Kinderseite Nr. 2: "Der Gaul" Teil I

"Der Gaul" Teil I

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von Joachim Größer (2007)

 

Endlich Ferien! Wie hatten die Brüder sie herbeigesehnt! Jetzt hatte man Ferien - die Reise mit den Eltern nach Schweden startete aber erst im August und nun?! In den ersten Ferientagen machten die Jungs alles das, was sie sich vorgenommen hatten: Die Kinderzimmer wurden neu gestaltet, die Fahrräder aufgemotzt, das dickste Lieblingsbuch gelesen.

„Was machen wir morgen?“, fragte Martin seinen älteren Bruder Anton. „Was du morgen machst, weiß ich nicht“, bekam er zur Antwort. „Ich habe mich mit Yannik verabredet.“

„Und was wollt ihr machen?“ Martin ließ nicht locker. Und er erhielt eine Antwort, die er schon zur Genüge gehört hatte: „Etwas, was nichts für kleine Kinder ist!“ Anton grinste übers ganze Gesicht. Martin wusste, dass weiteres Fragen nutzlos war. Doch eine Stunde später, Antons Freund Yannik hatte inzwischen angerufen, fragte ihn Anton: „Hast du Lust auf eine größere Fahrradtour?“

Na klar hatte Martin Lust. „Wo geht es hin?“ Martin stand mit leuchtenden Augen vor seinem Bruder.

„Waldnerturm und zum Gaul“, erwidere Anton gleichmütig.

„Wenn Yannik auch mitfährt, könnte doch auch mein Freund Lucas mitkommen?“

„Yannik kann morgen nicht und ich fahre nicht mit zwei kleinen Kindern. Bin doch kein Kindermädchen!“, knurrte Anton.

„War ja nur `ne Frage“, lenkte Martin ein. „Wollen wir dann auch den Mountainbike-Weg fahren?“

„Schaffst du den denn?“ Anton feixte. Er wusste, was jetzt kommt und Martin enttäuschte ihn nicht. „Den bin ich schon mit 8 Jahren runter- und hochgefahren!“, fauchte Martin wütend. „Und du selbst warst dabei! Und weißt du auch, wer von uns beiden dort hingefallen war?!“

Anton lachte. „Hat mal wieder geklappt, Brüderchen! Bist hochgegangen, wie eine Rakete!“

Martin winkte verärgert ab und ging in den Keller, um sein Fahrrad zu überprüfen. Mehr als über seinen Bruder, ärgerte er sich über sich. Immer wieder fiel er auf Antons Sticheleien rein.

Es dauerte nicht lange und sein Ärger wich der Freude auf eine Radtour, die nach seinem Geschmack war.

Der nächste Tag zeigte sich von seiner besten Seite - jedenfalls, was das Wetter betraf. Nur blauer Himmel, kein Wind und Temperaturen um 25 Grad, so versprach es der Radionachrichtensprecher. Die Brüder hatten Essen und Trinken für den ganzen Tag eingepackt, die Ermahnungen ihrer Mutter, die sich aufgrund der Kürze der Zeit, in Grenzen hielten, hatten sie bereits mit dem Besteigen der Fahrräder vergessen. Sie hatten sich geeinigt, zuerst zum Gaul zu fahren. Dann wollten sie den Mountainbike-Weg hinunter zum Waldnerturm.

Als die Brüder verschwitzt ihr erstes Ziel, den Gaul, erreicht hatten, legten sie eine Verschnaufpause ein. Der Gaul war ein steinerner Zeuge der Geschichte. Vor 1200 Jahren, zur Zeit der Herrschaft Karl des Großen, wurde dieser markante Felsbrocken, der die Gestalt eines kräftigen Pferdes hatte, zur Festlegung einer Grenze benutzt.

Viele Sagen gibt es aus Antons und Martins Heimat. So auch eine über diesen Gaul. An die erinnerte sich Martin jetzt. „Ob ich mal dem Pferd auf den Hintern haue?“, fragte er lächelnd seinen Bruder. Anton wusste sofort, was Martin meinte, denn auch er kannte die Sagen.

„Mach es, aber denke daran: Dreimal mit der flachen Hand auf die linke Arschbacke geschlagen. Und kräftig musst du zuhauen.“ Anton feixte. Das kräftige Zuhauen war seine Erfindung. Wie oft hatte er schon auf ihren Ausflügen mit Eltern oder Großeltern den Gaul mit seiner Hand geschlagen, getätschelt, gestreichelt. Doch das, was die Sage versprach, nämlich, dass der Gaul zum lebendigen Pferd würde, trat nie ein.

Martin stellte seine Trinkflasche ab, kletterte auf den steinernen Gaul und haute ihm lachend seine flache Hand sehr kräftig dreimal auf das linke Hinterteil. Aber außer, dass das Klatschen zu hören war und dass anschließend Martin schmerzhaft seine geprellte Hand schüttelte, geschah nichts. Anton packte seine Flasche wieder in seinen kleinen Rucksack. „Los, Martin, fahren wir die Mountainbike-Tour“, sagte Anton und bestieg bereits sein Fahrrad. „Na warte doch!“, bat Martin und verstaute schnell seine Trinkflasche im Rucksack.

Plötzlich war Pferdegetrappel zu hören. „Warten wir, bis die Reiter vorbei sind?“, fragte Martin und Anton nickte zustimmend. Das Pferdegetrappel verstärkte sich und bald war der erste Reiter zu sehen. Doch wie war der gekleidet? Hatten die Jungs die Freizeitreiter erwartet, die sonst diesen Waldweg gerne für Ausflüge nutzten, so sahen sie jetzt Männer in prächtiger Kleidung aus längst vergangener Zeit. Sie wurden von Reitern in Kettenhemden, mit Schwertern, Schilden und Spießen versehen, begleitet. Als die kleine Reiterschar die Brüder erreichte, zügelte der erste Reiter sein Pferd. Er betrachtete die Jungs und ihre Fahrräder argwöhnisch. Dann sprach er die Brüder an, in einer Sprache, die die Jungs nicht kannten. So zuckte nur Anton verständnislos mit den Schultern. Nun schrie der Mann die Jungs an, doch die verstanden nicht, was er wollte. Martin antwortete ihm verschüchtert: „Wir verstehen Sie nicht.“

Doch der Mann schrie weiter. Er winkte einem Gepanzerten zu sich und gab ihm Befehle. Das vermutete Anton, denn dieser Reiter näherte sich den beiden Jungs, nahm die Lanze und richtete sie auf die Brüder.

„Martin, wir müssen hier verschwinden. Ich glaube, hier stimmt was nicht. Wenn ich pfeife, hupst du mehrmals und dann nichts wie weg!“

„Ist gut, Anton“, flüsterte Martin und griff zu seiner Hupe. Wie oft hatte Anton über diese „Spielzeughupe“ gelästert. Jetzt erfüllte sie hoffentlich ihren Zweck.

Es war ein günstiger Augenblick gekommen. Der Anführer erteilte wahrscheinlich Anweisungen, denn alle Reiter blickten zu ihm. Anton steckte beide Finger in den Mund und ein lauter, schriller Pfiff ertönte. Martin hupte so oft es ging. Die Wirkung dieser Geräusche war verblüffend: Die Pferde stiegen mit den Vorderbeinen in die Luft, schlugen nach hinten aus, bockten so, dass sich kein Reiter mehr auf seinem Pferd halten konnte.

