Geschichten für Kinder

Die Geschichte vom Drachen Eujeujeu

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von Joachim Größer (2014)

 

Einst vor langer, langer Zeit, als im großen Waldgebirge nur wenig Menschen lebten, hatte ein mächtiger Drache seinen Wohnsitz auf einem Berg, den er seinen Drachenberg nannte. Dort saß er in einer Höhle und flog von hier aus über Wälder, Flüsse und Seen. Ab und zu sahen ihn die Menschen und riefen: „Habt ihr gesehen, der mächtige Drachen sucht wieder eine Frau!“

Auch wenn die Menschen nicht wussten, wo der Drache hauste, von seinem Wunsch, sich mit einer Jungfrau zu vermählen, das wussten die Menschen im ganzen Land. Denn schon oft hatte der Drache nach einem hübschen Mädchen Ausschau gehalten, aber die rechte Jungfrau hatte er noch nicht gefunden. Auch war zu bezweifeln, dass ein Mädchen die Frau eines Feuer speienden Drachens werden wollte. So kam es, dass der Drache weiterhin einsam in seiner Höhle saß und manchmal so traurig dreinschaute, dass man ihn schon bedauern konnte. Als er nun wieder an einem schönen, warmen Spätherbsttag über die Berge und Täler flog, erblickte er eine mächtige Burg und nahe an einem kleinen See ein wunderhübsches Mädchen. Sofort verliebte sich der Drache in das Mädchen und er wagte, sie anzusprechen. Vorsichtig, um sie nicht zu verschrecken, landete er weit ab von ihr. Langsam bewegte er sich auf das Mädchen zu. Doch seine Vorsicht war gar nicht angebracht, rief doch das Mädchen erfreut aus: „Oh, ein Drache! Darf ich mich auf dich setzen und du fliegst mit mir bis hinauf zu den weißen Wolken?!“

„Sitz auf, Jungfrau mein! Eujeujeu!“, erwiderte der Drache und vermied es, Feuer zu speien.

Das Mädchen kletterte auf den Rücken des Drachen und kaum, dass es saß, rief der Drache: „Festhalten, Jungfrau mein! Ich flieg mit dir hinauf zu den weißen Wolken, und wenn du willst, noch weiter bis zur Sonne! Eujeujeu!“

„Flieg nur, flieg!“, rief das Mädchen freudig. „Flieg hinauf bis zur lieben Sonne!“

Und der Drache flog zu den weißen Wolken. Als das Mädchen ihm zurief: „Oh Drache, mir ist so kalt! Flieg mit mir zur lieben Sonne!“, da zeigte der Drache, welche Kraft in ihm steckte. Mit wenigen Schlägen seiner mächtigen Schwingen ging es höher, immer höher. Jetzt erwärmte die liebe Sonne das fröstelnde Mädchen und sie rief dem Drachen zu: „Oh, mein Drache, wie stark du bist! Nun flieg mit mir zur Burg meines Vaters!“

Und der Drache, der das Mädchen furchtbar lieb gewonnen hatte, flog wieder hinunter zur Erde, aber er flog nicht zur Burg, sondern zu seinem Drachenberg. Dort zeigte der Drache dem Mädchen seine Höhle und sprach: „Jungfrau mein, ich hab dich lieb. Du sollst meine Frau sein! Eujeujeu!“ Und der Drache sprach diese Worte mit leiser Stimme, damit er das Mädchen nicht erschrecke. Doch nicht seine gewaltige Stimme erschreckte das Mädchen, es waren seine Worte: „Du sollst meine Frau sein!“

„Nein Drache, deine Frau werde ich nie und nimmer! Bring mich zur Burg meines Vaters!“

„Nie und nimmer!“, schrie der Drache und er spie Feuer, dass die Wände der Höhle zu glühen begannen. „Nie und nimmer! Eujeujeu!!!“

Und das Mädchen verließ die Höhle, setzte sich auf einen Stein und begann, bitterlich zu weinen. Die Wut des Drachen, als ihm das Mädchen sagte, dass sie ihn nicht heiraten werde, schlug um in Traurigkeit. Er setzte sich zu dem Mädchen und sprach zu ihr: „Jungfrau mein, ich bitt dich von Herzen, erhör meine Schmerzen, ich liebe nur dich, als Ehemann nimm mich.“ Und fast ängstlich fügte er hinzu: „Eujeujeu?!“

