinrich, der diese Worte hörte, schoss das Blut ins Gesicht. „Julia, du hast mich gerufen“, murmelte er mit hochrotem Gesicht. „Pass auf, Heinrich“, erwiderte Julia. „Wir beide werden den Gefangenenaustausch vornehmen.“

„Ist gut, Herrin“, sagte Heinrich und wartete auf Anweisungen. Doch diese gab jetzt Jakob. „Fünf Mann an die Winde!“, rief er. Sofort eilten fünf kräftige Männer an die mächtige Winde und lautes Quietschen zeigte an, dass die Zugbrücke weiter gehoben werden. Jetzt konnte Jakob den großen eisernen Sicherungsstab herausziehen und mit lautem Quietschen und Getöse senkte sich die Zugbrücke. Nun war der wichtigste Schutz der Burg aufgegeben. Als hätten die Späher des Grafenheeres nur darauf gewartet, erklang ein Hornsignal und Wolfhard rief vom Wohnturm: „Das Grafenheer rückt an!“

„Zieht die Brücke hoch!“, befahl Jakob. Doch Julia entgegnete: „Nein! Heinrich, hole die Gräfin!“

Die Männer an der Winde schauten verlegen zu Jakob und Julia. Der Frieder fragte: „Was sollen wir nun tun?“ „Nichts!“, antwortete Julia barsch.

Heinrich kam inzwischen mit der aufgebrachten Gräfin auf den Hof. Er ging recht unsanft mit ihr um, hatte sie ihm doch das Gesicht zerkratzt, als er sie aufforderte, allein ohne ihren Sohn auf den Hof zu gehen. So stieß er sie nun vor sich her und gab einen Teil der Beschimpfungen, mit der die Gräfin ihn belegt hatte, an sie zurück.

„Frau Gräfin“, sagte Julia, „dem Herrn Grafen scheint nicht viel an seiner Gemahlin zu liegen. Wie sonst ist dieser Angriff zu erklären?!“

Doch die Gräfin schwieg trotzig. Julia rief Wolfhard zu: „Wolfhard, wir gehen nun zum Gefangenaustausch. Gib gut acht!“

„Verlasst euch auf mich, Herrin!“, tönte es vom Wohnturm. „Jeder, der euch etwas zuleide tun will, wird meinen Pfeil zu spüren bekommen!“

„Jetzt gilt es, Heinrich!“ Mit diesen Worten schritt sie durch das Tor. Heinrich stieß die Gräfin vor sich her, jetzt in der rechten Hand sein Messer haltend. Auf gute 100 Meter vom gräflichen Heer entfernt blieb Julia stehen. „Hier steht eure Gemahlin, Herr Graf!“, rief sie mit heller Stimme. „Wo ist mein Vater?“

Statt einer Antwort, ertönte erneut ein Hornsignal. Die Söldner rannten mit ihren Hellebarden auf die kleine Gruppe zu.

„Zurück! Zurück!“, hörte Julia Jakob rufen. Doch sie blieb stehen. Auch der Angriff der Söldner endete. Grund dafür waren fremde Soldaten, die hinter der Hecke, die den Weg und die Wiese begrenzte, mit lautem Kriegsgeschrei heraustraten. Sie rannten nun auf das gräfliche Heer zu. Deutlich konnte Julia Johanns wallenden Bart in der ersten Reihe erkennen. Und Johann war auch der Anführer. Einen Pfeilschuss vom Feind entfernt, ließ er das Heer der Stadtleute halten.

„Herr Graf!“, rief Julia fast fröhlich. „Wo bleibt mein Vater?“

Lange tat sich nichts, dann wurde die Angriffsreihe der Söldner geöffnet und Julias Vater schritt, den Schecken am Zügel führend, Julia entgegen. Hinter ihm her kam ein Bewaffneter, seine Armbrust war auf Julias Vater gerichtet. Auf halbem Weg blieb er mit Julias Vater stehen.

„Jetzt Heinrich, jetzt gilt's!“, sagte Julia und ihr getreuer Heinrich schritt mit der Frau Gräfin zum Austausch.

Alles lief fast reibungslos ab. Der Söldner begrüßte die Gräfin ehrerbietig, Julias Vater sagte leise zu Heinrich: „Komm und laufe, was du kannst!“

Heinrich schaute verwundert. So recht verstand er nicht, was sein Herr damit meinte. Doch als sein Herr sich aufs Pferd schwang und davon ritt, begann er zu laufen. Ein surrender Pfeil sauste an ihm vorbei und verfehlte Julias Vater nur knapp. Jetzt begriff Heinrich die Warnung seines Herrn. Und jetzt rannte er um sein Leben. Aber er war nicht schnell genug. Ein stechender Schmerz in der linken Schulter und Heinrich stürzte zu Boden. Mühsam rappelte er sich hoch, als eine starke Männerhand ihn aufs Pferd zog. Der Schmerz war so groß, dass er die Besinnung verlor.