„Los, Martin!“, schrie Anton und trat in die Pedalen. Martin schwang sich auf sein Rad, verfehlte vor Eifer die Pedalen und endlich, als er richtig im Sattel saß, preschte er Anton hinterher. Der wartete schon an der ersten Biegung. „Wir fahren den Mountainbike-Weg hinunter. Da kann kein Reiter hinterher!“, schrie er Martin zu. Der antwortete gar nicht, sondern fuhr an Anton vorbei und bog 50 Meter weiter in die Schlucht, die die Jungs ihren Mountainbike-Weg nannten. Eng war der Weg und steil. Aber das Besondere war, dass viele große und kleine Felsbrocken den gesamten Weg bedeckten. Man musste um sie herumfahren oder versuchen, über kleinere Steine zu springen.

Doch eigenartig, ihr Mountainbike-Weg war einfach zu befahren. Zwar lagen noch einzelne größere Steine, doch die konnte man in der jetzt breiten Schlucht gut umfahren. So schoss Martin den Weg hinunter. Anton folgte ihm, konnte ihn aber nicht erreichen.

Am Ende des Weges bremste Martin so stark, dass Anton Mühe hatte, sein Rad hinter ihm zum Stehen zu bringen. „Bist du verrückt!“, schrie er wütend Martin an. Doch der antwortete nicht, sondern zeigte hinüber zum Waldnerturm. Dass, was die Jungs jetzt sahen, erstaunte sie ungeheuer. Ihr Turm sah plötzlich ganz anders aus. Auch sah man auf ihm Männer, die Helm und Kettenhemd trugen. Auf den Wiesen, es gab bedeutend weniger davon, fehlten die Zäune und auf dem Teil, der zum Naturschutzgebiet führte, sah man mehrere Zelte.

Anton schaute sich um. Normalerweise musste rechts von ihnen eine Schutzhütte sein. Doch auch die war verschwunden.

„Anton! Anton!“, flüsterte Martin aufgeregt. „Schau mal auf die Straße!“ Anton sah eine Reiterschar. Sie waren genauso ausgerüstet, wie die Reiter, vor denen sie geflohen waren. Sie kamen direkt auf die Jungs zu, sodass es Anton und Martin fürs Beste hielten, ihre Fahrräder und sich selbst im Gebüsch zu verstecken. Von dort aus beobachteten sie die Reiter weiter. Bald waren sie so nahe, dass die Jungs ihr Gespräch hören konnten. Sie hörten zwar jedes Wort, aber begreifen konnten sie diese Sprache nicht. Es war eine fremde Sprache!

„Was meinst du, Anton“, flüsterte Martin. „Wird hier ein Film gedreht?“

„Nee Martin“, antwortete Anton ihm genauso leise, „du siehst keine Kameraleute, keine Menschen, die so gekleidet sind wie wir. Die dort sind echt! Und mir ahnt etwas Fürchterliches!“

„Was denn, Anton?“ Martin war aufgeregt und auch ängstlich.

„Ich habe einmal einen Science-Fiction-Roman gelesen. In diesem Roman geriet eine Reisegruppe in eine andere Zeit. Was ist, wenn dein dreimaliges Klatschen auf den Gaul eine solche Zeitverschiebung ausgelöst hat?“

„Ich soll das gewesen sein?“ Martin starrte seinen Bruder mit aufgerissenen Augen an. „Aber so etwas gibt es doch gar nicht!“ Da Anton nicht antwortete, fügte er sehr erschrocken hinzu: „Oder doch?“

„Ich halte das auch für unmöglich, aber ...“ Weiter redete Anton nicht, denn die Reiter hielten jetzt ganz nahe. Tief hinein in das Gestrüpp duckten sich die Jungs. Wieder war Pferdegetrappel zu hören. Es war die Reitergruppe, vor denen sie geflohen waren, nur dass sie jetzt drei unbemannte Pferde mitführten. Die Reiter begrüßten sich. Die Brüder hörten zwar „egison zit daz hebit“ und „duruch uuachem triulicho“, aber verstehen konnten sie die Worte nicht. Ein Wort glaubte Anton übersetzen zu können, es hieß „unholdun“. Er zischte mehr, als dass er sprach: „Ich glaube, die reden von Unholden und meinen damit uns. Schau mal auf ihre Gesten.“

Ja, die Reiter mussten von den beiden Jungs erzählen! Jetzt hatte der Anführer das Wort ergriffen. Er schilderte, unterstützt mit eindeutigen Gesten, das Aussehen der Jungs, ihre Fahrräder und machte auch Martins Hupe nach. Sein schreiendes “Huuupppp! Huupppp!“ klang krächzend, verfehlte aber die Wirkung auf die Reiter und vor allem auf die Pferde nicht. Scheu tänzelten sie und eins kam dabei so dicht an das Versteck der Jungs, dass sie seinen Schwanz hätten berühren können. Von fern hörte man jetzt ein Hornsignal. Die Reiter setzten sich in Bewegung.

Als sie etwa 10 Meter entfernt waren, sagte Anton: „Mannomann, war das knapp! Wir machen, dass wir zurückkommen!“

Er hatte wohl zu laut gesprochen. Der letzte Reiter hielt an und rief dem Anführer etwas zu. In diesem Moment knackten es hinter den Brüdern. Drei Bewaffnete hatten sich den Jungs genähert und als Anton und Martin aufsprangen und nach ihren Rädern griffen, da stürzten sie sich auf sie. Anton wurde gleich von Zweien zu Boden gedrückt, Martin lag unter dem Dritten und konnte sich nicht mehr bewegen. Selbst das Atmen fiel ihm schwer. Der Soldat erhob sich, Martin japste nach Luft und dann schrie er wütend: „Du Idiot!“ Zu Martins Glück verstand der ja die Beleidigung nicht. Aber den Wutausbruch, den verstand er. Er zog das blanke Schwert und fuchtelte Martin vor dem Gesicht herum. Mit eindeutigen Gesten gab er ihm zu verstehen, dass er zur Straße gehen sollte. Als Martin nach seinem Fahrrad griff, hielt der Soldat wieder das blanke Schwert bedrohlich vor Martins Gesicht. Martin spürte jetzt keine Angst mehr, nur Wut – ohnmächtige Wut hatte er. Er schnauzte den Bewaffneten an, ließ ihn weiter mit seinem Schwert herumwedeln und holte sich trotzdem sein Fahrrad. Um eine Distanz zwischen sich und dem Bewaffneten zu bringen, betätigte er die Hupe. Die Wirkung trat sofort ein: Der Soldat wich zurück.

Anton wurde jetzt auch von seinen beiden Angreifern frei gelassen, konnte sein Fahrrad nehmen und ging zur Straße. „Gut gemacht, Martin!“, lobte er seinen jüngeren Bruder. Und Martin machte seinem Ärger Luft: „Dieser Riesenkerl legt sich doch mit seinem Panzer auf mich. Ich glaubte, ich muss ersticken. Mir tut jetzt noch der ganze Brustkasten weh.“

Auf der Straße, besser wäre zu sagen, auf dem Feldweg wurden sie sofort von den Reitern umringt. Eine Flucht, wie vorhin, war damit nicht mehr möglich.

