Geschichten für Kinder

Der Wildweibchenstein

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von Joachim Größer (2010)

 

Unmutig schaute Paula auf ihr Heft. Sie grübelte über eine Aufgabe und je länger sie darüber nachdachte, wie sie dieses Projekt angehen sollte, umso mehr ärgerte sie sich über sich selbst. Als nämlich die Klassenlehrerin die einzelnen Projektthemen vorlas, wartete sie mit dem Melden, hoffend, dass es vielleicht noch bessere Aufgaben geben könnte! Ja, jetzt hinterher weiß Paula, dass sie mit der letzten Aufgabe auch die blödeste bekommen hatte. Jedenfalls sah sie das so, und wenn sie das so sah, hatte sie auch allen Grund, sich zu ärgern.

Ihre Mutter fragte sie, ob sie helfen könnte. Und als Paula die Projektaufgabe nannte, da meinte die Mutter: „Na so schlecht ist die nun wirklich nicht!“

Lautete die Aufgabe doch: „Weise an einer selbst gewählten Sage den möglichen Wahrheitsgehalt des Inhaltes oder eines Teiles des Inhaltes nach. Sollte dies nicht der Fall sein, so führe den Nachweis, dass die Sage frei erfunden wurde.“

Die Tipps, die ihr die Mutter gab – da konnte Paula nur müde abwinken. Ihr Vater versuchte es auch, aber bei all dem, was ihr Vater vorschlug, zuckte Paula nur mit den Schultern.

„Hab, ich schon bedacht!“ oder „Da komm ich nicht weiter, Papa!“

So blieb den Eltern nur übrig zu sagen: „Dann mach es mal schön selbst!“

Sechs Wochen hatte sie Zeit gehabt für diese Arbeit - sechs Wochen, von denen sie bereits fünf verstreichen ließ und das Blatt Papier blieb weiß.

Um nicht eine „Sechs“ zu riskieren, entschloss sich Paula auf gut Glück eine kurze Sage zu nehmen. Meinte sie doch, je kürzer die Sage, umso weniger muss man nachweisen. Und die Sage vom Wildweibchenstein bestand nur aus wenigen Sätzen.

Sie kannte sie schon fast auswendig und so ging die Sage: „Unweit der Freiheit, ca. 10 Minuten zu Fuß liegt eine Felsformation an einem Abhang, der allgemein als Wildweibchenstein bekannt ist. Die Sage erzählt, dass hier in früher Zeit zwei wilde Kräuterweiblein in einer Höhle am Fuße dieses Felsens hausten.

Des Öfteren wagten sie sich bis an den Ortsrand und erbaten sich Brot oder andere Dinge. Die Bauern, die freigiebig zu ihnen waren, fanden anderntags zur Belohnung silberne Löffel in Ihrer Schublade. Am meisten beschäftigt hat die Leute aber der seltsame Spruch, den man die Weiber des Öfteren sagen hörte: ‚Wenn die Bauern wüssten, zu was die wilden Selben gut sind, dann könnten sie mit silbernen Karsten hacken!‘

Das Rätsel ist leider bis heute nicht gelöst, sodass die Bauern noch immer Karsten aus Eisen benutzen müssen!“

So ging die Sage und das Einzigste, was Paula bisher wusste, war, dass die Felsgruppe, die man „Wildweibchenstein“ nennt, in der Wanderkarte eingetragen war.

Da sie heute Nachmittag Zeit hatte, entschloss sie sich, mit dem Fahrrad zum Wildweibchenstein zu fahren. Viel Lust hatte sie nicht und einige Berge lagen vor ihr. Aber irgendwie musste sie doch ihre Projektarbeit angehen.

An der Eisdiele machte sie die erste Rast. Und dort traf sie auch den Robert aus ihrer Klasse. Da sie wusste, dass der Robert sie mochte – und sie freute sich auch immer, wenn sie den Robert traf – fragte sie ihn kurzerhand, ob er nicht Lust hätte, mitzufahren, zum Wildweibchenstein. Der Robert wurde zuerst rot, dann blass und stotterte: „Du, du willst mich mitnehmen?“

Eine Antwort wartete er gar nicht mehr ab, lief zu seinem Fahrrad und grinste: „Na los!“ Machst du das Tempo?“

So hatte Paula einen Begleiter und die Fahrradtour erschien jetzt schon angenehmer. Als der eine Berg zu steil war, stieg Paula ab und schob das Rad. Zuerst wollte Robert etwas protzen und fuhr weiter den Anstieg hinauf, doch dann besann er sich und lief neben Paula.

„Warum willst du denn zu diesem Felsen?“, fragte Robert.

„Ach, ich arbeite doch an meinem Projekt.“ Kurz nur antwortete Paula und hoffte, Robert fragt nicht weiter.

Nein, weiter fragte Robert nicht, dafür aber protzte er: „Meins hab ich schon seit drei Wochen fertig. War recht leicht!“

Paula fragte gar nicht erst, welche Projektaufgabe Robert genommen hatte. Sie würde sich sonst noch mehr ärgern.

Nun standen sie am Felsmassiv und starrten auf die Felsen und das Schild „Naturdenkmal Wildweibchenstein“.

Paula zückte eine Kamera und knipste mehrere Fotos.

„War es das?“, fragte Robert.

Und nun entschloss sich Paula, Robert einzuweihen.

