Geschichten für Kinder

Die Unterirdischen

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von Joachim Größer (2005)

 

„Schmidt!”, hörte Fred des Lehrers laute und befehlende Stimme. „Schmidt! Löse die Gleichung!”

Aua, ertappt! Fred Schmidt, im Allgemeinen nur Schmidtchen genannt, lief rot an. Er erhob sich und bewegte sich in „Zeitlupe” zur Tafel. Er spürte die mitleidigen, hämischen oder auch nur verständnislosen Blicke seiner Mitschüler. An der Tafel stand er und wusste natürlich nichts. Wie auch, hatte er doch seit mindestens 15 Minuten in einem alten Heftchen zur Heimatgeschichte seines Heimatstädtchen Mucha gelesen. Einen Artikel las er sogar zweimal. War hier doch die Rede von einem unterirdischen Gang, der bereits im Jahre 1356 angelegt wurde, sieben bis acht Kilometer lang sein sollte und von einem verschütteten Keller des Rathauses erreicht werden konnte. So jedenfalls hatte der Autor dieses Artikels vor mehr als 60 Jahren seine Behauptungen niedergeschrieben. Und das war doch natürlich viel interessanter als diese trockene Mathe.

„Na, Schmidtchen?!” Dieser Ton gefiel Fred schon besser. Er hoffte, mit einer Verwarnung davonzukommen. Aber die ausgesprochene Verwarnung war äußerst unangenehm: eine Stunde Nachhole-Unterricht in der Parallelklasse. Hei - gerade in der Parallelklasse! Saß doch hier seine Angebetete mit Namen Susi. Eigentlich hieß sie ja Susanne Müller. Aber so, wie er nur unter dem Namen Schmidtchen bekannt war, so hieß das gleichaltrige und wirklich sympathische Mädchen nur Susi.

„Kann ich vielleicht extra Hausaufgaben bekommen, Herr Schnicker?”, fragte Fred schüchtern.

„Ich glaube Schmidtchen, der Unterricht in der 8b wird dir besser bekommen. Aber erst einmal bekomme ich das Heftchen von dir. Schließlich will ich auch wissen, was wichtiger als die ‚Königin der Wissenschaften’ ist.”

Wohl oder übel übergab Fred seinem Mathe-Lehrer die Broschüre. „Es ist der Artikel auf Seite 27.” Fred begab sich auf seinen Platz. Er konnte es sich nicht verkneifen, dem Hans eine Kopfnuss zu verabreichen. Hatte der doch verständlich für alle gesäuselt: „Da wird sich aber die kleine Susi freuen!”

Die sechste Stunde saß er statt am Mittagstisch in der 8b. Johlend wurde er begrüßt. Mäxchen aus seiner Straße packte feixend seine Sachen zusammen. „Hier ist dein Platz, Schmidtchen”, kommentierte er seinen Umzug. Fred flüsterte ihm zu: „Danke, hast was bei mir gut!”

Er packte seine Mathematikutensilien aus der Tasche, ohne dabei seine Nachbarin, Susanne Müller, eines Blickes zu würdigen. Diese saß mit hochrotem Kopf und tat so, als wäre Fred Luft.

Noch einmal wurde Fred verlegen. Herr Schnicker begrüßte ihn nämlich als zukünftigen Heimatforscher, der allerdings seine ersten großen Entdeckungen ausgerechnet im Mathematikunterricht mit wenig Erfolg starten wollte. Als Hilfe für diesen zukünftigen Entdecker formulierte Herr Schnicker eine Sachaufgabe, die es in sich hatte. Nun durfte die 8b sich mit der Berechnung von Höhlengängen, möglichen Schuttmengen bei Freilegung von Gängen und deren Abtransport auf LKWs auseinandersetzen. Herr Schnicker formulierte dann freundlich lächelnd: „Sollte der Aushilfsschüler Schmidtchen die Aufgabe auch lösen, darf er seinem Forscherdrang ungehindert nachgeben.”

Nun saß er da, der Fred Schmidt, seine Ohren glühten und er verfluchte dieses Heimatheftchen. Allerdings schwankten seine Gefühle bezogen auf das Heft, als ihn nämlich seine angebetete Susi zuflüsterte: „Willst du wirklich einen unterirdischen Gang erforschen?”