Dass Julias Vater zurückreiten konnte, um Heinrich aus der Gefahrenzone zu holen, verdankte er Wolfhards Meisterschuss. Der wagte einen Schuss mit einer schweren Armbrust, die den Pfeil bis auf einem Meter an den Feind fliegen ließ. Der Söldner, jetzt erschrocken über diesen sagenhaft weiten Schuss, lief nun der Gräfin hinterher, die bereits das gräfliche Heer erreicht hatte.

Julia lief an der Seite ihres Vaters zum Gut. Sie hatte Heinrichs Hand gefasst und man sah es ihr an, dass sie über diesen Vorfall schockiert war. „Heinrich, mein lieber Heinrich“, flüsterte sie wieder und immer wieder.

Im Gut übernahm Jakob die Regie. „Hans und Frieder“, befahl er, „tragt Heinrich in die Schmiede!“

Dort fachte Jakob das Feuer an und legte ein Eisen in die Flammen. Dann kniete er sich zu Heinrich nieder. Heinrich lag auf dem Bauch. Der Pfeil in der Schulter war abgebrochen. Behutsam schnitt Jakob das grobe Leinenhemd auf. Tief steckte die Pfeilspitze in der Schulter. „Berta, lauf zur Muhme“, sagte Jakob, „sie soll die Salbe bereiten.“

„Nicht nötig!“, hörte man ein feines Stimmchen. Es war die Muhme, eine alte Frau, die die Kunst des Heilens von ihrer Mutter erlernt hatte. „In diesen schlimmen Zeiten muss man immer einen Vorrat haben“, sagte sie. Die Umstehenden ließen das alte Kräuterweiblein zum Patienten.

Heinrich hatte das Bewusstsein wieder erlangt. Er stöhnte vor Schmerzen und versuchte, sich aufzurichten. „Bleib liegen, mein Heinrich“, sagte die Alte und strich ihm über sein wirres Haar. Gleich wird es noch einmal sehr weh tun und dann wirst du wieder gesund werden.“

„Aber, ich will doch ...“ Heinrich wurde erneut bewusstlos. Jakob hatte mit einer Schmiedezange die Pfeilspitze mit einem heftigen Ruck herausgezogen. Die tiefe Wunde blutete stark. „Das ist gut so“, murmelte die Muhme. „Alles Unreine wird herausgeschwemmt.“

Jakob holte das Eisen aus dem Feuer. Rot glühte es und dann schauten die Umstehenden schnell weg, denn sie wussten, was jetzt geschah: Jakob brannte die Wunde aus. Ein Geruch von verbranntem Fleisch verbreitete sich. Die heilkundige Muhme entnahm nun aus einem Tontöpfchen grüne Salbe mit einem Holzspan und bestrich damit Heinrichs Wunde. Darauf legte sie dann Blätter und aus ihrer unergründlich großen Schürzentasche zog sie ein sauberes Tuch aus feinem Leinen. „Jakob, verbinde damit die Wunde“, sprach sie und Jakob zog behutsam dem Heinrich sein Hemd aus und verband die Wunde mit dem Leinen. Damit fertig, rief er: „Bringt ihn in die Gesindekammer!“

Jetzt mischte sich der Herr ein: „Nein, nicht in die Gesindekammer! Bringt Heinrich in den Wohnturm! Berta, zieh meinem Bett ein neues Laken auf! Ich schlafe auf der Bank. Das ist das Wenigste, was ich für Heinrich tun kann.“ Und so geschah es. Hans und Frieder brachten ein starkes Brett. Darauf wurde Heinrich gelegt. Julia und Mechthild gingen neben dem Brett, als die beiden Männer Heinrich in den Wohnturm trugen.