„Nee, überhaupt nicht. Ich komme mit dieser blöden Aufgabe nicht zurecht. Ich weiß nicht, warum diese Steine ‚Wildweibchen‘ heißen, was eine wilde Selbe ist, warum das Geheimnis ein Geheimnis ist, was ein Karsten ist, weiß ich auch nicht – ich weiß gar nichts!“

Robert guckte nur verblüfft. Paula war eine der Besten in der Klasse und noch nie hatte sie irgendwelche Probleme mit Aufgaben gehabt. Aber jetzt witterte er seine Chance, Paula von seinen Qualitäten zu überzeugen.

„Gehen wir mal runter. Vielleicht entdecken wir noch irgendetwas. Vielleicht eine Tafel, auf der das alles erklärt ist.“

Sie lehnten die Fahrräder an einen Baum und krochen den Hang vorsichtig hinunter. Jetzt war Robert ganz der Kavalier. Er reichte Paula die Hand und Paula nahm sie auch – und Robert war glücklich.

Die Felsen sahen so aus, wie alle Felsen im Gebirge aussehen. Nichts fanden sie, was eine Erklärung hätte sein können. Doch da entdeckte Robert ein Loch in der Felsgruppe. Es war nicht groß, aber für 14-jährige Kinder groß genug, um da durchzukriechen.

„Ich probier es mal, vielleicht ist es eine richtige Höhle.“

„Aber wir haben kein Licht!“ Paula war gar nicht von dieser „Höhlenerforschung“ angetan.

„Haben wir doch!“ Robert zückte sein Schlüsselbund und zeigte auf eine kleine Lampe. „Die reicht aus! Komm, ich krieche jetzt rein!“

Und Robert kroch hinein und Paula schimpfte, kroch aber hinterher.

Es war wirklich eine Höhle und kaum, dass sie durch das Loch geschlüpft waren, öffnete sich der Raum und war so groß. Dass man bequem drin stehen konnte.

„Dort geht die Höhle weiter!“ Robert hielt den Strahl der Taschenlampe auf die Stelle und Paula sah jetzt einen mannshohen Gang.

„Mannomann, ist das hier toll!“, schwärmte Robert. „Ob hier schon jemand vor uns drin war?“

Das konnte bezweifelt werden, denn weder an den Wänden noch auf dem Boden sah man Spuren, wie sie sonst Besucher gern hinterlassen.

Die beiden Kinder tasteten sich vorsichtig weiter – immer am Gang entlang. Und dieser Gang schien nicht enden zu wollen. Dann sahen sie im schwachen Licht der Taschenlampe eine Wand. Hier also war die Höhle zu Ende.

„Schade“, meinte Robert, „solch eine Höhle ist ein wunderbares Versteck. Und wie toll wäre es, wir kämen an einer ganz anderen Stelle wieder nach oben.“

Und er klopfte mehrmals mit der Taschenlampe an die Felswand.

Paula hatte allerdings genug von dieser Höhle. „Lass uns zurü…“

Sie erstarrte. Die Wand, dieselbe Wand, an der Robert geklopft hatte, zerbröselte vor ihren Augen – so als wäre dies kein fester Stein gewesen - und gab den Blick frei in eine mächtige Höhle. Und mitten in der Höhle brannte ein Feuer und über dem Feuer hing an einem Gestell ein Topf. Unweit der Feuerstelle war Stroh und Heu zu einem Lager aufgeschichtet und auf diesem „Bett“ lag eine Gestalt.

Im Schein des Feuers sah das alles furchtbar gespenstisch aus und das war es doch auch. Paula suchte instinktiv Schutz bei Robert und ergriff seine Hand. Und Robert hielt ihre schweißnasse Hand und wusste selbst nicht, was er jetzt tun sollte.

„Gehen wir leise wieder raus?“, flüsterte Robert und Paula nickte.

Doch jetzt war es bereits zu spät. Eine zweite Gestalt näherte sich und die Kinder erkannten eine Frau in mittleren Jahren. Sie trug lange Kleider, eine weite Schürze mit riesengroßen Taschen und hatte ein Kopftuch umgebunden. Als sie die Kinder erblickte, war sie genauso erschrocken, wie Paula und Robert.

„Huiii!“, schrie sie und jetzt erhob sich die liegende Gestalt. Es war auch eine Frau, aber bedeutend jünger. Und da sie Ähnlichkeit mit der anderen Frau hatte, nahm Paula sofort an, dass es sich um Mutter und Tochter handeln müsse. Das alles nahm sie wahr und erkannte dies, aber ihre Angst wurde dadurch nicht kleiner.

Jetzt schrie die ältere Frau etwas, was die Kinder nicht verstanden. Immer wieder schrie sie dasselbe. Es muss eine Frage sein, da war sich Paula sicher, denn vom Klang des Satzes stellte man so die Frage. Und dann, es war wohl der fünfte oder sechste Ausruf, glaubte Paula die Frage verstanden zu haben.

„Robert, die wollen wahrscheinlich wissen, wer wir sind. Oder was meinst du?“

Robert nickte nur und starrte auf die beiden Frauen.

