Kriminalerzählungen: 2. "Der Ring"

Der Ring

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von Joachim Größer (2012)

 

Das waren verrückte Tage! Seit das Telefon nachts um 3 Uhr klingelte und mich dieser Pflanzendoktor engagieren wollte, seit diesem Anruf bin ich nicht mehr zur Ruhe gekommen. Zuerst dachte ich ja, ein Verrückter macht Scherze mit mir. Als ich aber die Geschichte vom Verschwinden seiner Freundin Michelle hörte, klingelten bei mir alle Alarmglocken. Ich weiß, das hat mit Kriminalistik nichts zu tun, aber mein Gefühl sagte mir: „Dranbleiben, Mayers! Dranbleiben!“

Alles passte in das Erfolgsschema dieser Verbrecherbande. Zehn Minuten später, ich hatte die Wohnung des Doktors verlassen, war ich auch schon wieder in meinen eigenen vier Wänden. Drei Pappkisten holte ich unter dem Bett hervor und verstreute den Inhalt in der ganzen Wohnung. Es waren illegale Kopien von meinem letzten großen Fall als Polizeikommissar. Ich las und las und mit jedem Blatt, dass ich gelesen hatte, wusste ich: Ich kann sie schnappen. Aber wie …? Jetzt bin ich ein hinkender Invalide, nach Meinung meiner Vorgesetzten nicht mehr tauglich für den Außendienst, … ein Krüppel. Und als sogenannter Detektiv bin ich ein Einzelkämpfer und nicht in der Lage, einen Verbrecherring zu fassen. Ich bräuchte Hilfe? Wer? Der Doktor? Geht nicht, mein Klient darf nicht hineingezogen werden. Also bleiben nur die ehemaligen Kollegen!

Widerwillig fuhr ich ins Polizeipräsidium; benutzte nicht den Haupteingang, sondern schlich mich wie ein Dieb durch den ehemaligen Kohlenkeller ins Nebengebäude. Dort klopfte ich zaghaft an eine Tür, hinter der meine „Ehemalige“ saß. Zum Glück war sie allein und machte kugelrunde Augen, als sie mich erkannte.

„Mayers!“, flüsterte sie erregt. „Oberkommissar Manfred Mayers!“

„Nur Mayers, Sophie, nur Mayers!“, erwiderte ich, hoffend, dass sie nicht wieder mit den alten sogenannten „glücklichen“ Zeiten anfängt.

„Was macht das Bein?“, fragte Sophie fast förmlich.

„Keine Besserung und auch keine Aussicht darauf.“ Ich hoffte, sie gab sich damit zufrieden, war doch mein „Hinkebein“ Anlass für einen Streit, der uns auseinanderbrachte. Sie wollte, dass ich im Innendienst „versauere“ und ich sträubte mich, zum alten Eisen zu gehören, zum Invaliden abgestempelt zu werden. Jetzt brauchte ich sie, genauer gesagt, ihre fantastischen Kontakte zu allen möglichen Dienststellen. So säuselte ich etwas verlegen: „Sophie, kannst du mir helfen. Ich habe eine ganz heiße Spur, bin auf den ‚Ring‘ gestoßen!“

Das Wort „Ring“ verfehlte seine Wirkung nicht, war doch alles, was mit diesem „Ring“ zusammenhing, die Ursache für meine beruflichen und privaten Probleme. Und das war noch milde ausgedrückt.

„Du hast `ne heiße Spur?!“ Ich wusste, Sophie wird mir helfen!

„Ja, wahrscheinlich sogar sehr heiß! Ein junges Mädchen ist seit 4 Wochen verschwunden. Ich müsste einige Angaben überprüfen , nur … bin jetzt Einzelkämpfer. Könntest du …?“

Sophie konnte und sie wollte mir helfen. So gab ich ihr den Namen Michelle und den vom Pflanzendoktor.

„Was, ist das alles?“ Sophies guckte ungläubig zu mir oder war sie vielleicht doch wütend???

„Schau mal, Sophie“, bemerkte ich, „wie viele Michelle gibt es wohl in unserer Stadt? Und einen Dr. Georg Malkow – na, da hast du doch den vollen Namen. So etwas ist doch für dich eine Kleinigkeit!“

„Was willst du wissen?“ Mein Einschmeicheln zeigte Wirkung.