Natürlich wollte er, schon um Susi zu beweisen, dass er ein richtiger Draufgänger war. Also nickte er. Und wieder flüsterte Susi: „Würdest du mich mitnehmen?”

Mit strahlenden Augen verkündete Fred, fast zu laut für seinen Mathelehrer: „Ja, mach ich!”

Zum Glück brachte ihm der Zuruf nur ein Hochblicken des Lehrers ein. Sich auf seine nicht herausragenden Kenntnisse der „Königin der Wissenschaften” besinnend, flüsterte er jetzt Susi zu: „Kannst du mir bei der Aufgabe helfen? Ich komme nicht weiter.”

Susi schob ihm ihr Heft zu und Fred übernahm schnell und unbemerkt vom Lehrer ihre Lösung. Mit großer Erleichterung stellte er dann beim Vergleichen fest, dass Susi wirklich prima rechnen konnte. Nur er musste jetzt an der Tafel der 8b seinen Lösungsweg vorrechnen. Er schlug sich recht wacker, denn Herr Schnicker quetschte wohlwollend heraus: „Na ja, so wäre das schon ein richtiger Weg, Schmidtchen. Bist entlassen!”

Hastig packte er seine Mathe-Sachen in die Tasche und flüsterte Susi zu: „Um drei Uhr am Rathaus.”

Bereits 15 Minuten vor drei Uhr stand Fred vor dem altehrwürdigen Rathaus. Dieses alte Gemäuer war der Stolz der Einwohner. Viele Sagen rankten um die beiden Köpfe, die steinern seit mehr als 700 Jahren auf die Einheimischen und die zahlreichen Besucher blickten. Von Pesttod, Raub und Mord, von Brandschatzung und Bierkrieg wusste der alte Stadtführer zu berichten. Dann zeigte er auf die beiden Köpfe und betonte immer, dass alles, was er erzählte, auch wahr sei, denn sonst würden die Steinköpfe zum Leben erwachen. So war es auch heute. Er versammelte seine Gäste wie immer unter diesen beiden Köpfen und eine kleine Touristengruppe hörte nun die Sagen, die sich mit dem alten Rathaus beschäftigten.

Fred stand an der Seite und lauschte den Erzählungen. Susi hatte sich zu ihm gestellt und so hörte sie auch die Legende vom unterirdischen Gang. Als der Stadtführer seine Gäste verabschiedet hatte, wandte er sich den beiden Kindern zu: „Nach euren Gesichtern zu urteilen habt ihr doch eine Frage, oder?”

Schnell erwiderte Fred, dass er ein altes Heimatheftchen gelesen habe und dass dort der Verfasser sich sehr sicher sei, dass es diesen unterirdischen Gang wirklich gäbe.

Zur Freude der beiden bestätigte der Stadtführer diese Meinung. „Wenn es euch so interessiert, kann ich euch den Beginn des Ganges zeigen. Wollt ihr?”

Natürlich wollten sie! Der Stadtführer, sein Name war sinnigerweise Herr Gang, schlurfte voraus. Alt war er, sehr alt und müde war sein Schritt. Fred und Susi erfuhren auf dem kurzen Weg zum Rathausturm, dass dieser Artikel in dem alten Heimatheftchen von ihm stammte. In all den vielen Jahren hatte er versucht, die Bürgermeister und die Stadtväter für eine gezielte Grabung zu begeistern. Aber entweder wollte man ihm nicht glauben oder man sagte einfach „Dafür haben wir nicht das Geld!”

Vor einer alten Tür, Herr Gang meinte, dass sie wohl fast so alt wie das Rathaus sei, blieb er stehen. Er zückte einen Schlüssel, so groß und so schwer, wie Fred und Susi noch nie einen Schlüssel gesehen hatten.

„Für diese Tür gibt es wahrscheinlich nur diesen Schlüssel. Alle glauben, dass dahinter nur ein kleiner Keller sei. Ich weiß es besser.” Herr Gang schloss die Tür auf. Zum Erstaunen der Kinder war kein Quietschen, überhaupt kein Geräusch zu hören. Hastig verschloss Herr Gang die Tür wieder. „Ihr seid die Einzigen, die jetzt mein Geheimnis erfahren dürfen. Es wird wohl mein letzter Besuch in diesem Gang sein. Passt gut auf, ihr sollt mich beerben.”