Paula zeigte auf Robert und antwortete dann: „Das – ist – Robert!“

Sie sprach ganz langsam und sehr deutlich. Dann zeigte sie auf ihre Brust. „Ich - bin – Paula!“

Paula hatte die Frage der Frau richtig gedeutet. Die ältere Frau tippte mit dem Finger auf die jüngere: „Berta!“

Dann zeigte sie auf sich. „Hulda!“

Es schien, als wäre der erste Kontakt hergestellt. Jetzt näherten sich die beiden Frauen und betrachteten die beiden Kinder. Sie betasteten Roberts Hemd, befühlten Paulas T-Shirt, schauten etwas verwundert, als sie erkannten, dass Paula ein Mädchen war, und sie zeigten mit großen Augen auf Paulas Jeanshosen.

Paula ließ sich betasten, denn die Ältere befühlte jetzt den ganzen Körper. Es war ihr aber sichtbar unangenehm, rochen doch die beiden Frauen etwas sehr streng – um nicht zu sagen, dass sie nach allem, was es in der Höhle gab, stanken. So vermischten sich Rauch, Schweiß, Erde und Essen zu diesem einzigartigen Geruch.

Berta, die jüngere Frau, bemerkte, dass die Berührungen für Paula unangenehm waren.

Sie sagte dies ihrer Mutter und die hörte sofort mit dem Betasten und dem Beschnüffeln auf.

Und jetzt verstanden auch die beiden Kinder so einigermaßen diese Sprache. Für sich übersetzten sie das so: „Mudder, hör auf. Das Mägdlein möchte dies net.“

Die Frauen sprachen also einen Dialekt, wie ihn vielleicht noch die ganz, ganz alten Leute verstehen könnten. Aber da war sich der Robert nicht so sicher. Er hatte auf jeden Fall mehr Schwierigkeiten, die Worte zu deuten als Paula.

Die Kinder wurden zum Feuer geführt. Dort mussten sie sich auf die blanke Erde setzen. Berta gab ihnen einen großen hölzernen Löffel und Hulda nahm den Topf vom Feuer und stellte ihn vor die Kinder.

Die nächste Aufforderung konnte nur „Esst!“ heißen. Mehrmals sagten dies Hulda und Berta und machten dabei ein sehr freundliches Gesicht. Und so probierten Robert und Paul das Essen. Und beide stellten fest, es schmeckte besser, als es aussah. Es war wohl eine Gemüsesuppe, mit allem, was ein Garten oder ein Feld oder vielleicht auch der Wald und die Wiese hergaben. Die Holzlöffel waren unhandlich, aber man konnte damit die Suppe auslöffeln.

Viel aßen Paula und Robert nicht, denn die beiden Frauen verfolgten jeden Löffel mit großen Augen. Es schien, als würden sie befürchten, dass von ihrer Mahlzeit nichts übrig bliebe.

So übergaben die Kinder die Löffel an Hulda und Berta und beide Frauen schlürften in Windeseile den Topf leer.

Jetzt hatten Paula und Robert Zeit, sich über dieses Erlebnis zu verständigen.

„Ich hätte niemals gedacht, dass es heute noch Menschen bei uns gibt, die in solchen Höhlen leben. Hast du eine Erklärung dafür?“

Aber Robert hatte keine Erklärung. Die Kleidung der Frauen, ihre Sprache und dieses Essen, das zwar recht gut schmeckte, aber völlig ohne Fleisch und auch Salz zubereitet war, all das passte nicht ins 21. Jahrhundert.

„Ob die wissen, wie ein Auto aussieht?“, flüsterte er leise. Paula verstand nicht, warum Robert diese Frage ihr stellte. Doch der wollte jetzt etwas ausprobieren. Er nahm seine kleine Taschenlampe und knipste sie an. Zuerst reagierten die Frauen nicht auf den Lichtpunkt, der über ihre Kleidung und die Höhlenwände huschte. So sehr waren sie mit dem Essen beschäftigt. Dann bemerkte Berta den Lichtstrahl. Sie hörte mit dem Essen auf und starrte auf die Taschenlampe in Roberts Hand.

„Mudder! Mudder! Der Beelzebub! Der Beelzebub!“

Robert und Paula waren mindestens genauso erschrocken wie die beiden Frauen. Hulda hatte die Hände nach vorn gestoßen und schrie: „Weiche Satan! Weiche!“

Und der angebliche „Satan“ wich zurück, dabei die Hände der Paula fassend. Robert wollte nur schnell aus dieser Höhle heraus. So wich er zurück, die kreideweiße Paula mit sich ziehend, zu dem Gang, durch welchen sie gekommen waren. Nur musste er erschrocken feststellen, hier war kein Gang mehr – nur noch eine Einbuchtung im Fels – das war‘s.

„Paula, der Gang ist weg! Hast du einen Einfall, wie wir hier wieder rauskommen?“

Paula hatte keinen Einfall. Sie stand mit dem Rücken zur Wand und verharrte wie gelähmt.

Robert leuchtete jetzt der Hulda ins Gesicht. Er hoffte, wenn er sie blendet, dass sie dann mit

diesem „Weiche Satan!“- Gerede aufhören würde.

Hulda zuckte jetzt zwar zurück, um im nächsten Augenblick noch lauter zu kreischen.

„Paula, deine Digitalkamera! Los, mach Blitzfotos! Los, Paula!“

Jetzt löste sich die Anspannung bei Paula. Sie verstand, was Robert wollte und suchte in ihrem Beutel die Kamera.

„Hier Robert, der Blitz wird automatisch ausgelöst!“

„Mach du, ich leuchte der Hulda weiter ins Gesicht.“

Allerdings schwächelte die Mini-Taschenlampe jetzt bereits bedrohlich. Paula zückte den Apparat. „Klick“ und noch einmal „Klick“ machte der Apparat.