„Oh Drache! Zu Hause erwarten mich mein Vater und ein Jüngling, dem versprochen ich bin! Ich kann dich nicht heiraten!“

Und das Mädchen weinte und der Drache saß neben ihr und auch aus seinen Augen flossen Tränen. Gerade, als der Drache sich durchgerungen hatte und sagen wollte, dass er das Mädchen zur Burg seines Vaters fliegen werde, da verdunkelte sich die Sonne und eine großmächtige, schwarze Gestalt stand vor dem Drachen. Das Mädchen rief erfreut: „O Vater!“ Doch ihr Vater beachtete das Mädchen nicht. Sein übermächtiger Zorn galt nur dem Drachen. Und mit wütend blitzenden Augen schrie er: „Drache vom Drachenberg, Frevel hast du mir und meiner Tochter angetan! So verfluche ich dich für tausend Jahr! Als Eidechse sollst du fortan leben!“ Wie Donnerschläge hallten seine Worte!

Ja - so sprach der mächtige Zauberer! Und der Zauberer erhob beide Hände und richtete sie gegen den Drachen. Dem wurde ganz heiß und übel und er merkte, wie sein großer Körper schrumpfte und er nur noch ein unscheinbares Eidechslein war. Die gewaltige Drachenhöhle stürzte ein und begrub den einst so mächtigen Drachen als kleine Eidechse. Doch bevor er völlig mit Gestein und Erde bedeckt war, hörte er noch des Mädchens liebe Stimme: „Vater, warum strafst du ihn so grausam? Er war ein guter Drache – der Drache Eujeujeu!“

Doch die Worte seiner Tochter beschwichtigten den erzürnten Zauberer nicht.

„Eintausend Jahre, Drache vom Drachenberg!“ So sprach der Zauberer und er hob die Hände gen Himmel und ein schwarzes Ross galoppierte zu ihm. Er sprang auf den Rappen, zog seine Tochter zu sich hinauf aufs Pferd und mit gewaltigen Sätzen flog das Pferd über Berge und Täler, über Wälder und Felder.

So lebte fortan der einst so mächtige und stolze Drachen, den das Mädchen „Drache Eujeujeu“ nannte, als Eidechse tief in der Erde. Jedes Jahr, wenn die Frühlingssonne den Boden erwärmte, kroch die Eidechse aus ihrem Versteck, starrte zur Sonne und begann zu klagen: „O Sonne, Frühlingssonne! Ach könntest du den Zauber von mir nehmen. Ich würd von dannen ziehen und keinem Menschen mehr schaden.“

Doch die Sonne blinzelte nur.

So verging Jahr auf Jahr. Im Frühling kroch die Eidechse ins helle Licht der Sonne, um sich im Herbst wieder tief in der Erde vor der Winterkälte zu verstecken.

Nach vielen, vielen Jahren meinte die Eidechse, dass wohl die eintausend Jahre vorbei sein müssten. Und kaum, dass die Frühlingssonne den Boden erwärmte, kroch die Eidechse aus ihrem Versteck, ließ ihren Körper von der lieben Sonne erwärmen und flüsterte:

„Ich werd sie fragen, ich werd auch nicht klagen, sie möcht es mir sagen, wann endlich die Jahre vergangen.“

Und die Eidechse trommelte mit ihren kleinen Füßen so heftig, dass die Sonne verwundert blinzelte. Die Eidechse nahm ihren ganzen Mut zusammen, stellte sich auf die Hinterbeine und mit lispelnder Stimme rief sie: „O Sonne gute, so sage an, sind die tausend Jahre schon vergang’n?“