Da nun erst einmal alles getan war, damit Heinrich von der Schussverletzung genesen konnte, hatte Julias Vater jetzt Zeit, sich von Jakob berichten zu lassen. Doch dieser Bericht wurde durch Wolfhards Ruf unterbrochen: „Es nähern sich zwei Männer dem Gut! Es scheinen der Priester und der Händler Johann zu sein!“ Während die beiden Männer durch das Tor schritten, schrie Wolfhard wieder: „Ein gräflicher Reiter kommt!“

Dieser Reiter zügelte wenige Meter vor dem Tor sein Pferd und rief: „Ich bringe eines Botschaft des Herrn Grafen! Ich bringe eine Botschaft!“

„So sprich!“ Das war Julias Stimme. Sie schaute aus einer Fensterluke zum Boten. Mit lauter Stimme verkündete er: „Der Graf verlangt, dass sein Sohn sofort frei gelassen wird! Geschieht dies nicht, so werden wir das Gut schleifen!“

Wütend wollte Julias Vater antworten, doch wieder erklang Julias helle Mädchenstimme: „Sage deinem Herrn, er soll kommen und seinen Sohn abholen! Wenn er ein Mann ist, so kommt er selbst! Wir werden seinen Sohn gegen ein Pergament austauschen! Das ist die Botschaft meines Vaters!“ Und nach einer Pause fügte sie keck hinzu: „Und auch die meine!“

Julias Vater war mehr verwundert als verärgert. Er wusste nicht, was er von Julias Botschaft an den Grafen zu halten hatte. Ja, er wusste noch nicht einmal, dass in der Küche unter Aufsicht des Kochs ein 6-jähriger Jost saß und dem Koch beim Brotbacken zusah. So rief er nur: „Julia, zu mir!“ Und Julia stand wenige Augenblicke später vor ihm. Ihren Bericht nahm er mit Erstaunen, Verwunderung und Hochachtung entgegen. „Und du willst, dass der Graf dieses Pergament mit seinem Siegel anerkennt?“

„Ja, Vater“, erwiderte Julia. „Der Graf soll unsere vom Kaiser verliehene Unabhängigkeit als Freisassen anerkennen. Wenn er nur ein bisschen Vaterliebe hat, so wird er seinen Siegelring benutzen.“

Jakob, der Priester und der Händler Johann standen neben Julia. Während Jakob und Johann mit Wohlgefallen auf das Mädchen blickten, schüttelte der Priester nur den Kopf. „Schlimme Zeiten! Schlimme Zeiten! Möge nur alles sich zum Besten wenden!“, murmelte er.

„Ach Hochwürden“, erwiderte Julia. „Wer hat denn in der letzten Predigt gelesen '... Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für ...'“

„Es ist gut, Julia!“ Der Priester hob beschwörend die Hände. „Gebt mir einen Tisch und einen Stuhl. Ich will dies Pergament aufsetzen!“

Die folgende Stunde war die Stunde der Demütigung. Der machthungrige Graf musste anerkennen, dass sein Plan, das Gut des Freisassen unter seiner Herrschaft zu zwingen, nicht aufging. Kaum war er mit zornigem Gesicht in den Hof geritten, als er auch schon polternd die sofortige Freilassung seines Sohnes forderte. Julia eilte in die Küche und brachte Jost, der an einem mächtigen Kanten frischen Brotes knabberte. „Vater!“, rief er freudig aus, „ich durfte mit dem Koch Brot backen!“

Doch der Graf brüllte nur vom hohen Ross: „Zu mir!“

Doch Julia hielt den Jungen fest an der Hand. Julias Vater sagte ruhig: „Steigt ab, Herr Graf. Unterschreibt das vom Priester aufgesetzte Pergament und euer Sohn kehrt wohlbehalten zu euch zurück!“

Fluchend stieg der Graf vom Pferd und begab sich an den Tisch, an welchem der Priester saß. Der setzte mit Wohlgefallen den letzten Federstrich, schüttete Sand zum Trocknen der Tinte auf das Pergament. Dann erhob er sich, verbeugte sich vor dem Grafen und wünschte ihm einen gottgefälligen Tag.

Der Graf befahl nur grob: „Lies, Pfaffe! Lies laut und deutlich!“

Und der Priester las sein aufgesetztes Dokument. Bei diesem Satz „... so schwöre ich feierlich bei Gott und der Jungfrau Maria: Ich werde das Eigentum der Freisassen achten, Freundschaft halten und damit Gott und dem Kaiser dienlich sein!“ verfinsterte sich des Grafen Gesicht. Seine rechte Hand umklammerte das Schwert und mit der linken raufte er sich den zottigen Bart.

Dafür sprach der Priester besänftigend auf den Grafen ein: „Ich habe die Urkunde unseres gnädigen Kaisers gesehen. Er verbrieft sich für das Eigentum und die Freiheit des Freisassen. So solltet auch Ihr dies anerkennen, Herr Graf!“ Und um dies zu bestätigen, schwenkte er die Urkunde mit dem kaiserlichen Siegel vor der Nase des Grafen.