„Alles, was du erfahren kannst.“ Und damit Sophie nicht das Gefühl hatte, etwas Illegales zu tun, fügte ich schnell hinzu: „Ich gehe jetzt auch zu meiner alten Abteilung und versuche, die Kollegen einzubinden.“

„Ex-Kollegen“, sagte ich schnell, als ich Sophies fragenden Blick sah.

Ich deutete ihren Blick so: Sophie hat mich noch nicht abgeschrieben. Vorsicht, Manfred!

Schnell fragte ich: „Hast‘ einen neuen Freund?“

Sophie nickte verschämt.

„Was Ernstes?“

„Mal sehen. Und du?“

Jetzt warnte mich mein Verstand oder war es doch mein Gefühl?! „Vorsicht, Manfred“, sagte ich mir! „Ich will nicht noch einmal …, nicht noch einmal diese täglichen Auseinandersetzungen …, nicht noch einmal Beschimpfungen und Beleidigungen! Ich bin solo, aber wenn Sophie das weiß …? Nein, ich bin in festen Händen, in sehr festen!“

Und so antwortete ich lakonisch: „Es hat sich was entwickelt.“

Ihr „So?!“ bedeutete, ich musste sofort verschwinden. Und mein „Jetzt muss ich aber los!“ und an der Tür stehend „Ich melde mich telefonisch!“ verhalfen mir zu einem ordentlichen Abgang von meiner Ex-Freundin und -Bettgefährtin.

Meine ehemaligen Kollegen begrüßten mich wohl mit gemischten Gefühlen. Mein Hinkebein, meinen „Betriebsunfall“, verdanke ich dem Fehlverhalten zweier junger Kollegen. Ich trage es ihnen nicht nach, sondern gebe eigentlich mir selber schuld, hatte ich doch versäumt, sie besser an die Kandare zu nehmen. Einer der beiden war im Raum und verdrückte sich sogleich nach hinten. Hannes Busch, der meine ehemalige Abteilung jetzt leitet, begrüßte mich breit lächelnd. „Schön dich zu sehen, Manfred. Und läuft es mit der Detektei?“

Das war für mich das Stichwort. Sofort überbrückte ich die etwas komische Situation und berichtete von meinem „Bauchgefühl“.

„Manfred, das ist etwas sehr dürftig. Das weißt du doch selber! Da steige ich mit meiner Abteilung nicht ein!“

„Dann muss ich zum Chef! Solch eine Chance kriegen wir so schnell nicht wieder!“ Und schon war ich weg! Drei Etage musste ich mich mit dem kaputten Fuß hochquälen. Jeder Schritt schmerzte, aber mein Ärger über den „Busch“ und seinem „Manfred, das ist etwas sehr dürftig.“ brachte mich schnell nach oben.

Im Vorzimmer saß eine Neue. Meine Frage, ob der Chef erreichbar ist, beantwortete sie mit: „Bitte Ihren Passierschein?!“  

Passierschein? Muss man so etwas haben, wenn man zum Polizeipräsidenten will? Ich hatte doch noch nie einen gebraucht. Und so schaute ich sehr verwundert und sagte dann trocken: „Hab ich nicht!“

Sofort griff die Neue unter die Schreibtischplatte. Was jetzt geschehen würde, wusste ich und ich muss ehrlich gestehen, es bereitete mir Vergnügen. In Gedanken zählte ich die Sekunden bis die Tür aufgerissen wurde und drei Uniformierte mit Pistolen in den Händen, die sie sofort auf mich richteten, schrien: „Hände hoch!“ – Wie in einem schlechten Krimi.