Der grelle Blitz ließ jetzt Hulda in ihren Beschwörungen einhalten. Ihre Tochter Berta hatte sich mehr verwundert als ängstlich hinter ihrer Mutter versteckt.

Hulda schien vom grellen Blitz der Kamera geblendet. Sie schrie auf und verkroch sich in die hinterste Ecke der Höhlenbehausung.

Das nutzte jetzt Robert schnell aus und untersuchte die Wand.

„Hier war der Höhlengang! Ich weiß es genau!“, schrie er.

„Sind wir gefangen?“, fragte Paula ängstlich.

„Irgendwie schon – nur die beiden Frauen müssen ja auch nach draußen kommen. Wir müssen die Wand absuchen! Komm Paula und halte deine Kamera für weitere Blitze bereit!“

Vorsichtig bewegten sich die beiden Kinder an der Wand entlang. Robert tastete jede kleine Spalte ab, aber dieser Teil der Höhle war undurchdringlich. Dann sahen sie den Höhlenausgang. Er befand sich genau an der entgegengesetzten Seite. Nur dass dort die verstörte Hulda sah. Sie hielt sich immer noch die Augen zu und jammerte. Paula folgte einer Eingebung und ging zu Hulda. Sie streichelte sie, nahm ihre Hände und drückte sie vorsichtig von den Augen weg.

Ein Freudenschrei - Hulda war von ihrer „Blindheit“ geheilt. Sie vergaß, dass sie die Kinder als Teufel verbannt hatte. Ja, jetzt, da die gute Paula ihr das Augenlicht wiedergegeben hatte, schien sie nicht mehr zu glauben, dass die Kinder Teufel in Menschengestalt seien.

Auch Berta kam jetzt zu Paula und betrachtete sehr interessiert die kleine Digitalkamera.

„Was ist‘s?“, fragte sie.

Paula gab ihr die Kamera in die Hand und zeigte ihr den Auslöser.

„Da drauf drücken!“, sagte sie.

Und Berta wiederholte: „Drauf drücken!“ Und sie drückte. Ein Blitz erhellte die Höhle. Hulda erstarrte wieder – aber ihr Angstschrei blieb aus. Sie sah ja alles.

Jetzt zeigte Paula der Berta die Aufnahme. Ein Teil der Höhle war zu sehen und hinten an der Wand stand Robert.

„Ooh!“ Berta machte riesengroße Augen. „Mudder!“, schrie sie und zeigte der Hulda die Aufnahme. Jetzt sollte Berta eine Aufnahme von Paula machen. Paula stellte sich Positur und forderte mehrfach Berta auf: „Draufdrücken!“

„Draufdrücken!“, wiederholte Berta und drückte.

„Ooh!“ Die riesengroßen Augen der beiden Frauen zeigten an, dass der „Zauberkasten“ dieses Mädchens den beiden Frauen gefiel und nicht mehr unheimlich und Angst einflößend war.

Paula schaffte es, dass Hulda ihre Tochter Berta fotografierte und auch dass Berta Hulda aufnehmen durfte. Jetzt störte kein Blitz mehr – ja, die beiden Frauen erfreuten sich an dem grellen Licht.

Robert hatte in dieser Zeit mehrfach versucht, Paula zu sich zu winken. Wollte er doch diese Höhle durch den gefundenen Ausgang verlassen. Doch Paula reagierte leider nicht auf seine Zeichen.

Dafür kam jetzt Berta zu ihm, nahm ihn an die Hand und brachte ihn zu ihrer Mutter. Von diesem Gespräch verstand er nicht viel. Eindeutiger war da schon die Aufforderung, das weite Hemd, das Berta aus einer einfachen Holzkiste nahm, anzuziehen.

„Mei Vadder!“, sagte Berta bedeutungsvoll und nickte zur Bestätigung mehrfach mit dem Kopf. „Vadder - tot!“

Robert musste das mehrfach geflickte Hemd überstreifen, bekam einen einfachen Hanfstrick und gürtelte damit das Hemd. Das Hemd stank fürchterlich, aber Berta betrachte den Robert ganz verzückt.

Auch Paula bekam von Berta ein Kleidungsstück. Es schien der beste Rock und die schönste (und wohl die einzigste) Bluse der Berta zu sein. Obwohl sich Paula entschieden weigerte, die Kleidungsstücke anzuziehen, beharrte Berta darauf und bekam Unterstützung von Hulda. Die beiden Frauen wollten auch, dass Paula ihre Jeanshosen ausziehen sollte. Doch da weigerte sich Paula mit Erfolg. So trug Paula die Sachen der Berta über ihre eigenen Sachen. Und die Sachen waren so groß und so weit, dass sowohl T-Shirt als auch Jeanshose nicht mehr zu sehen waren.

Hulda hatte in der Zwischenzeit zwei große Körbe gefüllt. Die Tragekiepe nahm Berta auf den Rücken, Hulda hängte sich einen Handkorb über den Arm.

„Fallendes Wasser“, sagte Hulda und marschierte zum Höhlengang. Berta schob Paula vor sich her und so blieb Robert nichts anderes übrig, als den Dreien zu folgen.