Verdattert hörten Fred und Susi dem Alten zu. Der hatte zuerst eine Taschenlampe zur Beleuchtung benutzt und dann entzündete er alte Kienfackeln, die an den Wänden in unregelmäßigen Abständen in geschmiedeten eisernen Wandhaken steckten. Bestimmt waren sie schon 50 Meter gelaufen, als der Gang sich verzweigte.

„Es ist immer wieder eigenartig mit diesem Gang”, murmelte der alte Stadtführer. Susi hatte ihn verstanden und fragte deswegen nach. „Na ja”, bekam sie und Fred zur Antwort, „die Fackeln brennen nie ab. Egal wie oft ich hier unten bin, und ich war oft hier unten, immer sind sie erneuert. Ihr seid die Ersten, denen ich das erzähle und zeige. Ihr seid auch die Ersten, die sich seit 50 Jahren für diese alte Sage interessieren. Es ist wirklich eigenartig mit diesem uralten Gewölbe.”

Der Alte war weitergeschlurft. Susi fasste erschrocken über diese fantastische Geschichte Freds Hand. So folgten sie dem Alten Hand in Hand. Nach etwa mehreren Hunderten Metern standen sie wieder vor einer Wegegabelung. Jetzt sahen sie, dass dieser abzweigende Gang mit Gesteinsmaterial verfüllt war.

„So sah es vor 60 Jahren überall aus. Tag für Tag wird aber der Hauptgang länger. Jeden Tag wächst er, mal mehr - mal weniger. Ständig wird an der Freilegung gearbeitet, aber nie habe ich hier unten einen Menschen erblickt, nur gehört habe ich sie.”

„Sie haben wen gehört?”, fragte Fred erschrocken.

„Die Menschen, die diesen Gang freilegen”, antwortete der Alte. „Ich weiß, es sind Menschen, aber ich kann sie nicht sehen! Vielleicht zeigen sie sich euch?”

Susi krallte jetzt ihre Fingernägel in Freds Hand. „Komm, gehen wir zurück. Mir wird es unheimlich”, flüsterte sie. Aber der alte Stadtführer hatte ihr Flüstern verstanden. „Das geht leider noch nicht, mein kleines Fräulein. Erst wenn wir das Ende des Ganges erreicht haben, können wir umkehren.”

„Aber wieso?”, fragte jetzt Fred. „Es kann uns doch keiner festhalten?!”

„Probiert es doch!” Fast klang dies wie Hohn. Nur der gütige Blick des Alten ließ das Vertrauen der beiden Kinder zum Stadtführer nicht schwinden.

„Komm, wir gehen zurück!” Forsch sprach dies Fred aus und zog Susi an der Hand. Doch weiter als einen Meter, vielleicht waren es auch zwei, konnte er sich nicht bewegen. Eine unsichtbare Kraft hielt ihn auf. So sehr er sich auch gegen diese unsichtbare Wand stemmte, keinen Fuß vorwärts bekam er. Kreidebleich murmelte er: „Wir sind gefangen.”

„Nein, nein”, antwortete ihm der Stadtführer. „Ich sagte doch, haben wir das Ende des Ganges erreicht, ist der Rückweg wieder offen.”

Susi sagte nichts dazu. Dafür schrien ihre Augen die Angst hinaus. So sehr hatte sie sich in Freds Hand gekrallt, dass das Blut scheinbar aus den Händen gewichen war.

„Jetzt sind sie zu hören!” Der Alte hielt seine leicht geöffnete Hand als Schallverstärker hinter das Ohr. „Hört ihr sie auch?”

Aber Fred und auch Susi schüttelten nur den Kopf.

„Konzentriert euch!”, bat der Alte. „Konzentriert euch! Zuerst ist es ein Stimmengewirr, nichts ist zu verstehen. Dann hört man einzelne Worte, manchmal auch ganze Sätze. Probiert es und konzentriert euch auf das Hören.”