Ich riss meine Arme hoch und bemerkte lächelnd: „25 Sekunden! Das ist zu lange. Ihr schafft das auch in 15! Ich fehle euch wohl?“

„Mensch, der Mayers!“, grinste der „Anführer“. Und sich an die Neue wendend: „Ist das der ‚Alarm‘?“

Die nickte verlegen und antwortete: „Er will zum Präsidenten und hat keinen Passierschein.“

„Das ist der Kommissar Mayers. Der braucht …“

In diesem Moment öffnete sich die Tür und der Polizeipräsident geleitete einen Gast nach draußen. Er übersah mich, das rote erregte Gesicht der Neuen und die drei strammstehenden Uniformierten. Doch als er zurückkam, herrschte er den Max Schlenk an: „Obermeister! Was geht hier vor?“

Jetzt bedauerte ich den Obermeister Schlenk, doch der hatte die Antwort sofort parat: „Nur ein Fehlalarm, Herr Präsident. Kommissar Mayers …“

Der brüske Ton des Präsidenten milderte sich in einen freundlichen „Kommissar Mayers? Äh, … Oberkommissar!“

Ein Blick zu mir, ein freundliches Nicken zur Neuen, ein „Weggetreten“ zu Schlenk und seinen Leuten – der Herr Polizeipräsident bat mich, einzutreten.

Ohne große Erläuterungen und Umwege fragte mein ehemaliger Chef: „Oberkommissar Mayers, Sie habe ich lange nicht gesehen. Was gibt es? Wollen Sie wieder bei uns einsteigen? Sie wissen doch …!“

Ich wehrte ab und begann ohne Umschweife von meinem ersten Fall als Detektiv zu berichten. Dabei rollte ich den alten „Fall“ wieder auf, hatte ich mich doch zu Hause mit dem Studium der alten Akten gut „eingelesen“. Meinen Bericht beendete ich mit der Bemerkung meines Ex-Kollegen Busch, der meinte, die aktuelle Faktenlage sei zu dürftig.

Den Präsidenten hatte ich wohl mit den genauen Angaben zum alten Fall beeindruckt, nur musste er dem Busch recht geben, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt es dürftig aussähe. Als er aber sagte: „Ihre Spürnase oder wie Sie immer sagen, Ihr ‚Bauchgefühl‘, hat uns schon oft weitergeholfen. Wenn Sie mir irgendetwas Konkretes geben könnten, dass ich einen Polizeieinsatz rechtfertigen könnte, dann …“

Weiter kam der Chef nicht. Ich unterbrach ihn mit „Darf ich?“ und ohne auf seine Antwort zu warten, nahm ich den Telefonhörer und wählte Sophies Nummer.

„Sophie, hier ist Mayers. Hast du schon irgendetwas herausgefunden?“

Und Sophie hatte!

Freudestrahlend verkündete ich: „“Das Opfer lebt erst seit kurzer Zeit in der Stadt. Sie ist allein, ohne Angehörige. Das perfekte Opfer für den ‚Ring‘! Reicht das, Herr Präsident?“

„Gut, Oberkommissar Mayers, ich übertrage Ihnen den Fall … Ach, das geht doch nicht.“ Der Chef überlegte, dann: „Wer soll in der SOKO mitarbeiten?“

Ich nannte fünf Namen: Freund und Schuster waren die beiden jungen Kollegen, die Mist gebaut hatten, meine Ex-Freundin Sophie Schneider, den Obermeister Schlenk und den Oberkommissar Klein von der Abteilung Diebstahl.

Meine Auswahl überraschte den Präsidenten und ich musste ihm Erklärungen geben: „Freund und Schuster sind gute Polizisten, haben aber einen groben Fehler gemacht und warten nur darauf, sich zu revanchieren. Sophie Schneider ist ein Organisationstalent. Sie erfährt alles, was sie will, auch wenn sie nur telefoniert. Der Schlenk und der Klein versauern in ihren Abteilungen.“

Bei jeder Begründung, die ich abgab, erhielt ich einen erstaunten Blick meines ehemaligen obersten Chefs.

„Gut, einverstanden!“ Er griff zum Telefonhörer und sogleich erschien die Neue. Der Präsident gab ihr die fünf Namen und sagte: „Ach bitt schön, Frau Lohr, alle sofort zu mir!“

Ich war am Ziel. Jetzt musste ich nur noch eins klären, bevor meine ehemaligen Kollegen ins Zimmer traten: „Herr Präsident, wäre es möglich, die Kollegen entscheiden zu lassen, ob sie mitarbeiten möchten?“

„Warum, Oberkommissar?“

„Na ja, ich bin kein Polizeiangehöriger mehr, bin nicht berechtigt, Weisungen zu erteilen … Das ist für die Kollegen und auch für mich eine verzwickte Angelegenheit.“