„Fallendes Wasser“ war ein kleiner Wasserfall unweit des Höhlenausganges. Es war früher Abend, ein milder wunderschöner Sommerabend. Der schmale Saumpfad, der zum „Fallenden Wasser“ führte, schien regelmäßig begangen zu werden. Robert suchte vergebens mit den Augen die Umgebung ab. Wollte er sich doch orientieren, in welchem Gebiet sie sich befanden. Auch suchte er nach den beiden Fahrrädern, aber nichts blinkte in der Abendsonne, was nach einem Fahrrad aussah.

Dann hörte sie menschliche Stimmen, Lachen und auch Gekreische.

„Wasser sauber! Wasser rein!“, sagte Hulda bedeutungsvoll und zeigte in Richtung der Stimmen.

Jetzt öffnete sich der Pfad zu einem Platz und Paula und Robert sahen mehrere Personen, die nackt, unter dem Wasserfall stehend, sich reinigten. Alte, Junge, Kinder, Männer und Frauen – sie alle rieben ihren Körper mit dem Sand, der vom Wasser angespült worden war, ein. Das taten sie, bis ihr Körper krebsrot geschrubbt war. Dann traten sie unter das Wasser und spülten den Sand ab.

Hulda und Berta entledigten sich in Windeseile ihrer Kleider und traten zu den anderen Menschen. Ihnen wurde ein Platz freigemacht und sie begannen sofort mit de Ritual der Reinigung.

Robert und Paula wurden von Berta wiederholt aufgefordert, ihre Kleider abzulegen. Noch zierten sich die beiden, doch als Berta und Hulda nackend zu ihnen traten und ihnen unmissverständlich klar machten, dass sie sich auch an dieser wohl für die beiden Frauen „heilige Säuberung“ beteiligen müssten, da verzogen sich die beiden zum Waldrand und entkleideten sich verschämt. Für die Menschen am Wasserfall waren Paula und Robert zwei Kinder, die wohl als Besucher von Hulda und Berta mitgebracht wurden. Und das war wohl nichts Besonderes, denn keiner kümmerte sich besonders um die beiden.

Schnell wuschen sich Paula und Robert und noch schneller waren sie wieder angezogen. Im Gegensatz zu den Menschen, die diesen Reinigungsvorgang genossen und ihn wie einen Festtag begingen.

Jetzt hatten Paula und Robert zum ersten Mal Gelegenheit, sich allein zu unterhalten.

„Robert, was ist das? Was ist geschehen? Ist das die Realität oder …?“

„Das kommt mir vor, als wären wir in einen Film gekommen, der im Mittelalter handelt“, erwiderte Robert. „Aber es fehlen die Kameras und auch alles andere …“

„Meinst du etwa, wir sind seit der Höhle in eine andere Zeit gelangt?“

„So etwa - glaub ich wenigstens. Nur, solche Zeitlöcher, oder wie immer man dazu sagt, gibt es doch nur in Filmen.“

„Robert, wenn du recht hast, dann sind wir in einem solchen Zeitloch. Aber wie kommen wir in unsere richtige Zeit zurück?“

„In Filmen spult sich alles wieder zurück. Wir müssten zurück zur Höhle, nur …“

„Was ist mit dem ‚nur …‘, Robert? Ängstlich, sehr ängstlich schaute Paula den Robert an.

 „Na ja, wir haben doch die Höhle abgesucht und den Eingang, durch den wir gekommen waren, den gab es doch nicht mehr.“

Jetzt liefen der Paula die Tränen. Sie schluchzte und Robert, dem jetzt auch die Tränen in die Augen schossen, wusste nicht, wie er Paula trösten konnte.

Berta und ihre Mutter hatten nun endlich ihre Reinigung beendet. Berta entnahm der Kiepe ein sauberes Kleid und zog es über den nackten, nassen Körper. Hulda zog ihre alten Sachen an. Dann kamen die beiden Frauen zu Paula und Berta und redeten auf sie ein. Sie merkten, dass mit den beiden irgendetwas nicht stimmte. Berta umarmte Paula liebevoll und Hulda strich dem Robert übers Haar.

Von dem Redefluss der beiden Frauen verstanden die Kinder nur wenige Wörter: Fest, Tanz, Freiheit. So jedenfalls deuteten sie diese Wörter. Aber sie hatten wahrscheinlich richtig gedeutet. Sie folgten in die Richtung, in der schon vorher die anderen Bewohner gegangen waren. Und dann sahen sie auch das erste Haus. Nur dass dieses Bauwerk nicht den Namen „Haus“ verdiente. Es war eine kleine Hütte am Waldrand. Ein Fenster hatte die windschiefe Hütte an der Vorderseite – ohne Fensterglas und eine Tür aus roh behauenen Brettern. Das Dach war mit Grassoden bedeckt und mit Steinen beschwert.

Hulda rief einen Namen und eine jüngere Frau und vier Kinder kamen aus der Hütte. Die Frau, sie hieß wohl Meta, schob das älteste Kind zur Hulda und deutete auf den Hals. Hulda ließ den Jungen den Mund öffnen und schaute ihm in den Rachen. Nun nickte Hulda zufrieden, griff in den Tragekorb und gab der Mutter ein kleines Glasfläschchen. Vorsichtig, als erhielte sie einen kostbaren Schatz, nahm die Mutter das Fläschchen. Mehrfach nickte die Mutter zur Rede der Hulda. Dann trug sie das Fläschchen ins Haus und kam mit einem Korb voller Nahrungsmittel zurück. Ein Laib Brot, Gemüse und ein Stück Fleisch wechselte den Besitzer. Berta verstaute die Nahrungsmittel in die Kiepe, Hulda nickte zufrieden. Und weiter ging es. Robert hatte diesem Vorgang entnommen, dass Hulda und bestimmt auch ihre Tochter Kräuterfrauen waren und Arzneimittel gegen Lebensmittel eintauschten. Paula hatte in der Rede der Hulda das Wort „Selbe“ herausgehört.