Nun standen Fred und Susi, hielten ihre Hände, so wie der Alte, als Schallverstärker hinter den Ohren und lauschten.

„Ich höre etwas”, murmelte Susi. „Es klingt wie Pferdegetrappel. Jetzt wird es lauter. Stimmen sind nun auch zu unterscheiden.”

„Ich höre nichts.” Enttäuscht klang Freds Stimme. Aber bevor Susi dazu sich äußern konnte, fragte sie der alte Herr Gang: „Hast du wirklich Pferdegetrappel gehört? Wirklich?” Ungläubig schaute er, als Susi dies nickend bestätigte.

„Ich glaube, du wirst sie sehen. Bestimmt wirst du sie sehen!” Nach einer Pause fügte er scheinbar belanglos hinzu: „Die Unterirdischen zeigen sich nur dem, der die Pferde hört. So steht es in der alten Chronik.”

Susi hatte ihre Angst vergessen. Viel zu neugierig war sie jetzt. Sie war eine Auserwählte, denn weder der alte Stadtführer noch Fred hörten die Pferde. Sie bat Herrn Gang, mehr von diesen Unterirdischen zu erzählen. Und während sie langsam weitergingen, hörten sie ihrem Führer zu.

„In der Chronik steht, dass im Jahre 1356 die Stadt belagert wurde. Der Graf von Quifte wollte die Freie Stadt Mucha unter seine Herrschaft zwingen. Da die Stadt aber sehr gut befestigt war und ihre Bürger lieber tot als unter der Herrschaft des Grafen sein wollten, zog der Graf mit seinen Söldnern unverrichteter Dinge ab. Nun wollte er die Stadt mit List erobern. So befahl er, dass die hörigen Bauern aus der gesamten Umgebung einen unterirdischen Gang bauen mussten. Um das Geheimnis um den Gang zu wahren, ließ der Graf das Gerücht verbreiten, dass er zukünftig seine Geldsäcke mit edlen Metallen füllen werde und nicht auf das prall gefüllte Stadtsäckel der Stadt Mucha angewiesen wäre. Fast alle Stadtbewohner glaubten diesen Erzählungen. Nur wenige meinten, dass doch noch nie in diesem Gestein Gold oder Silber gefunden wurde, und sie empfahlen ihren Mitbürgern besondere Vorsicht. Schließlich sei der Graf nicht nur als grausamer Tyrann bekannt, sondern auch als listenreicher und hartnäckiger Adliger. Mehrere Jahre gruben die Bauern den Gang. Als der in gräflichen Diensten stehende Bergknappe Jost dem Grafen die Mitteilung machte, dass man auf von Menschen gefügtes Mauerwerk gestoßen sei, ließ der Graf die Bauern, die diese Mauern gesehen hatten, töten. Der Bergknappe öffnete mit einigen Söldnern den Gang zur Oberfläche und zur Freude des Grafen stellten sie fest, dass sie im Rathaus das Licht des Tages erblickten. Schnell wurde der Gang verschlossen. Als Dank für seine Dienste wurde der Bergknappe als Wissender - so wie zuvor die Bauern - erstochen. Der Graf und seine Söldner begaben sich zum Herrschaftssitz.

Der Bergknappe, als Toter im Gang zurückgelassen, verdankte es seiner starken Natur, dass er den Messerstich in die Brust überlebte. Mühsam öffnete er das verschlossene Mauerwerk und durch glückliche Fügung wurden seine Hilfeschreie gehört. Besinnungslos fiel er dem Ratsdiener in die Arme. Dank der ärztlichen Kunst des Stadtmedikus erholte sich Jost, der Bergknappe, schnell. Das, was er dann berichtete, versetzte den Bürgermeister und den Stadtrat in Angst und Schrecken.