„Könnten wir sofort ändern, Mayers und Sie wären wieder Oberkommissar Mayers. Noch hätte ich die Möglichkeit …“ Er schaute zu mir und da mein Gesichtsausdruck keine Begeisterung bei dieser Bemerkung zeigte, meinte der Chef nur: „Gut, wir finden einen Dreh, Mayers. Es geht schließlich um diesen vertrackten ‚Ring‘!“

In diesem Moment klopfte es an der Tür und die Neue sagte: „Die Befohlenen sind hier!“

Also die Neue ist wirklich neu. Noch nie hatte es in unserem Präsidium, seit der Gustl Steinhammer Polizeipräsident ist, solch Redewendung gegeben. Bei ihm hatte man immer das Gefühl, er bittet um etwas, aber befehlen …?

Die fünf „Befohlenen“ stellten sich vor dem mächtigen Polizeipräsidentenschreibtisch auf. Sophie hatte ein rot glühendes Gesicht. Bestimmt glaubte sie, sich eine Rüge eingehandelt zu haben, weil sie für mich telefonisch ermittelt hat. Freund und Schuster betrachteten verlegen ihre Schuhe. Was sie dachten, konnte ich an ihren Gesichtern ablesen: Es hing mit meinem Hinkebein zusammen. Schlenk strahlte mich an - ja, der Obermeister ist eine Frohnatur. Und der Oberkommissar Klein begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln und leichtem Handheben.

Während ich die Fünf betrachtete, setzte sich in meinem Kopf ein Gedanke fest: Mit diesen fünf Polizisten jage ich den „Ring“!

Der Polizeirat räusperte sich und meinte lakonisch: „Also meine Dame, meine Herren, der Oberkommissar Mayers möchte euch was fragen. Mayers hat den ‚Ring‘ aufgespürt und nun könnten wir endlich und unwiderruflich diesen vermaledeiten ‚Ring‘ ein für alle Mal sprengen! So Oberkommissar, Sie haben das Wort!“

Und ich berichtete das Wenige, was ich zu diesem Zeitpunkt wusste. Meine Schlussbemerkung war: „Wenn wir die entführte Michelle finden, haben wir die Spur zum Ring. Und da dieser Einsatz etwas anders gelagert ist als ein sonstiger Polizeieinsatz, hat der Herr Präsident zugesichert, dass nur der mitarbeiten wird, der sich freiwillig dazu meldet. Ich habe dem Präsidenten euch vorgeschlagen, weil .., weil …“

„Weil der Oberkommissar Mayers eine hohe Meinung von Ihnen hat.“ Mein ehemaliger Chef beendete mein Stammeln. „Und nun die Frage: Möchten Sie in dieser SOKO mitarbeiten?“

Meine Ex verfärbte sich von rot ins normale, Freund und Schuster schauten verwundert zuerst zu mir und dann zum Präsidenten, der Obermeister strahlte und der Klein nickte zustimmend. Meine „SOKO“ hatte ich!

„Es scheinen alle einverstanden zu sein, habe auch nichts anderes erwartet. Etwas muss ich noch klären. Der Oberkommissar Mayers ist ja zu meinem Leidwesen nur noch der Herr Mayers. Aber in diesem speziellen Fall der absolut richtige ‚Kopf‘ für diese Ermittlung. Offiziell übertrage ich dem Oberkommissar Klein die Leitung der Soko, erwarte aber, dass der Mayers das ‚Sagen‘ hat. Können Sie damit leben, Oberkommissar Klein?“

Und der Klein sagte doch ohne zu zögern: „Das geht schon klar, Herr Präsident. Der Manfred hat mehr drauf als ich. Ich kann nur lernen.“

Ich kenne keine anderen Polizeipräsidenten, aber dieser „familiäre“ Ton ist wohl nur für  unser Polizeipräsidium typisch. Ja, das „Wienerische“ unseres Chefs färbt eben ab.

Alles andere wurde in wenigen Minuten geregelt: Sophies Zimmer wurde zur „Zentrale“, der Nachbarraum wurde „annektiert“, die Neue musste die Personalentscheidung des Präsidenten den betroffenen Abteilungen übermitteln.

„Und sagen’S den Kommissaren, dass dies sofort gilt und ich will keine Klage über jetzt fehlendes Personal hören!“ und er fügte auch noch sein „Bitt schön!“ dazu.