Julia und alle anderen auf dem Hof schauten neugierig und gespannt zu. Jeder hoffte, dass der Graf nun endlich klein beigeben und dass dann alles wieder seinen gewohnten Gang nehmen würde. Und endlich setzte sich der Graf an den Tisch, machte sein Zeichen unter das Schriftstück. Nur siegeln wollte er es nicht. Als er davon sprach, dass ja das Siegel auf der Burg wäre, meinte der Priester: „Nehmt euren Siegelring, Herr Graf. Auch ein kleines Siegel ist ein Siegel.“ Und so drückte der Graf murrend und knurrend seinen Siegelring auf das weiche Wachs.

Kaum hatte der Graf das Tor durchritten, erschall ein Freudenjubel.

„Holt Tische und Bänke! Bringt Bier und Speisen! Heute wird gefeiert! Frieder, hole die Stadtleute! Alle, die mit uns diesen Sieg errungen haben, sind herzlichst eingeladen!“, rief Julias Vater und drückte seine Tochter an sich. „Du bist ein tolles Mädchen, Julia! Dir verdanke ich meine Freiheit und unser Gut!“

„Auch Heinrich und Mechthild haben geholfen, Vater!“, sagte Julia und winkte Mechthild zu sich. Die wurde ganz rot im Gesicht, als sie ihr Herr vor allem Gesinde an sich drückte und ihr für ihre Hilfe dankte. Dann, als auch die Stadtleute an den Tischen saßen und alle Becher mit schäumendem Bier gefüllt waren, rief Julias Vater: „Habt Dank für eure Hilfe! Ohne euch und ganz besonders ohne die Hilfe meiner Tochter und meiner Patenkinder Heinrich und Mechthild wäre ich jetzt nicht hier! Feiern wir unseren Sieg!“

Und es wurde ein tolles Fest. Julia, kaum dass der Trinkspruch ihres Vaters verklungen war, rannte in den Schlafraum ihres Vaters. Dort saß die alte Muhme und summte leise vor sich hin. „Er schläft“, flüsterte die Alte. „Das ist gut. Er wird wieder ganz gesund, Julia.“

„Hab Dank Muhme“, sagte Julia. „Geh zum Fest, ich bleibe jetzt bei Heinrich!“

So saß sie am Krankenbett ihres Freundes, nahm seine Hand und streichelte sie. Heinrich schlug die Augen auf und schaute verwundert um sich. Als er sich im Bett aufrichten wollte, durchzuckte ihn ein Schmerz in der Schulter. „Der Pfeil“, stöhnte er.

„Bleib liegen, mein Heinrich“, sagte Julia. „Jakob hat die Pfeilspitze entfernt und die Muhme hat ihre Wundersalbe auf die Wunde gestrichen. Du wirst wieder gesund, ganz bestimmt!“

Und sie drückte dem Heinrich die Hand. Und der flüsterte nur: „Es ist schön, dass du bei mir bist!“

 

... „Es ist schön, dass du bei mir bist!“ Die Schülerin Julia klappte ihr Deutschheft zu und schaute zu ihren Mitschülern. Die strahlten sie an und einer fing an zu applaudieren. Und dann klatschten alle so laut, dass die Lehrerin sogar beschwichtigend die Hände hob. „Das Lob deiner Mitschüler hast du dir verdient, Julia“, sagte sie. „Erkläre uns bitte, wie bist du an diese Erzählung herangegangen.“

„Die Aufgabe lautete doch: Wahres mit Erfundenem zu vermischen und so eine Fantasiegeschichte zu erzählen. Wahr ist, dass ich mit meinen Eltern vor 14 Tagen ein mittelalterliches Freilichtmuseum besucht habe. Ich habe auch mithilfe eines alten Schmiedes, den sie Jakob riefen, geschmiedet - nicht ein Schwert, aber einen Nagel. Wahr ist auch, dass ich Geschichte und Geschichten mag und ich auch ein Buch über Jeanne d'Arc gelesen habe. Und als ich begann, von dem Besuch des Freilichtmuseums zu schreiben, entwickelte sich der Handlungsablauf fast von ganz allein.“

Viele Fragen sollte jetzt Julia noch beantworten. Zu ihrem Glück, klingelte es zur Pause. Ein rothaariger Junge, den die Mitschüler mit Hein anredeten, wollte unbedingt von ihr doch noch etwas wissen. „Julia, wie würdest du die Geschichte weiter schreiben? Heiratet Heinrich die Julia?“

„Bestimmt!“, rief Julia und unter dem Gejohle ihrer Klassenkameraden erhielt der Hein einen Kuss auf die Wange. Und so passte sich seine Gesichtsfarbe dem Rot seiner Haare an!