Und noch einmal gebrauchten die Frauen den Begriff „Selbe“. Sie verließen nämlich den Weg und gingen zu einer entfernten Waldwiese. Dort blühten mehrere Blumen und Hulda rief ganz entzückt: „Selben! Viele Selben!“

Paula sah eine etwa einen halben Meter hohe dunkelblau blühende Pflanze, die jetzt vorsichtig von Hulda gepflückt wurden. Und vorsichtig legte sie die Pflanzen in die Kiepe. Sehr genau betrachtete Paula das Aussehen der Pflanze. Jetzt wusste sie wenigstens, was eine „Selbe“ ist. Nur dann dachte sie, dass sie wohl nie wieder eine Projektarbeit anfertigen werden müssen und die Tränen schossen ihr in die Augen.

Robert, der den Gemütszustand der Paula sah und glaubte, die Ursache zu kennen, nahm ihre Hand und flüsterte ihr zu: „Es gibt bestimmt eine Möglichkeit, wieder in unsere Zeit zu gelangen.“

Dankbar schaute Paula den Robert an. Ach wäre das doch schon jetzt möglich!

Hulda und Berta gingen auf ein Dorf zu. Die Häuser waren auch nicht groß, aber es gab hier bereits Häuser aus Stein. Auch waren Gärten angelegt, in denen man zwischen Unkraut und Nutzpflanzen kaum unterscheiden konnte.

Ein älterer Mann arbeitete in solch einem Gärtchen und zu dem gingen jetzt die Frauen.

„Jakob, lasse ‘n Karsten steh‘n! Heut isses Fest! Mei Berta will heirate!

Und der Jakob legte die Hacke aus der Hand und ging zur Hulda. Er hielt in der Hand mehrere Pflanzen, die Paula als Unkraut bezeichnen würde. Doch Hulda bedankte sich erfreut über das Geschenk. „Jakob, heut tanz ich mit dir!“ Und Jakob lächelte erfreut.

Die Festwiese war nun gar nicht mehr weit und bereits viele Menschen tummelten sich hier. Und einige schienen auf Hulda gewartet zu haben. Sie empfingen getrocknete Blätter oder auch kleine Fläschchen, die mit einer öligen Flüssigkeit gefüllt waren. Diese kleinen Fläschchen nahmen die Menschen wie einen Schatz entgegen und legten sie vorsichtig in einen Korb. Und Hulda legte dafür jedes Mal irgendein überreichtes Nahrungsmittel in die Kiepe.

Jetzt hörte man Musik - Musik, von der Robert hinterher meinte, dass man sie als Katzengejammer bezeichnen könnte. Drei Spielleute entlockten komisch aussehenden Instrumenten diese eigenartigen Töne. Doch sofort fanden sich einige Tänzer, die sich anfassten und sich auf der Wiese zur Musik drehten.

Auch Berta fasste zwei junge Mädchen und einen Burschen an und drehte sich lachend zur Musik. Dann winkte sie der Paula und dem Robert und diese Handbewegung war eindeutig: „Los, macht mit! Es ist schön, sich zur Musik zu drehen!“

Der Tag neigte sich dem Abend zu und der Mond erschien schon blass am Himmel. Dann erschien ein Reiter, der im Gegensatz zu den Dorfbewohnern vornehm gekleidet war.

„Der Herr! Der Herr!“, riefen die Menschen und rannten dem Reiter hinterher. Vor einer Hecke machte der Reiter halt. Die Menschen drängten sich erwartungsvoll an der Hecke. Paula und Robert verstanden nicht viel von den lauten Reden, dem fröhlichen Lachen und dem Gekreische, das die Menschen von sich gaben. Sie schienen außer Rand und Band geraten zu sein. Nur ein Wort war sehr deutlich zu verstehen: Freiheit!

Diese Freiheit schien das kleine Stückchen Erde zu sein und war umgeben von einer Stockhecke. Drei Männer hielten sich in diesem abgezäunten Bereich auf: zwei jüngere Burschen und ein alter Mann.

Der Reiter, den die Dörfler nur den „Herrn“ nannten, brüllte und sofort verstummten die Menschen. Dafür riefen die drei Männer im abgezäunten Bereich: „Frei! Frei! Frei!“

Was jetzt geschah, konnte man wohl als einen Heiratsmarkt der besonderen Art bezeichnen. Der „Herr“ brüllte einen Namen und der älteste Mann trat an den Stockzaun. Wieder brüllte der Herr und Robert übersetzte das für sich so: „Wer will ihn haben? Ein Mörder!“

Doch schien niemand von den Frauen, Gefallen an diesen Mann zu haben. Auch der nächste, ein junger Bursche mit einem pockennarbigen Gesicht und einer Hand, an der schon drei Finger fehlten, wurde von den Frauen verschmäht.