Die Reiter betrachteten neugierig die Fahrräder, hielten aber einen gebührenden Abstand zu den Jungs. Einer, es war ein Junge in Antons Alter, näherte sich, um besser dieses für ihn komische, unbekannte Ding zu betrachten. Er stieg sogar vom Pferde und ging auf Anton zu. Zwei Schritt vor Anton betätigte Martin einmal sein Horn. Entsetzt sprang der Junge zurück. Auch er hielt jetzt einen gebührenden Sicherheitsabstand ein. Dann sprang er auf sein Pferd und begann ein Gespräch mit einem reich gekleideten Reiter. Wieder versuchte Anton, Worte zu deuten, aber er gab es bald auf. Zu Martin gewandt meinte er: „Wenn ich im Geschichts- und Deutschunterricht richtig aufgepasst habe, könnten die sich im Althochdeutschen, vielleicht auch im Mittelhochdeutschen unterhalten. Martin, wir sind wirklich richtig in der Ritterzeit gelandet. Die sind alle echt, nur wir passen hier nicht rein!“

„Weißt du, wie wir wieder in unsere Zeit kommen können?“, fragte Martin.

„Das Einzige, was mir einfällt, wäre: Zurück zum Gaul und nochmals dreimal auf sein Hinterteil geklatscht! Aber, ob das wieder eine Wirkung hat, Martin, das weiß ich doch auch nicht!“

„Hast du vielleicht eine Idee, wie wir abhauen können?“ Martin fühlte wieder in sich die Angst aufsteigen. Sein ganzes Sinnen und Trachten war nur auf ein Ziel gerichtet: zurück in die richtige Zeit, zurück nach Hause!

Anton, der genauso dachte wie sein Bruder, kehrte jetzt wieder den Älteren und den Beschützer heraus. „Es wird sich schon eine Gelegenheit ergeben! Verlass dich nur auf mich!“

Die Reiter kamen mit ihren Gefangenen zum Waldnerturm. Von dem Wachposten auf dem Turm wurde die Reiterschar mit einem kurzen Hornsignal angekündigt. Sofort eilten Menschen, es waren auch Frauen und Kinder dabei, zum freien Platz vor dem Turm. Die Ankommenden wurden von den Bewaffneten mit Waffengeklirr begrüßt. Natürlich wurden Anton und Martin begafft. Ihr Aussehen, angefangen von der Haarfrisur bis zur Kleidung, war den Menschen dieser Zeit völlig fremd. Auf dem Kopf trugen diese fremden Kinder eigenartige Helme, die löchrig und bunt waren. Und dann hielten die beiden Jungs noch solch komische bunte Geräte mit den Händen. Die Räder waren so fein gearbeitet, dass sie die besondere Aufmerksamkeit eines Schmiedes erregten. Der Schmied, unschwer an seiner Lederschürze und dem schweren Hammer zu erkennen, näherte sich bis auf einen Meter den Brüdern. Martin setzte sogleich sein erprobtes Mittel ein und hupte kräftig. Erschrocken sprang der Schmied zurück und eine Frau schrie: „Satanasz!“

Dieses Wort „Satanasz“ wurde von den Anwesenden mit Erschrecken aufgenommen. Die Mütter nahmen beschützend ihre kleinen Kinder auf die Arme. Der Kreis um Anton und Martin wurde gelockert. Keiner wagte sich mehr in die Nähe der Jungs.

„Hast du verstanden, wofür sie uns halten?“, fragte Anton seinen Bruder.

Der antwortete: „Könnte Satan heißen, oder?“

„Das nehme ich auch an. Vielleicht hilft es, wenn sie uns für Teufel halten, dass wir weniger zu befürchten haben.“ Das „oder auch nicht!“ behielt Anton lieber für sich.

Der Anführer der Ankommenden schickte jetzt den Jungen weg. Und der ritt, als wäre der Teufel hinter ihm her, davon. Es dauerte nicht lange und er kam in Begleitung eines sehr vornehmen Mannes zurück. Die farbenprächtige Kleidung dieses Mannes, er war etwa 40 Jahre alt, schien aus edlen Stoffen gefertigt. Goldene Schnallen schmückten das Gewand. Auch das kurze Schwert, das in einer mit Edelsteinen besetzten Scheide steckte, zeigte an: Hier kommt ein Herr! Und es musste ein sehr hoher Herr sein. Alle Anwesenden verbeugten sich je nach ihrem Range mehr oder weniger tief. Auch wurde sofort der Kreis geöffnet, sodass er mit seinem Schimmel bis zu den Jungs reiten konnte. Als es ersichtlich wurde, dass er direkt mit den Brüdern Kontakt aufnehmen wollte, schrien die Anwesenden und ganz besonders die Frauen: „Satanasz! Satanasz!“ Der Vornehme zügelte sein Pferd und zwang es, rückwärtszugehen. Er bekreuzigte sich genau wie alle Anwesenden mehrmals, um so diese Teufel zu bannen. Doch diese „Teufel“ dachten gar nicht daran, Teuflisches zu tun!

„Ob das der Oberste der Menschen ist?“, fragte Martin im Flüsterton.

„Das nehme ich auch an. Vielleicht ein Graf oder ein Fürst? Nach den Ringen, die er an den Fingern trägt, ist er garantiert schwer reich. Ich glaube, es ist ein Fürst.“

Dieser Oberste - wie ihn Martin bezeichnete – war sich seiner Stellung und der Macht, die er in seiner Person verkörperte, bewusst. Auch bestimmte er die weitere Entwicklung dieses sonderbaren Vorkommens. Mit befehlsgewohnter Stimme erteilte er Aufträge. So schickte er den Jungen, es musste sein Knappe sein, weg. Der jagte mit seinem Pferd davon. Dann rief er zwei Männer zu sich, die sich auch mit ihrer prächtigen Kleidung von den anderen Menschen unterschieden. Nach einem kurzen Gespräch befahlen diese beiden vornehmen Herren drei Bedienstete zu sich. Diese wiederum schrien laute Befehle. Sofort verließen die Frauen und Kinder den Kreis. Die Mehrzahl der Bewaffneten gingen in Richtung Wald und riefen Frauen und Kinder zu sich. Nur fünf Bewaffnete verblieben bei den Brüdern. Sie nahmen im Kreis Aufstellung und hielten ihre gespannten Armbrüste auf die Jungs gerichtet.

Jetzt wurde es nicht nur dem Martin mulmig, auch Anton zweifelte daran, dass sie lebend aus diesem Abenteuer herauskämen. Als sie dann sahen, dass Frauen und Kinder trockenes Holz aus dem Wald heranschleppten und damit einen riesigen Holzstapel errichteten, mussten sie annehmen, dass sie als Teufel im Feuer sterben müssten. Sie trauten nicht, sich zu bewegen. Es hätte ja sein können, einer der Armbrustschützen verlor die Nerven und drückte ab. Also standen sie mit ihren Rädern in der Sonne und hofften auf eine positive weitere Entwicklung.