Der Stadtherold verkündete in allen Gassen und Plätzen, dass der Feind in die Stadt einfallen wolle und alle Bürger von Mucha strömten zu ihren Stellplätzen, um sich dem Kampfe mit dem Grafenheer zu stellen. Jede Handwerkszunft, jede Kaufmannsgilde besetzte Mauern oder Türme. Doch wie verwundert waren die Bürger, dass sie weit und breit keinen Feind sahen. Erst als ihre Anführer aus der Sitzung des Stadtrates zu ihnen kamen und sie hörten, mit welcher List der Graf von Quifte ihre Stadt erobern wollte, ertönte es von den Mauern und Türmen: ‚Nie! Niemals! Niemals wirst du, Graf von Quifte uns bezwingen! Nie!’ Doch der Graf hörte diese Schreie nicht, denn er befand sich bereits mit seinem Söldnerheer im unterirdischen Gang.

Der Bürgermeister indes beriet sich mit dem Stadthauptmann. Da sie aber keinen Einfall hatten, um die Gefahr aus dem Untergrund zu bekämpfen, eilten sie zum Bergknappen und fragten ihn um Rat.

‚Bringt den Gang zum Einsturz!’, flüsterte er. Kaum war er zu verstehen, aber der Hass auf den Grafen gab ihm neue Kraft. ‚Nehmt eure Wurfmaschinen und zertrümmert von oben das Gestein über dem Gang. Bringt mich auf den Turm und ich zeige euch den Verlauf des Ganges!’

Und so geschah es. Jost, der Bergknappe, dirigierte vom Turm aus die Richtung der Geschosse. Als die Wurfsteine zur Neige gingen, rief Jost: ‚Jagt mit den Pferden diesen Weg entlang! An vielen Stellen verläuft der Gang nahe der Oberfläche. Wir bringen ihn zum Einsturz!’

Auch dieser Rat wurde befolgt. Nachdem wohl hundert Reiter mehrmals den scheinbaren Weg entlang ritten und das in einem solchem Tempo, dass das Pferdegetrappel schon in ein mächtiges Dröhnen überging, erschütterte ein Erdbeben die Stadt, ohne selbst Schaden in derselben anzurichten. Dafür tat sich am Horizont eine Senke auf, die es vorher nicht gegeben hatte.

Mühsam erhob sich Jost auf dem Turm und schrie mit übermenschlicher Kraft: ‚Verflucht sollst du sein, Graf von Quifte! Du und all deine Schergen! Grabt nun selbst euren Gang, Tag für Tag, Jahr für Jahr! Das Gedröhn von Tausend Pferdefüßen soll euch dabei in den Ohren klingen! Erlöst sollt ihr erst dann werden, wenn sich eine barmherzige Jungfrau euer erbarmt!’

Und aus vielen Hunderten Kehlen schallte es von den Türmen und den Mauern: ‚Verflucht sollst du sein, Graf von Quifte!’ Vom Grafen und seinen Söldnern hatte man niemals wieder etwas gehört. Aber die Erdsenke gibt es noch heute. Sie füllte sich mit Wasser und wurde früher als Fischteich genutzt, heute ist es der Gondelteich. Die großen Steine, die als Wurfgeschosse dienten, zeigen noch heute in unserem Stadtwald die Richtung des unterirdischen Ganges an.”

Der Stadtführer beendete seinen Bericht. Schon lange hatten sie das Ende des Ganges erreicht. Fred und Susi hatten dem Stadtführer fast atemlos zugehört. Das, was er ihnen erzählte, hatten sie noch nie gehört oder gelesen. In keinem Buch, auch nicht im Sagen- oder Heimatbuch, war diese Geschichte gedruckt.

Fred fragte schüchtern: „Ist Susi die barmherzige Jungfrau?”

„Das glaube ich”, antwortete ihm der Alte. „Sie hat die Pferde gehört, sie ist es!”

„Ich habe Angst”, flüsterte jetzt Susi. „Gehen wir zurück, bitte!”

„Gehen wir”, sagte der Stadtführer, aber wieder hielt sie eine unsichtbare Kraft fest. Dafür tat sich scheinbar die Wand auf und nicht nur Susi, auch Fred und der Alte erblickten mehrere Männer in einer mittelalterlichen Tracht gekleidet, mit bloßen Händen im Gestein grabend. Fürchterlich sahen sie aus. Bleich die Gesichter, ihre Hände voller Blut und der hohle Blick ihrer Augen ließ die drei Menschen erschaudern.