Und die gute Sonne antworte dem Eidechslein: „Vergangen sind erst 564 Jahr!“

Erst 564 Jahre! Die Eidechse war über die Antwort erschrocken. Hatte sie doch geglaubt, dass vom Zauber sie bald erlöst sein würde. Was ist nicht alles in diesen 564 Jahren geschehen?! Aus dem Drachenberg war ein Burgberg geworden. Stolz erhob sich jetzt eine mächtige Burg auf dem Gipfel. Und unterhalb der Burg? Was war das für ein Gewimmel! Menschen hatten Hütten und Steinhäuser gebaut, Straßen führten durch den Ort und auf diesen Straßen zogen Ochsen die Wagen, voll beladen mit Heu und Getreide, mit Holz und mit Steinen. Reiter galoppierten durch große Tore hinaus in die Ferne. Ach, wie wünschte sich das Eidechslein, wieder ein Drache zu sein. Als Drache Eujeujeu wollte er die Schwingen ausbreiten, um den Ort seines Zaubers und seiner Qualen schnellstens zu verlassen.

Da seine Zeit noch nicht gekommen war, führte das Eidechslein auch in den weiteren Jahren das Leben einer Eidechse. Jahr für Jahr schaute es im Frühjahr zur Sonne, wagte aber die gute Sonne nicht zu fragen. Dann – die Frühlingssonne erwärmte die Glieder des Eidechslein besonders rasch – an diesem Frühlingsmorgen fragte das Eidechslein mit lispelnder Stimme: „O Sonne gute, so sage an, sind die tausend Jahre schon vergang’n?“

Und die gute Sonne antworte dem Eidechslein: „Vergangen sind erst 969 Jahr!“ Und da das Eidechslein so traurig zur lieben Sonne schaute, rief die Sonne der Eidechse fröhlich zu: „Bald sind zu end die tausend Jahr! Bald löst der Zauber deine Schwingen! Bald wird vor Glückseligkeit ein Drache ‚Eujeujeu!‘ wohl singen!“ Und die Sonne lächelte so gütig, dass sie das Herz der Eidechse erwärmte und diese vor Freude um den großen Burgberg lief. So tat die Eidechse es jetzt nun jedes Jahr. Sie wagte sich auch hinauf auf den Berggipfel, kroch zwischen den Steinen der Burgruine herum und betrachtete neugierig die Menschen, die den Burgberg bestiegen hatten. Und einmal auch verließ sie den Burgberg, um sich die Stadt zu beschauen. Wie überrascht war sie, als sie sah, dass ein bunter Drache vor einem schönen Haus stand. Groß war er nicht, aber es war ein Drache! Die Neugier trieb die Eidechse über die Straße. Sie war so aufgeregt und so unvorsichtig, dass sie fast von einem großen Ungetüm überrollt worden wäre. Dann stand die Eidechse vor dem Drachen. Sie betrachte ihn von allen Seiten, stupste ihn sogar an, aber der Drache bewegte sich nicht. Jetzt kamen viele Menschen, die alle in das große Haus gingen. Neugierig lief die Eidechse hinterher, wagte aber nicht, durch die offene Tür zu huschen. Dafür kletterte sie an der Hauswand empor und schaute durch die Fenster in das Haus. Und was sie nicht alles sah!

„Ein Drache! Noch ein Drache! Große und kleine Drachen! Das ist ja ein Drachenhaus!“ So sprach die Eidechse zu sich selbst. Wieder auf dem Burgberg überlegte die Eidechse lange. Ja, selbst den ganzen langen Winter grübelte die Eidechse über dieses Drachenhaus. „So wird es sein! Eujeujeu!“, sagte die Eidechse ganz laut. Und zum ersten Male seit fast eintausend Jahren beendete die Eidechse wieder einen Satz mit „Eujeujeu!“

„Ja, so muss es sein. Auf der Erde gibt es noch viele Drachen, und wenn es so viele Drachen gibt, dann gibt es auch ein junges Drachenmädchen, das bestimmt meine Frau werden möchte! Eujeujeu! Wenn ich wieder ein Drache bin, dann werde ich die Schwingen ausbreiten und auf der ganzen Erde nach einem lieben Drachenmädchen suchen! Eujeujeu!“