War es eine Stunde, waren es anderthalb oder gar zwei Stunden, wie sie so ausharren mussten - sie wussten es hinterher nicht. Endlich tat sich etwas. Der mutmaßliche Knappe ritt gemächlich herbei. Hinter ihm ritt auf einem Esel ein dicklicher Mann, der mit einer Mönchskutte bekleidet war. In der einen Hand hielt er ein großes Kreuz, mit der anderen ließ er den Rosenkranz durch seine dicken Finger gleiten. Wahrscheinlich betete er, denn seine Lippen bewegten sich ständig. In sicherer Entfernung hielt er seinen Esel an. Er rief und sofort eilten zwei Bedienstete zu ihm und halfen ihm, vom Esel zu steigen. Jetzt liefen wieder alle, die Bewaffnete, Diener, Frauen und Kinder, zu den vermeintlichen Teufel. Auch der Fürst kam aus dem größten Zelt heraus und ging gemächlich, begleitet von seinem Knappen und den beiden vornehmen Herren, zu den Jungs. Der Mönch hatte inzwischen mehrfach die Brüder im gebührenden Abstand umrundet. Als der Fürst eintraf, begrüßte er ihn sehr freundlich. Der Fürst winkte und die Armbrustschützen verließen ihren Platz. Jetzt bestimmte der dicke Mönch die weitere Entwicklung. Er erhob das Kreuz und stimmte ein frommes Lied an. Die Menschen fielen auf die Knie und stimmten in den Gesang ein. Auch der Fürst und seine Edlen taten dies, jedoch sangen sie im Stehen. Es musste ein sehr frommes Lied sein, denn alle sangen es mit Inbrunst. Der Mönch verstummte. Die Knieenden blieben in dieser Haltung, jetzt knieten auch die Edlen und der Fürst. Sie beteten und sprachen die Worte des Mönches nach. Ihr Blick war gen Himmel gerichtet. Immer und immer wieder verstanden Anton und Martin das Wort „Satanasz“. Die Augen des Mönches begannen zu glänzen. Er hatte sich so in Rage gepredigt, dass Anton jetzt erwartete, er würde ausrufen: Werft sie ins Feuer, die Teufel!

Auf dem Höhepunkt der Predigt schrie Anton: „Wir sind keine Satanasz!“ Er ließ sein Fahrrad fallen und wehrte sehr deutlich mit beiden Händen ab. „Keine Satanasz! No Satanasz! Nix Satanasz!“ Einer Eingebung folgend rief er laut: „Wir sind Engel! Wir kommen vom Himmel!“ Und er zeigte wieder und wieder mit beiden Händen in den Himmel.

Waren es die eindeutigen Handbewegungen oder verstand der Mönch einige Worte von dem, was Anton rief? Dem Anton war das egal. Wichtig war nur, dass der Mönch erstaunt zu ihm schaute, den Blick zum Himmel richtete und dann sehr erstaunt fragte: „Gotes engil? Gotes engil?“

Anton nickte und rief: „Ja, ja! Gotes engil! Wir kommen vom Himmel! Wir sind Gottes Engel!“

Der Mönch erstarrte, warf sich in den Staub und schrie: „Gotes engil!“ Und die Bewaffneten, Frauen, Kinder und auch die Herren riefen: „Gotes engil!“ Wieder und wieder!

„Komm Martin“, flüsterte Anton, „wir heben den Dicken hoch. Vielleicht hilft uns diese Freundlichkeit.“

Martin ließ auch sein Fahrrad fallen und beide gingen zum Mönch, halfen ihm aufstehen und Martin versuchte, als der Mönch bereits kniete, eine Umarmung. Der war von dieser Geste so gerührt, dass ihm die Tränen in die Augen traten und an seinen runden Wangen herabkullerten. Auch Anton umarmte ihn jetzt. Und der Mönch weinte, blickte zum Himmel und rief: „Uiho fater, helfari eono sprehho, milter kepo, pi rehte uuasanti du pist der mahtigo nu in himili, fester stein!“

Jetzt kniete sich Anton hin und zog auch Martin hinunter. Er streckte die Hände gen Himmel und rief: „Uiho fater in himili!“ Und Martin stimmte ein, ebenfalls seine beiden Hände zum Himmel erhebend: „Uiho fater in himili!“

Anton hoffte nur, dass er die ihm bekannt vorkommenden Worte richtig übersetzt hatte. „Uiho fater“ übersetzte er mit „Unser Vater“ und „in himili“ konnte doch nur „im Himmel“ bedeuten.

Jetzt war die Gefahr, als Teufel verbrannt zu werden, gebannt. Die Menschen näherten sich den Jungs, die immer noch neben dem Mönch knieten. Sie erhoben sich und halfen dem Mönch auf die Beine. Auch der Fürst kam zu ihnen und sprach sie an. Aber jetzt verstand Anton wieder kein einziges Wort. Er erinnerte sich, dass er einmal lernen musste, dass auch Englisch wie das Deutsche zu den westgermanischen Sprachen gehört und demzufolge beide Sprachen miteinander verwandt seien. So sprach er den Fürsten auf Englisch an. Doch weder der Fürst noch ein anderer verstanden ihn. Der Junge in Antons Alter, der Knappe des Fürsten, kam jetzt zu ihnen. Er zeigte auf sich und sagte: „Gernot!“

Das war eindeutig. Anton zeigte auf sich und sprach: „Anton!“ Dann zeigte er auf Martin und der rief: „Ich heiße Martin!“

Damit war der Bann völlig gebrochen. Gernot zeigte auf den Mönch und rief fröhlich aus: „Martin!“

Gerührt, dass er genauso hieß wie einer der Engel, schossen dem Mönch erneut Tränen in die Augen. Gernot stellte auch die Adligen vor. Der Fürst hieß Johann und die Edlen Ludwig und Gerhold.

Martin wollte sich freundlich verbeugen, doch Anton hielt ihn ab. „Wir sind Engel, Gottesboten“, flüsterte er Martin zu. „Und damit stehen wir weit über jeden Fürsten!“

Jetzt wandte sich Gernot wieder an die Brüder. Er zeigte auf die Fahrräder und gab unmissverständlich zu verstehen, dass die Jungs diese komischen Dinger bewegen sollten. Nur zur Bestätigung zeigte Anton auf sich, dann auf sein Fahrrad und mit fragendem Blick nickte er. Gernots heftiges Kopfnicken zeigte Anton, dass er die Zeichen- und Körpersprache des Knappen richtig gedeutet hatte. Auch der Fürst nickte jetzt und unterhielt sich dann angeregt mit den beiden Adligen.

„Martin, ich fahre eine Runde“, sagte Anton. „Bleib du bitte hier. Wir müssen vermeiden, dass die Leute furchtsam werden und uns vielleicht wieder als Teufel ansehen.“

„Ist gut, Anton“, erwiderte Martin. „Ich rühre mich nicht vom Platz!“

Anton gab nun eine Lehrstunde im Fahrradfahren. Er nahm sein Fahrrad und zeigte alle Funktionen. So drehte er die Pedalen, zeigte auf die Kette, hob das Hinterrad an und drehte es mit Hilfe der Pedalen. Dann zeigte er auf die Bremse und blockte nun das Rad. Die Klingel betätigte er nicht und auch das Licht ließ er wohlweißlich aus. Nichts wollte er tun, dass den Verdacht nähren könnte, er würde doch ein Teufel sein.

Und nun kam die wichtigste Vorführung: Fahrradfahren! Anton schwang sich auf den Sattel und fuhr sehr langsam eine Ehrenrunde. Dann steigerte er das Tempo, bremste scharf, drehte sich fast auf der Stelle und zeigte alles noch einmal. Die Reaktion seines Publikums war geteilt. Während die einen vor Neugierde immer näher kamen, versteckten sich die anderen vor Furcht hinter den Neugierigen. Zum Abschluss seiner Kür fuhr Anton mal mit einer Hand, dann mit der anderen, auch mal freihändig und zum Schluss zeigte er sein persönliches Kunststück und lenkte mit den Füßen.