Einer, besonders gut gekleidet, hielt seine blutenden Hände Susi entgegen und hauchte: „Erbarmen, Jungfrau! Erbarmen! Gebt mir und meinen Gesellen kühles Wasser! Seid barmherzig!”

Erschrocken und völlig verwirrt rannte Susi davon. Keine unsichtbare Kraft hielt sie mehr auf. Erst am Ende des Ganges verweilte sie atemlos. „Raus, nur raus!”, schrie sie ängstlich, als ebenso atemlos Fred sie erreichte. Doch sie mussten auf den Stadtführer warten. Die Tür war verschlossen, den Schlüssel hatte der Alte.

Als nach längerer Zeit des Wartens der Stadtführer Herr Gang bei ihnen eintraf, sagte er zu den beiden: „Das war mein letzter Besuch hier unten. Nehmt ihr jetzt den Schlüssel und dieses Dokument.”

Er schloss die Tür auf, überreichte Susi den Schlüssel, und Fred übergab er eine Pergamentrolle. „Das ist die Chronik. Sie befand sich seit 600 Jahren in unserer Familie. Mein Urahn war der Bergknappe Jost. Da meine Ehe kinderlos blieb, übergebe ich sie euch als meine Erben.”

Ehe die beiden Kinder etwas sagen konnten, verließ er den Gang. „Wir werden uns wohl nicht mehr sehen”, sagte er, sich noch einmal zu den beiden wendend. „Ich fühle es, dass meine Zeit zu Ende geht.”

So verließ er Susi und Fred. Schlüssel und Pergament hatte er seinen selbst gewählten Erben hinterlassen. Doch diese Erben fühlten sich überhaupt nicht wohl in dieser Rolle.

„Fred, was machen wir jetzt?”, fragte Susi ihren Freund ratlos anstarrend.

„Erst einmal schließen wir den Gang ab und dann sehen wir weiter.” Fred hatte zuerst wieder zu sich selbst gefunden.

Vor dem Rathaus übergab Susi Fred den Schlüssel. „Behalt ihn oder wirf ihn weg. Ich will damit nichts mehr zu tun haben.” Und so schnell sie rennen konnte, verschwand sie in Richtung Wohnung, einen sehr ratlosen Fred zurücklassend.

In den nächsten Tagen ging Susi dem Fred aus dem Wege. Erst als Fred ihr eine Todesanzeige im „Heimatboten” zeigte und sie las, dass der langjährige Stadtführer und bekannte Heimatforscher Jost Gang gestorben sei, sprachen sie wieder miteinander.

„Hast du noch den Schlüssel?”, fragte Susi. Als Fred nickte, sagte Susi zu Freds Verwunderung: „Ich muss in den unterirdischen Gang! Ich muss!”

Da Fred jetzt nachfragte, warum es zu diesem Sinneswandel gekommen sei, berichtete Susi, dass sie seit diesem Besuch im unterirdischen Gang keine Nacht mehr ohne Angstträume schlafen könne. Sie sehe den Grafen mit seinen Gesellen im Geröll graben, sehe ihre blutigen Hände, die sich ihr entgegenstrecken, und sie höre den Grafen flüstern: „Erbarmen, Jungfrau! Erbarmen! Gebt mir und meinen Gesellen kühles Wasser! Seid barmherzig!”

Sie verabredeten sich für den Abend. Unbemerkt konnten sie die uralte Tür aufschließen. Fred trug einen vollen Wasserkanister, Susi hatte mehrere Becher in ihrer Hand. Heute war es Susi, die sehr forsch den Weg entlangschritt. Die Fackeln wurden entzündet und auch jetzt war es so, wie es der Stadtführer berichtet hatte: Sie brannten nie ab.

„Ich höre die Pferde!” schrie Susi und rannte weiter in den Gang. Fred schleppte keuchend den schweren Wasserkanister hinterher. Am Ende des Ganges erwartete ihn Susi. Schnaufend fragte er: „Und nun? Was jetzt? Wo ist der Graf?”

„In meinen Träumen muss ich nur durch die Wand gehen”, antwortete ihm Susi. Und das tat sie dann auch sogleich. Die Wand verschwand und vor Susi stand der Graf von Quifte und bat: „Erbarmen, Jungfrau! Erbarmen! Gebt mir und meinen Gesellen kühles Wasser! Seid barmherzig!”