Der dritte, ein Bursche mit blonden Locken und hübschem Gesicht, schien den Frauen zu gefallen. Gleich drei traten vor und zeigten ihr Interesse dem Herrn. Doch der überließ die Entscheidung dem Burschen. Der bat wohl die Mädchen, unter denen sich auch Berta befand, sich zu drehen und zu wenden, was die drei jungen Frauen auch genüsslich taten.

Lange begutachtete der Bursche die jungen Frauen. Dann zeigte er auf Berta und die jauchzte jetzt in höchsten Tönen. Jetzt durften die drei Männer den abgezäunten Bereich verlassen. Den alten Mann, den der Herr als Mörder bezeichnet hatte, wurde von mehreren Burschen gefasst und sie führten ihn zu einem nahen Berg, auf dem ein einsamer Baum stand. Deutlich machten Paula und Robert im Abendlicht einen Strick aus.

„Das ist der Galgenberg“, flüsterte Robert und Paula wendete sich vor Grausen weg. Aber auch die andere Blickrichtung zeigte ein blutiges, und wie Paula meinte, ein unmenschliches Ritual. Dem jungen Burschen, den keine Frau zum Manne haben wollte, wurde die Hand abgehackt. Kreidebleich, den stark blutenden Armstumpf mit der anderen Hand umkrampfend, rannte der Mann zum nahen Wald. Schmährufe und Beschimpfungen der Dorfbewohner begleiteten sein Weglaufen.

Paul und Robert wussten aus dem Geschichtsunterricht, dass im Mittelalter so Diebe bestraft wurden. Auch Bertas erworbener Mann muss ein Dieb gewesen sein, denn auch ihm wurde der kleine Finger der linken Hand abgehackt. Aber zum Unterschied zu den beiden anderen Delinquenten entnahm Berta aus der Kiepe ein sauberes Stück Leinentuch und mehrere Pflanzenblätter. Sie presste die Blätter auf die Wunde und umwickelte dann die blutende Hand mit dem Leinen.

Die Spielleute nahmen ihre Instrumente und zupften, strichen und rissen die Saiten. Die Dörfler bildeten einen Kreis und Berta und ihr Mann, begannen zu tanzen. Sie drehten sich solange, bis der Bursche niedersank. Unter dem Gelächter und den Anfeuerungsrufen hob Berta ihren Mann auf, legte ihn sich über die Schulter und verschwand mit ihrem „Liebsten“ in Richtung heimatlicher Höhle.

Längst war die Nacht hereingebrochen und auf den nahen Bergen hatten Kinder und junge Burschen große Feuer entzündet. Auch solch ein Feuer brannte neben der Festwiese und ließ die Menschen und die Umgebung gespenstisch erscheinen.

Paula und Robert hatten all die Vorgänge nur als Zuschauer betrachtet. Sie nahmen zwar alles wahr, was um sie herum geschah, aber ihre Gedanken kreisten nur um eins: Wie kommen wir wieder in unsere, in die richtige Zeit?

Einmal wollte Paula, dass sie ganz schnell diesen schaurigen Gerichtsort verlassen sollten. Doch Robert widersprach ihr. Er war fest der Meinung, dass sie nur in „ihre Zeit“ gelangen könnten, wenn sich alles wieder „rückwärts“ drehen lassen würde.

„Wir müssen bei Hulda bleiben“, bat er. „Nur in der Höhle kommen wir aus diesem Zeitloch wieder heraus!“

Und Paula glaubte ihm oder besser: Sie hoffte, dass dies wirklich so sein könnte! Aber dazu mussten sie zurück zur Höhle und den Weg in diese Höhle in der dunklen Nacht - den kannte nur Hulda. So saßen sie im weichen Gras, neben ihnen stand Bertas Kiepe und Huldas Korb, und sie betrachteten die Tanzenden. Dann endlich, der Morgen graute, waren die Feuer heruntergebrannt und eine vom vielen Tanzen erschöpfte Hulda setzte sich zu ihnen. Dann sprang sie auf und befahl mit freundlichem Gesicht: „Heim! Berta!“

Hulda ging den Pfad zur Höhle im schnellen Schritt. Das Morgenrot erhellte gespenstisch den dunklen Wald. Robert hatte Bertas Kiepe geschultert und Paula trug der Hulda ihren Tragekorb. In der Höhle angekommen, sahen sie eine heulende Berta, der wohl der erst erworbene Ehemann abhandengekommen war.

Hulda tröstete Berta wohl mit einem Sprichwort. Paula glaubte zu verstehen: „Berta, tu die Augen auf, heiraten ist kein Schweinekauf.“

Doch Berta ließ sich so leicht nicht beruhigen. Robert versuchte indes, den Ausgang der Höhle, durch den sie in die Höhle gekommen waren, doch noch zu finden. Er war besessen von der Idee, dass sich die Gegenwart „rückwärts“ spulen lässt. Also nahm er die kleine Taschenlampe und klopfte gegen die Felswand. Doch nichts tat sich. So versuchte er es an der nächsten Stelle und dann an einer dritten. Und – die Felswand zerbröselte, als wäre sie nicht aus festem Stein.

Paula, die Roberts Bemühungen aufmerksam verfolgt hatte, jubelte laut. Sie schrie der Hulda und der Berta zu: „Habt Dank, ihr Frauen! Jetzt gehen wir heim!“

Und schon war sie in dem Höhlengang verschwunden. Dachte sie doch, dass sie schnell sein müssten, damit der Gang sich nicht wieder vor ihren Augen verschließt.