Nachdem Anton abgestiegen war, forderte er mit eindeutigen Handbewegungen die Zuschauer auf, sein Fahrrad auszuprobieren. Da sich niemand bereitfand, ging er auf Jüngere zu und wollte ihnen sein Rad übergeben. Doch die wichen nur erschrocken zurück. Nur Gernot blieb zögerlich stehen. Anton lächelte ihm zu, nahm ihn an die Hand, was der Knappe auch duldete, und gab ihm dann die Lenkstange. So wie Gernot die Stange anfasste, so berührt man eventuell eine giftige Schlange. Da der Lenker aber nicht „biss“, wurde Gernot mutiger. Er setzte sich mit Antons Hilfe auf den Sattel, stellte die Füße auf die Pedalen und wollte nun losfahren. Anton hielt ihn am Sattel, schob ihn an und vorsichtig setzte sich Gernot mit dem Rad in Bewegung. Er wurde mutig und trat nach etlichen Metern kräftig in die Pedalen. Anton lief jetzt neben ihn her – noch hielt er ihn aber fest. So legten sie drei Runden zurück. Da Gernot höchstwahrscheinlich Talent zum Fahrradfahren mitbrachte, ließ Anton das Rad in der 4. Runde los und Gernot drehte seine erste Runde allein.

Und dann geschah es: Gernot, übermütig über sein Können, trat sehr kräftig in die Pedalen, raste auf die Zuschauer zu, wusste nicht anzuhalten und ließ sich hinfallen.

Schauten bislang alle wortlos dem Gernot zu, so erfolgte jetzt ein Aufschrei. Erst als der sich lachend erhob und sein Rufen die Zuschauer beschwichtigte, wurde er von den Menschen umringt und wie es sich anhörte, über seine Aktion ausgefragt. Selbst der Fürst ging zu ihm, nahm das Rad und begutachtete es. Dem Anton war das gar nicht recht. Sollte der Fürst Interesse zeigen, auch sein Können auszuprobieren und er würde stürzen – was dann? Zum Glück für Anton hetzte ein Reiter heran. Dem Pferd sah man an, dass sein Herr es fast bis zur totalen Erschöpfung angetrieben hatte. Schon von Weitem schrie der junge Reiter: „Fiande!“ und „Quimit ein heri!“ Vor dem Fürsten rutschte er vom Pferde und gab einen sehr ausführlichen Bericht.

Anton und Martin waren vergessen. So konnten sie sich leise unterhalten. Martin fragte: „Wäre jetzt nicht der richtige Augenblick, um abzuhauen?“

„Na, dann schau dich mal richtig um“, erwiderte Anton und zeigte auf den Waldrand. Was Martin dort erblickte, ließ die Hoffnung aufs Abhauen verschwinden. Bewaffnete hatten alle Wege, die in den Wald führten, unter Kontrolle.

„Martin“, tröstete Anton seinen Bruder, „es gibt garantiert irgendwann eine gute Möglichkeit. Und die nutzen wir!“

Der Fürst ging mit den beiden Edlen zum Zelt. Jetzt eilte Gernot zu ihnen. Er war sehr aufgeregt. Er erzählte mit „Händen und Füßen“. Anton konnte sich aus seinen Gesten und einigen Wörtern, die er glaubte, übersetzen zu können, einiges zusammenreimen. „Ger“ - das wusste er noch aus dem Unterricht - hieß Spieß. „Suert“ übersetzte er mit Schwert, „her“ mit Heer oder Armee und „fiande“ mit Feinde. Diese Begriffe und die Aufregung der Menschen machten Anton in der Annahme sicher, dass ein gewaltiges Heer im Anmarsch war. Er fragte „Fiande?“ und „Her?“ und zeigte in die Richtung, aus der der Reiter gekommen war. Gernot nickte heftig und gab noch einmal einen Bericht.

Nachdem Gernot damit fertig war, fragte Martin: „Nun sag doch mal Anton, was ist los?“

Und Anton klärte seinen Bruder auf. „Krieg!“, rief Martin erschrocken.

„Ja, Krieg, Kampf, Fehde“, erwiderte Anton. „Es muss ein großes Heer sein, aber wie groß, das habe ich nicht herausgefunden.“

Gernot hat dem Gespräch der Jungen gut zugehört. Als Anton das Wort „Fehde“ sagte, nickte er heftig mit dem Kopf und bejahte: „Fehta!“

Jetzt wollte Anton von Gernot erfahren, wie groß dieses Heer wohl sei. Er versuchte es diesmal mit Zahlen. Er zeigte auf Martin und sich und schrieb in den Staub die arabische Ziffer „2“. Unverständlich für Gernot, denn der zeigte deutlich, dass er dieses Zeichen nicht kennt.

„Vielleicht kennen die die arabischen Zahlen noch gar nicht“, kommentierte Anton seinen nächsten Versuch, indem er die römischen Ziffer „II“ in den Staub zeichnete.

Gernot lächelte und nickte bestätigend. Jetzt zeigte Anton in Richtung des feindlichen Heeres und schrieb ein „M“ für tausend in den Staub. Gernot verstand nicht. Auch das „D“ für fünfhundert und das „C“ für hundert waren ihm unbekannt. Plötzlich stand Gernot auf, rannte zum Mönch und brachte ihn zu den Brüdern. Der Mönch erkannte die Ziffern. Gernots Redeschwall und den eindeutigen Gesten entnahm Anton, dass der Mönch die Größe des feindlichen Heeres aufschreiben sollte. Endlich hatte der Mönch verstanden, was Gernot von ihm wollte. Er nahm ein Stöckchen und schrie ein großes „CL“.

Jetzt schaute Anton verlegen, denn die römische Ziffer „L“ konnte er nicht mehr deuten. „Martin, weißt du noch aus dem Mathe-Unterricht, was `L´ bedeutete.

„Könnte das 50 sein?, fragte Martin zurück.

„Du, das kommt hin“, antwortete Anton. Dann zeigte er auf die Bewaffneten und das Zeltlager. Der Mönch schrieb ein „L“.

„Dann sind ja die Feinde dreimal so stark“, kommentierte Anton.

Martin hatte das „Gespräch“ zwar aufmerksam verfolgt, aber warum sein Bruder unbedingt wissen wollte, wie groß das feindliche Heer sei, war ihm verborgen geblieben. Also fragte er ihn. Mit Antons Antwort hatte Martin nicht gerechnet. Wollte doch Anton in der Nacht die feindlichen Truppen vertreiben!

„Bist du verrückt!?“, schrie Martin. Er schüttelte den Kopf. „Nee, mit mir nicht! Wir beide kämpfen gegen 150 schwer bewaffnete Krieger? Du spinnst doch!“

Anton war von seiner Idee nicht abzubringen. „Martin, wenn wir in der Dämmerung mit den Rädern fahren, machen wir unser Licht an. Du hupst und ich klingele. Meinst du nicht, dass diese Menschen vor lauter Furcht vor dem Teufel die Flucht ergreifen werden? Für die Menschen hier“, Anton zeigte auf Gernot und den Mönch, „sind wir Engel, die die bösen Angreifer verjagen. Das klappt garantiert. Wir werden gefeiert und dann müssen wir, d. h. wir `Engel´, ja wieder zurück in den Himmel. Wir verabschieden uns, nehmen die Fahrräder und nichts wie weg! Du klatscht dem Gaul wieder kräftig auf den Hintern. Wir sind zu Hause!“

Das klang ja wirklich verführerisch und so einfach. Zurück nach Hause! Das war der Grund, warum Martin zaghaft nachfragte: „Und du glaubst wirklich, dass das klappt – mit den Fahrrädern und so?“

„Hat doch auch bei diesen Menschen hier gewirkt! Oder?“ Anton klang ja so optimistisch, sodass Martin zögernd meinte: „Wir könnten es ja mal ausprobieren.“

„Gut, ich werde das mal dem Gernot und dem Mönch plausibel machen. Hoffentlich verstehen die, was ich meine.“ Anton begann, mit einigen Wörtern und vielen Gesten seinen Vorschlag den beiden zu unterbreiten. Ungläubig schaute Gernot zu den Brüdern. Der Mönch blickte in den Himmel, kniete nieder und begann zu beten.