Als die Sonne die Steine und die Erde im Frühjahr erwärmte, da überkam das Eidechslein ein sonderbares Gefühl. Es kroch aus seiner Erdspalte, blinzelte in die Frühlingssonne und schüchtern fragte es die liebe Sonne: „Ei liebe Sonne, so sage mir an, ist erloschen der große Zauberbann?“

Und wie jubelte das Eidechslein, als die Sonne ihm antwortete: „Erloschen wird sein der Zauberbann! In diesem Jahr nimmst du die Gestalt eines Drachen an!“

„Dank, dank dir liebe Sonne für diese frohe Kund! Eujeujeu!“ Und vor lauter Freude schrie das Eidechslein immer und immer wieder: „Eujeujeu! Eujeujeu!“

Jetzt wartete es jeden Tag auf die große Umwandlung – aber nichts geschah. Der Frühling wurde vom Sommer abgelöst, der Herbstwind blies bereits die Blätter von den Bäumen und der erste Nachtfrost kündete vom nahen Winter. Jetzt musste das Eidechslein schnellsten in sein Erdversteck, um nicht zu erfrieren. Doch kaum hatte es seine kleine Erdhöhle erreicht, da wurde dem Eidechslein ganz komisch. Die kleinen Beinchen zuckten, der Rücken spannte und streckte sich, unruhig lief die Eidechse hin und her. Auch wurde es dem Eidechslein ganz heiß und übel. Es streckte die Glieder, spannte den Rücken und hob mit Drachenkräften einen mächtigen Fels hoch. „Ich bin frei! Eujeujeu!“, jubelte der Drache, um aber sofort zu erschrecken. Den Felsbrocken, den er mit seinen Drachenkräften hochgehoben hatte, drohte, den Burgberg hinunter zu rollen. Und wenn dieser Stein rollt, so rollt er genau in das Drachenhaus! Der Drache vom Drachenberg zögerte keinen Moment. Zuerst versuchte er, den Fels mit seinen mächtigen Klauen festzuhalten, aber der Felsbrocken war zu schwer. Er begann zu rollen und der Drache stürzte hinterher, überholte den Stein und stemmte sich mit seiner ganzen Drachenkraft gegen den Fels. Er drückte den Felsbrocken in den Boden und erst, als er sah, dass dieser riesige Stein nicht weiter rollen konnte, ließ er ab. Er, der Drache vom Drachenberg, hatte mit seiner mutigen Tat das Drachenhaus vor der Zerstörung bewahrt! Stolz breitete der Drache seine Schwingen aus und erhob sich in die Luft, um in der großen weiten Welt ein hübsches Drachenmädchen zu suchen.

„Eujeujeu! Eujeujeu! Eujeujeu!“, so schrie der Drache von Drachenberg seine Freude hinaus. „Eujeujeu!“

Die Menschen in diesem Städtchen hörten an diesem frühen Morgen eines Novembertages einen sehr lauten Donner. Sie liefen zum Garten, der sich unweit des Drachenhauses befand, um die Ursache für dieses gewaltige Krachen zu suchen. Und nun standen sie vor einem mächtigen Felsbrocken, sie sahen die Spuren der Vernichtung und schauten hinunter zum Drachenhaus.

Sie standen und redeten, aber keiner wusste, wer geholfen hatte, ein großes Unglück zu verhindern. Nur ein kleiner Junge, Lutz heißt er, schaute gerade in diesem Moment aus dem Fenster. Er sah im trüben Morgenlicht den Stein rollen, sah den Feuer speienden Drachen mit seiner gewaltigen Drachenkraft den Stein aufhalten. Er erzählte es den anderen Kindern, aber die lachten ihn aus und keiner wollte ihm glauben. Nur seine Oma glaubte ihm. „Wir nennen den Felsbrocken den Drachenfels“, sagte sie. Und sie erzählte ihrem Enkel die Geschichte vom Drachen Eujeujeu, der eine Frau suchte und beide wünschten dem Drachen, dass er in der großen weiten Welt ein hübsches Drachenmädchen findet, das ihn heiraten möchte. Und damit man immer an die mutige Tat des Drachen erinnert wird, schmückten die beiden Menschen den „Drachenfels“ zum Frühlingsfest mit bunten Bändern. Und so geschieht dies jedes Jahr.