Robert folgte ihr, den beiden Frauen, die erstaunt aufgeschaut hatten, fröhlich zuwinkend.

Ja, sie hatten es geschafft! Sie waren in ihrer Zeit angekommen. Sie fanden die Fahrräder und Paula hüpfte und tanzte vor Freude. Robert ließ sich anstecken, er umfasste Paula so, wie es die Dorfburschen mit den Mädchen getan hatten, und sie tanzten in den frühen Morgen. Hätte sie jetzt jemand gesehen – na ja, was hätte derjenige wohl gedacht? Vielleicht zwei Verrückte!

Verrückt waren Paula und Robert auf keinen Fall, aber wenn sie jemandem ihr unglaubliches Abenteuer erzählen würden, dann würde man sie garantiert für übergeschnappt halten. Diese Idee kam nämlich Robert, als sie auf dem Berg in der Ferne ein Polizeiauto mit blauer Blinke sahen und als über den Baumgipfel ein Hubschrauber kreiste.

Paula wollte dem Piloten zuwinken, doch Robert riss ihr den Arm herunter. „Paula! Wenn die uns suchen?! Mit Wärmebildkamera?! Was sagen wir dann?“

Und ehe Paula antworten konnte, nahm Robert sein Fahrrad und haute mit aller Kraft mit dem Fuß eine Acht in das Vorderrad. Dann schmiss er sich auf den Boden und befleckte seine Hose und das Hemd mit Erde und Grasspuren - ein Stein mit Spitze und Robert hatte Schrammen am Arm.

„Paula, wenn die uns wirklich suchen und ich glaube, die suchen uns, dann erzählen wir, dass ich gestürzt bin. Ich war eine kurze Zeit bewusstlos und du hast bei mir gewartet. Dann kam die Nacht und wir haben uns verlaufen, sodass wir bis zum Morgen warten mussten. Alles verstanden?“

„Aber, warum sollen wir lügen?“

„Willst du zum Psychiater geschickt werden? Ich nicht! Und die Wahrheit glaubt uns keiner – ich glaub’s ja selber kaum!“

 

Am nächsten Tag in der Schule sagte Paula zu Robert: „Alle Bilder, die wir in der Höhle gemacht haben, sind nichts geworden. Man sieht nur schemenhaft Gestalten. Ist das nicht erstaunlich?!“

Eigentlich war Robert darüber nicht erstaunt. Er selbst hatte fieberhaft im Internet nach „Zeitlöchern“, „Zeitschleifen“ und ähnlichen Ausdrücken gesucht, war aber mit der Suche nicht zufrieden. Fragen konnte er auch niemandem, denn dann müsste er von ihrem Abenteuer erzählen.

Paula und Robert erlebten immer wieder in Gedanken diesen Höhlenbesuch. Sie waren nicht nur in der Schule beisammen, sondern auch jede mögliche freie Minute.

Paula hatte schnell alle Fakten beisammen, um ihre Projektarbeit beenden zu können. Sie wusste, dass die bis zu 60 cm hoch werdende und dunkel blau-blühende Pflanze, der Salbei, bereits im Altertum und im Mittelalter als Heilpflanze genutzt wurde. Man konnte mit dem Salbei Halsschmerzen, Entzündungen der Mund- und Rachenschleimhaut und Verdauungsbeschwerden heilen. Und selbst bei rheumatischen Schmerzen und Bronchitis wurde die Heilpflanzen angewendet. So wusste sie, dass eine Heilpflanze viel Geld wert war, wenn man sich auf die Kräuterkunde verstand. Auch las sie über diese „Freiheit“ nach und fand heraus, dass dieses Stückchen Erde niemandem gehörte und dass hier jeder - auch ein Dieb und ein Mörder, für 48 Stunden frei war. Erst danach wurden er der Gerichtsbarkeit übergeben und das war der adlige Grundherr oder ein von ihm eingesetzter Richter. So verstand sie diese Sage vom Wildweibchenstein, und da sie sich mit dem Mittelalter beschäftigte, wusste sie auch, dass es damals gar nicht so selten war, dass arme Menschen ohne Land und ohne Einkommen in Höhlen mitten im Wald lebten.

So schrieb sie ihre Arbeit, aber sie schrieb die Worte lustlos. Sie war auch nicht im Gegensatz zu ihrer Lehrerin erstaunt, dass sie dafür nur ein „gerade noch befriedigend“ erhielt.

Auch Robert beschäftigte sich mit dem Wildweibchenstein. Er ging der Frage nach: „Wieso kamen sie in eine andere Zeit?“

Eine plausible Erklärung fand er dafür nicht. Der einzige Anhaltungspunkt für ihn war, dass sie in der kürzesten Nacht eines Jahres, in der Nacht vom 20. zum 21. Juni – in der Zeit der Sommersonnenwende, die Höhle betreten konnten.

Oft waren Paula und Robert am Wildweibchenstein, aber immer war der Eingang zur Höhle für einen Menschen zum Hindurchschlüpfen viel zu klein. Und noch einmal gingen sie zehn Jahre später an einem Abend, am 20. Juni, zum Wildweibchenstein. Es war der Tag ihrer Hochzeit. Gefeiert wurde in der Gaststätte „Zur Freiheit“ und als das Abendrot die Nacht ankündigte, liefen sie zu ihrer Hochzeitsnacht zum Wildweibchenstein. Ob sie Einlass gefunden haben?