„Ich glaube“, sagte Anton grienend zu Martin, „sie haben´s kapiert!“

Gernot zog den Mönch an seiner Kutte und redete auf ihn ein. Der Mönch erhob sich und beide begaben sich zum Zelt des Fürsten.

„Anton, das feindliche Heer ist noch nicht mal hier und du willst gegen 150 Krieger kämpfen? Vielleicht greifen die sofort an – oder gar nicht? Vielleicht haben sie Kanonen mit oder glauben nicht an Gott und dem Teufel?“ Doch Martins Zweifel zerstreute Anton alle.

„Erstens: In dieser Zeit glaubten alle an Gott und dem Teufel. Zweitens: Schießpulver und damit Kanonen kannte man vor Tausend Jahren noch nicht in Europa. Drittens: Wenn das Heer hier ankommt, dann müssen die Krieger sich vom Marsch erholen, also werden sie ein Lager aufschlagen. Im Dunkeln kämpften sie nicht, da man nicht Freund und Feind unterscheiden kann. Und viertens: Wir beide werden die Angreifer vertreiben! Es wird kein Mensch getötet und wir beide gehen in die Sagenwelt dieser Menschen ein. Unsere Taten werden weitererzählt. Wir beide sind dann berühmte Engel! Du der kleine `engil´ Martin, und ich der große `engil Anton´!“

Anton amüsierte sich feixend über das komische Gesicht, dass sein kleiner Bruder machte.

Martin saß mit hochrotem Kopf vor ihm im Staub. „Du bist trotzdem verrückt!“ Martin unterstrich seine Meinung über seinen Bruder mit einer eindeutigen Geste.

„Verrückte haben oftmals Glück!“, konterte Anton. „Und wir ...“ Er verstummte. Im Lager herrschte wieder große Aufregung. Die Menschen strömten zusammen und ein Wächter auf dem Turm rief ständig und zeigte in die Richtung, aus welcher Anton die Feinde erwartete. Ein für die damalige Zeit gewaltiges Heer marschierte heran. In Sichtweite der hiesigen Menschen sammelten sie sich. Viele Reiter, noch mehr Fußvolk und auch Ochsenkarren konnte man erkennen. Jetzt erklang ein Signalhorn.

„Anton! Martin!“ Gernot rannte herbei. Für die Brüder klangen ihre Namen aus Gernots Mund recht eigenartig. Hinter Gernot schritt der Fürst in Begleitung des Mönches. Als der Fürst Johann bei den Jungs war, sprach er zu ihnen mit eindeutigen Zeichen. Er zeigte auf Anton und Martin, dann auf das feindliche Heer, blickte gen Himmel und begann kniend zu beten. Der Mönch und Gernot sanken ebenfalls auf die Knie, sodass Anton meinte, sie sollten dies auch tun.

Der Fürst beendete das Dankgebet und erhob sich. Jetzt wollte er noch wissen, wie viele Bewaffnete die beiden „Engel“ für den Kampf benötigten. Das jedenfalls deutete Anton so aus seinen Gesten. Mit beiden Händen wehrte Anton ab. Aber ... ihm war da noch ein Einfall gekommen. Er sprach vom Wald, vom Holzholen und Feueranzünden und wie so üblich begleitete er die Worte mit Gesten. Aber diese müssen ihn auch so verstanden haben, denn er sagte: „Sus brennent inan hiare!“ Er zeigte auf den einen bereits aufgestellten Holzstoß. Anton nickte und zeigte beide Hände dem Fürsten. Das war eindeutig: Zehn Holzstapel sollten errichtet werden! Der Fürst nickte und verließ die Jungs. In den nächsten Minuten hörte man laute Befehle und dann eilten alle, die nicht zur Wache eingeteilt waren, in den Wald. Die ersten Axthiebe schallten und dann liefen Frauen und Kinder zum nahen Wald.

Martin hatte es wohl aufgegeben, Antons Handeln verstehen zu wollen. Er ging zu seinem Fahrrad und brachte seinen Rucksack mit. „Ich habe einen mordsmäßigen Hunger“, erklärte er und packte seinen Rucksack aus. Und zu seinem Erstaunen kam mit dem Essenspaket und der Trinkflasche noch eine Taschenlampe und eine Stirnlampe zum Vorschein. „Die habe ich vergessen, rauszunehmen“, erklärte er und wollte sie wieder einpacken. „Sind die Batterien noch gut?“, fragte Anton. „Ja“, erwiderte Martin, „zu unserer Nachtwanderung vor zwei Wochen habe ich erst frische reingetan. Warum willst du das denn wissen?“

„Na, für unseren Kampf! Damit können wir noch mehr unheimliches Licht erzeugen!“ Anton grinste zufrieden. Jetzt packte er seinen Rucksack aus, aber außer seinem großen Taschenmesser fand er keine anderen Utensilien. „Also essen wir erst einmal!“, verkündete er.

Gernot und der Mönch bestaunten nicht nur den Rucksack der Jungs, auch die Trinkflaschen, die eingepackten Schnitten und die Früchte erregten ihre Aufmerksamkeit. Als Anton sein Brot auspackte, teilte er eine Hälfte in drei Teile. Er gab dem Mönch und Gernot je ein Stück und aß seins auf. Mit einer Geste forderte er die beiden auf, ihr Stück zu essen. Zaghaft, sehr zaghaft steckte der Mönch sein Brot in den Mund. Kaum hatte er abgebissen, klärten sich seine Gesichtszüge zu einem „Genießer-Gesicht“. Mit vollem Munde redete er auf Gernot ein, sodass der auch, noch immer zögerlich, abbiss. Auch ihm schien es zu schmecken. Dann nahm Anton das Taschenmesser und öffnete die größte Klinge. Er schälte eine Banane und zerschnitt sie mit dem Messer in drei Teile. Jetzt griff der Mönch sogleich schnell zu. Und als ihm Anton noch ein Stück zuckersüße Apfelsine zum Kosten gab, verdrehte der Mönch die Augen, blickte in den Himmel und seufzte: „Paradyso! Gotes brot in paradyso!“

Mit der Deutung dieser Wörter hatte selbst Martin keine Probleme. Er teilte sein Brötchen mit herrlichem Käse und reichte dem Mönch und Gernot ein Stück Apfel als Nachtisch. Gernot aß genussvoll, aber der Mönch, der „zerschmolz“ vor Glückseligkeit.

Gernots Aufmerksamkeit war aber besonders auf das Taschenmesser gerichtet. Als Martin damit den Apfel zerschnitt, erbat er sich das Messer. Als Martin zögerte, nahm er es ihm vorsichtig aus der Hand, strich mit dem Finger über die Klinge und gab es Martin zurück. Anton suchte ein Stück Holz und begann zu schnitzen. Dann klappte Anton alle Schneiden auf, zeigte Gernot die kleine Schere, die Feile, den Korkenzieher und den Bohrer. Mit diesem bohrte er in das Stückchen Holz ein kleines Loch. Gernots Augen leuchteten vor Verlangen. Anton, in Geberlaune, klappte alle diversen Messerteile zu und drückte Gernot das Messer in die Hand. „Taschenmesser“, sagte Anton langsam und sehr deutlich. „Taaascccchenmeeßer“, wiederholte Gernot und betrachtete das Werkzeug in seiner Hand. Anton drückte Gernots Hand zu, sodass sie das Messer umschloss und sagte: „Es gehört dir!“ Und das verstand Gernot sofort. „Mir! Mir!“, flüsterte er mit hochrotem Kopf. „Mir!“ Er verstaute sofort seinen Schatz in dem Lederbeutel, der am Gürtel hing. Dann rannte er los und kam mit einem Messer mit feststehender Klinge, die in einer ledernen Scheide steckte wieder. Er legte das Messer dem Anton in die offene Hand und drückte seine Hand zu. „Dir!“, rief er freudig. „Dir!“ So kam Anton in den Besitz eines handgeschmiedeten, tausend Jahre alten Messers.