Fred goss kühles, sauberes Wasser in die Becher, die Susi sogleich dem Grafen und seinen Söldnern reichte. Dabei streiften ihre Hände mehrmals die Hände der Verschütteten und sie erschauderte. Jetzt wusste sie, wie sich der Tod anfühlt.

Jeder der Toten hatte einen vollen Becher des kühlen Wassers erhalten - jeder hatte es getrunken. Ein Hauch ging durch den Gang. Fred schwor hinterher, dass er „Danke!” gehört hätte. Der Graf und seine Gesellen wurden vor den Augen der beiden zu Stein. Sie wurden zu dem Gestein, das sie seit 600 Jahren mit ihren blutigen Händen ausgruben.

Erstarrt standen Susi und Fred und beobachteten die Verwandlung. Erst ein dumpfes Grollen löste ihre Erstarrung. Fred nahm Susis Hand und zog sie zu sich. Dann rannten beide den Weg zurück. Kaum hatten sie die Tür erreicht, als der gesamte unterirdische Gang mit Steinen verfüllt war. Sie schlugen die Tür hastig zu und Fred verschloss sie.

„Wirf den Schlüssel weg”, bat Susi. Doch Fred erklärte: „Ich habe eine bessere Idee. Herr Gang wollte doch immer, dass der unterirdische Gang ausgegraben wird. Vielleicht können die Chronik und der Schlüssel doch noch Herrn Gangs Wunsch erfüllen. Morgen gehen wir zum Bürgermeister.“

Aber diesen Weg konnten sich die beiden ersparen. Sie nahmen an der Beerdigung des alten Stadtführers teil und unter den wenigen Trauergästen erkannte Fred den Bürgermeister.

Fred nahm Susi an die Hand und zog sie mit. Vor dem Bürgermeister erklärte Fred: „Herr Bürgermeister, der Stadtführer hat uns gebeten, Ihnen dieses Dokument und diesen Schlüssel nach seinem Tode zu übergeben. Mit diesem Schlüssel öffnen Sie die Tür zum unterirdischen Gang!”

Er übergab dem verdutzten Bürgermeister die Chronik und Susi drückte ihm beherzt den Schlüssel in die Hand. Und beide enteilten, froh Chronik und Schlüssel los zu sein.

In der nächsten Ausgabe des „Heimatboten” konnte man lesen:

„Auf etwas kuriose Art ist ein einzigartiges Dokument unserer Stadtgeschichte dem Bürgermeister übergeben worden. Eine Pergamentrolle enthält die Geschichte der Fehde zwischen den Stadtbewohnern und dem Grafen von Quifte, wie sie sich vor 600 Jahren zugetragen haben soll. Die Chronik belegt, dass die Sage vom unterirdischen Gang wahr sein könnte. Der vor Kurzem verstorbene Stadtführer, Herr Gang, hatte zwei Kinder mit der Übergabe der Chronik, die sich in seinem Privatbesitz befunden haben musste, betraut. Auch übergaben die beiden unserem Bürgermeister den seit Jahren abhandengekommenen Schlüssel zum unterirdischen Gang. Die erste Besichtigung ergab Überraschendes: Es gibt diesen Gang wirklich. Entgegen der bisherigen Meinung, dass es sich nur um ein verschüttetes Kellergewölbe handele, ergab eine Untersuchung durch einen Fachmann, dass dieser Gang existiere. Der Bürgermeister will nun dem Stadtrat vorschlagen, diesen Gang wieder herzustellen. Da aber bekanntlich unser Stadtsäckel nicht prall gefüllt ist, fordert bereits jetzt unser Bürgermeister alle Bürger unserer kleinen Stadt Mucha auf, sich an den Grabungen zu beteiligen. Ob alt oder jung, jede Hand wird gebraucht, jede Spende wird dankbar angenommen ...”

Viele Bürger aus Mucha gruben in den folgenden Wochen und Monaten in ihrer Freizeit den verschütteten Gang aus. Nur Zwei weigerten sich hartnäckig, dieses unterirdische Gewölbe zu betreten.