Inzwischen wuchsen die Holzstapel. Es war bereits später Nachmittag und die Jungs nutzten die Zeit bis zum Sonnenuntergang und besichtigten das Feldlager. Sie sahen dem Schmied bei der Arbeit zu. Erstaunt waren sie, wie geschickt dieser Handwerker mit Hammer und Amboss umging. Da der Fürst in diesem Augenblick die Arbeiten kontrollierte, durften sie in das Zelt des Fürsten einen Blick werfen. Hatten die Jungs edle Felle und Teppiche erwartet, so waren sie von der spartanischen Ausstattung enttäuscht. Das Bett war ein Strohlager, das mit mehreren Fellen bedeckt war. Mehr gab es nicht. Interessant ging es auf der Pferdekoppel zu. Dort wurden von mindestens zwanzig Bewaffneten die Pferde gesattelt. Sattel und Zaumzeug waren einfach, aber sehr effektiv. Alles, was die Bewaffneten hier taten, sah aus, als machten sie sich für den Kampf fertig.

Die Jungs führten bei ihrem Rundgang immer die Räder mit sich. Sie wurden zwar von den Menschen immer noch angestarrt, wie Besucher aus einer anderen Welt, aber Furcht zeigten selbst die kleinen Kinder nicht mehr. Zuerst hatte sie auch noch der Mönch begleitet, aber dann eilte der von dannen. Gernot redete die ganze Zeit auf die Brüder ein. Er versuchte, alles zu erklären. Ab und zu verstand zwar Anton ein Wort, aber der Inhalt blieb ihm verborgen. Immer wieder schauten die Jungs hinunter ins Tal, dorthin, wo die feindlichen Truppen ihr Lager aufgeschlagen hatten. Aber dort blieb alles ruhig. Diese Menschen rüsteten sich bestimmt nicht für einen sofortigen Kampf.

Dann endlich rief der Mönch zur Abendmesse. Alles eilte auf den freien Platz am Turm. Natürlich nahmen auch Anton und Martin teil. Immer, wenn sie nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten, machten sie ein frommes Gesicht, falteten die Hände und schauten gen Himmel.

Und dann kam die Stunde der „Engel“! Mit dem Sonnenuntergang wurden die Holzstöße angezündet. Anton hielt Martin zurück, als der schon losfahren wollte. „Wir warten, bis die Holzstöße richtig brennen“, erklärte er seinem Bruder. „Die Rucksäcke behalten wir auf dem Rücken. Wir klemmen uns aber zwei brennende Holzscheite auf die Gepäckträger. Auch fahren wir sehr vorsichtig, damit wir nicht stürzen. Alles klar, Martin?!“

„Ich bleibe am besten hinter dir, Anton“, erklärte Martin. „Ich werde das tun, was du mir sagst, einverstanden?“

So einsichtig und verständnisvoll hatte Anton seinen Bruder schon lange nicht mehr erlebt. Um ihm Mut zu machen, sagte er betont forsch: „Wir schaffen das schon, Martin! Wir kommen wieder nach Hause!“

Nach etwa 15 Minuten gab Anton das Startsignal. Martin knipste seine Stirnlampe an und auch die Fahrradlampen wurden angeschaltet. Anton klemmte brennende Holzscheite auf den Gepäckträger und nahm dann die leuchtende Taschenlampe in die Hand. Er warf einen Blick zurück und sah dort neben dem Fürsten Gernot stehen. Hinter dem Fürsten formierten sich bewaffnete Reiter. Abseits standen Bogen- und Armbrustschützen. Frauen und Kinder konnte er nicht mehr ausmachen. Und mit dem Start der Jungs erschallte ein Dankgebet gen Himmel. Der Mönch hielt sein großes Kreuz hoch und segnete damit das Vorhaben der „Engel“!

Anton hatte in der Dunkelheit Mühe, eine befahrbare Strecke zu finden. Dicht hinter ihm fuhr, ebenfalls sehr vorsichtig, Martin. Jetzt erkannten die Brüder bereits die ersten Menschen. Aufgeregt über den Gesang und über das auf dem Berge hell leuchtende Feuer - es schien als würde die Bergkuppe brennen – hetzten verängstigt umher. Jetzt schossen vier helle Lichter auf die Menschen im Lager zu. Plötzlich hörten sie „Huuuup! Huuuup!“ - immer und immer wieder. Zwei schemenhafte Wesen rasten auf sie zu. Am Ende dieser Wesen waren deutlich zwei Feuerschweife auszumachen. Nun endlich hatten die verängstigten Menschen eine Erklärung für diese Erscheinungen. Zwei helle Stimmen riefen: „Satanasz! Satanasz!“ Und diese Botschaft, die eine Warnung war, wurde von den Menschen aufgenommen und weitergegeben. „Satanasz! Satanasz! Satanasz!“, schallte es jetzt von überall her. Als Anton dann einen Ochsenkarren mit Heu oder Stroh entdeckte, nahm er eine Fackel und warf sie auf den Wagen. Die zweite Fackel warf er nach den Pferden, die sofort losliefen und in der Dunkelheit das Durcheinander im Feldlager verstärkten. Die Menschen flüchteten in alle Himmelsrichtungen.

 Die Jungs hatten das Lager durchquert.

„Martin, wirf deine Fackeln weg!“, befahl jetzt Anton. „Und Licht aus!“ Die Jungs stiegen von ihren Rädern. Schnell rannten sie jetzt mit ihren Rädern zu einem Wäldchen, das sie verbergen konnte. Von dort hatten sie sogar einen guten Blick auf das weitere Geschehen. Der Heuwagen, den Anton angezündet hatte, brannte lichterloh. Als wäre dies das Zeichen für den Fürsten Johann, setzte der seine Reiterei in Bewegung. Mit brennenden Holzscheiten in der Hand stürmte die Reiterei ins Tal.

„So ein Banause!“, schimpfte Anton leise. „Nutzt doch dieser Mensch unsere gute Tat als `Engel´ für seine Interessen weidlich aus. Eigentlich müssten wir ihm diese Tour vermassen! Was meinst du, Martin?“

Doch Martin war froh, aus der Gefahrenzone zu sein und hatte wirklich keine Lust mehr, erneut in die Handlung einzugreifen. So sahen sie, wie die Reiterschar einen Mann gefangen nahm und ihn zum Berg hinaufbrachten. Das feindliche Lager schien menschenleer.

„Könnten wir jetzt nicht zum Gaul laufen?“, flüsterte Martin seinem Bruder zu. „Machen wir! Wir versuchen es!“, bekam er zur Antwort. Und so stolperten sie mit ihren Rädern durch den Wald. Über umgestürzte Bäume hoben sie die Räder, einmal fiel Anton in ein Loch, das mit Laub zugedeckt war. Martin schrammte sich die Hände und das Gesicht in einem Brombeergebüsch auf. Endlich fanden sie einen begehbaren Pfad, der aber nicht in die Richtung führte, in der sie ihren „Gaul“ vermuteten.

„Martin, das wird nichts“, kommentierte Anton ihr Vorhaben. „Wir können uns im Dunklen verlaufen und dann finden wir erst recht nicht zum Gaul.“

„Gehen wir dann zurück ins Lager?“, fragte Martin. „Nicht ins Lager, Martin“, antwortete ihm Anton, „wir legen uns am Rande des Lagers zum Schlafen. Morgen früh erkennen wir wieder alle Wege und dann nichts wie weg!“

Also suchten sie am Himmel den Feuerschein, um so wieder aus dem Wald zu finden. Fast wären sie Menschen, die zu dem feindlichen Heere gehörten, in die Hände gefallen. Als sie die menschlichen Silhouetten erkannten, schalteten sie die Stirn- und die Taschenlampe an. „Satanasz! Satanasz!“ - Gebrüll und mehrmaliges Hupen und sie waren wieder allein.

Und endlich waren sie am Waldrand angekommen. Vorsichtig schoben sie ihre Räder, jedes Geräusch nach Möglichkeit vermeidend, zu einer Baumgruppe. Sie konnten jetzt die heruntergebrannten Holzstapel sehen. Menschen liefen hin und her. Sie erkannten den Mönch, der immer noch mit seinem Kreuz stand und Gott für den Sieg dankte. Martin glaubte auch, Gernot erkannt zu haben. Es schien, als würde er Ausschau nach den Engeln halten.

Die Brüder fanden am Waldrand recht hohes und weiches Gras. Dorthin legten sie sich, ihre Hände umklammerten die Lenker - so schliefen sie ein.

Geweckt wurden sie von Rufen. „Gotes engil!“, schrie eine Männerstimme und als sie erschrocken die Augen öffneten, blickten sie in ein bärtiges Männergesicht.

Damit war erst einmal ihr „Abgang“ aus der Zeit des Hochmittelalters gescheitert. Der Ruf des Bärtigen brachte die Menschen im Lager auf die Beine.

„Anton! Martin!“, rief eine helle Jungenstimme. Das konnte nur Gernot sein. Er schien überglücklich, die beiden „Engel“ wiederzusehen. Auch der dicke Mönch rannte, so schnell es ihm seine Leibesfülle erlaubte, zu den Brüdern. Mit „Hosianna!“ wurden sie ins Lager geführt. Dort rief der Mönch sogleich zur Morgenmesse und natürlich wurde den „gotes engil“ für den Sieg über die Feinde gedankt. Es erschien auch der Fürst Johann mit seinen beiden Edlen. Und noch ein fremder Mann - sehr vornehm gekleidet, aber ohne Waffen - nahm an der Messe teil. Gernot, der neben Anton kniete, flüsterte ihm zu: „ Kuning Ludewig!“ Und Anton übersetzte für Martin: „Das muss ein König Ludwig sein! Den haben bestimmt die Reiter in der Nacht gefangen genommen.“

Nach Abschluss der Morgenandacht schritt der Fürst mit seinem Gefangenen zu den Brüdern. Im gebührenden Abstand betrachtete König Ludwig die beiden „Engel“.

Anton hoffte auf ein Wunder, um endgültig dieses Lager verlassen zu können. Der Zufall wollte es, dass der bedeckte Himmel aufriss und die Morgensonne grell hervorblitzte. Das war das Wunder, auf das Anton gewartet hatte.

„Hinknien!“, befahl Anton. Anton hob die Hände zum Himmel und rief: „Vater, wir kommen!“ Und Martin tat es ihm nach. „Vater, ich komme auch!“

Anton erhob sich und Martin tat es ihm nach. Sie bestiegen die Fahrräder. Anton rief: „Himili!“ und

„Gotes engil!“ Er zeigte auf sich und Martin und dann hinauf in den Himmel. Und wie zur Bestätigung dieser Absicht riss der Wolkenvorhang endgültig auf und die Sonne erleuchtete das gesamte Lager.

Der Mönch half den Brüdern mit seiner Frömmigkeit. Er fiel auf die Knie und begann ein Lobgesang. Dem konnten sich die Anwesenden nicht entziehen. Während also die Menschen kniend sangen, traten die Brüder mit aller Kraft in die Pedalen und schnell hatten sie den Waldrand erreicht. Martin drehte sich schnell noch einmal um. Er sah, wir Gernot hinter ihnen her zum Wald rannte. „Gernot kommt!“, rief er und Anton schrie zurück: „Los, nichts wie weg!“

Sie fanden ihren Mountainbike-Weg und hetzten den Berg hinauf. Endlich waren sie oben und schnaufend fuhren sie weiter. Jetzt war der steinerne Gaul zu sehen. Sie schmissen ihre Räder hin, Anton half Martin auf das steinerne Pferd und der, kaum dass er saß, klatschte er dem Gaul dreimal mit der flachen Hand auf das linke Hinterteil. Martin glaubte, beim Aufsitzen Gernot an der Kurvenbiegung erkannt zu haben. Aber sicher war er sich nicht.

Martin sprang vom Gaul. Alles war so, wie es vorher war. Die Sonne schien, der Wind bewegte die Blätter und einige Vögel zwitscherten ihr Lied.

„Haben wir’s geschafft?“, fragte Martin. „Ich hoffe es“, erwiderte Anton und suchte nach Merkmalen, um eine Veränderung der Zeit zu erkennen. „Hörst du das auch?“ Martin störte Anton bei seinen Betrachtungen. Jetzt waren deutlich Pferdegetrappel und auch leises Wiehern zu hören.

„Los! Verstecken!“ Anton nahm sein Fahrrad und suchte hinter einem dichten Gebüsch Schutz. Martin warf sich samt Fahrrad dahinter auf den Waldboden. Jetzt konnte man die Reiter sehen. Es waren nur zwei und gekleidet waren sie wie Freizeitreiter aus der heutigen Zeit. Das war das Erste, was Martin entdeckte. Er wagte sogar einen Blick aus seiner Deckung und wurde prompt gesehen.

„Sehen wir so schrecklich aus, dass ihr euch vor uns verstecken müsst?“, frozzelte das jüngere Mädchen, das nicht älter als Anton war. Verlegen kamen die Jungs aus ihrer Deckung. „Nee“, erwiderte Anton grienend, „wir suchten nur Schneeglöckchen!“

„Ihr spinnt! Schneeglöckchen im Sommer?!“, lachte das Mädchen.

„Im Ernst, ich habe meine Uhr verloren. Wisst ihr, wie spät es ist?“, antwortete Anton.

„Kurz vor 12“, rief das Mädchen. Sie ritten weiter.

Anton rief noch hinterher: „Und welcher Wochentag?“

„Na Montag, du Schneeglöckchenpflücker!“

„Martin!“, jubelte Anton. „Wir haben es geschafft! Wir sind in derselben Zeit, wie gestern ... nein, wie heute? Ach, ist doch egal: Wir waren einen Tag im Mittelalter! War das nicht ein herrliches Abenteuer, kleiner Bruder?“

Anton ging zum Gaul, klatschte ihm liebkosend aufs Hinterteil und rief zu Martin: „Komm Martin! Aufgesessen und dreimal kräftig auf die linke Arschbacke gehauen! Vielleicht kommen wir so zu den Römern?!“

Doch Martin hatte genug von Zeitreisen. Er setzte sich aufs Fahrrad und rief: „Mach es selbst! Ich fahr nach Hause!“

„Spielverderber!“, rief Anton feixend und radelte Martin hinterher.


Fortsetzung: "Der Gaul" Teil II hier!