Die Aufgabenverteilung in unserer SOKO ergab sich aus den von mir vorgeschlagenen Personen: Mit dem Klein musste ich zusammen den Kopf hinhalten. Sophie musste organisieren, die beiden jungen Kommissaranwärter waren die „Läufer“ und der Obermeister war „Mädchen für alles“.

Ich hörte zwischendurch meinen Anrufbeantworter ab, während die anderen noch Möbel rückten, um die beiden Räume auch effektiv nutzen zu können. „Jetzt wird’s konkret“, kommentierte ich den Anruf des Pflanzendoktors. „Hört mal zu!“, rief ich und stellte das Telefon auf die größte Lautstärke.

Dann lief alles so ab, als würden wir schon ewig lange in diesem Team zusammenarbeiten. Sophie notierte sich die Auto-Zulassungsnummer und telefonierte sofort, der Obermeister organisierte mit den beiden Anwärtern die Überwachung des Fotoladens. Der Klein übernahm die Durchsuchung der Opferwohnung und ich eilte ins Institut zum Dr. Malkow, um vielleicht noch Einzelheiten von ihm zu erfahren. Anschließend wollte ich mir die Wohnung dieses Menschen ansehen, der sich für das Michelle-Foto interessierte.

Das Gespräch mit dem Pflanzendoktor im Institut ergab nichts Neues. Also – schnellstens zur Wohnung dieses Menschen, der den nicht gerade seltenen Namen „Lehmann“ trug.

Aber irgendetwas störte mich an dieser angegebenen Adresse, die mir Sophie telefonisch mitgeteilt hatte. Ich begutachtete das Gebäude von allen Seiten. Es war ein altes Mietshaus mit einem Hinterhof, auf dem drei Autos standen, auch ein rotes. Die Zulassungsnummer stimmte – ich war also richtig!

Ins Haus zu gelangen war eine Kleinigkeit, hatte doch die Tür nur ein Schnappschloss, das auf Druck reagierte. Fünf Parteien wohnten in diesem aus den Gründerjahren stammenden Haus. Und auf dem Briefkasten las ich dann: Lehmann. Das war meine Zielperson. Also musste ich die einzelnen Etagen abklappern, um herauszufinden, welche Wohnung dieser Lehmann bewohnte. Es war ein äußerst hässlicher Hausflur, schlecht beleuchtet und mit Holzdielen, die wohl schon mehr als 100 Jahre auf den Buckel hatten. Hinzu kam, dass diese Dielen bei jedem Schritt knarrten, schön eingebohnert waren und damit schön rutschig – Gift für mein Hinkebein. Na ja, wenigstens war das Geländer stabil, so dass ich mich daran hochziehen konnte.

Ganz oben las ich dann: Lehmann Fotograf.

Also wieder vorsichtig hinunter – nur nicht ausrutschen. Innerlich verfluchte ich die reinlichen Hausfrauen und ihren Bohnerwachs. Verdammt, tauge ich wirklich nicht mehr für den Außendienst?!

Das ganze Haus war ruhig, kein Mensch begegnete mir. Jetzt hieß es: Warten, warten, warten! Der Klein gab mir telefonisch seinen kurzen Bericht. In der Wohnung der Michelle fand sich nichts, was auf die Entführung hindeutete. So bat ich ihn zu mir und er kam noch so rechtzeitig, dass ich ihn auf das rote Auto aufmerksam machen konnte. Er fuhr dem Lehmann hinterher und ich hinkte zum Haus. Hoffend, dass ich wieder unbemerkt in die oberste Etage kam, öffnete ich die Tür. Und - natürlich kam mir jetzt eine ältere Frau entgegen.

„Wohin wollen Sie?“, herrschte sie mich an.

„Zum Fotografen!“, antwortete ich. „Na, ob der noch da ist?! Sein Auto ist weg!“

„Ich hab einen Termin!“

„Na dann ist’s ja gut. Sie wissen wo?“

Ich nickte und enteilte, na ja enthinkte der Alten.

Schnaufend kam ich oben an, klingelte und erwartete, dass mir keiner aufmacht. Es machte keiner auf, also zweite Etappe: Schloss begutachten. Ergebnis: Kein Problem, um Einlass zu bekommen. Vorsichtig betrat ich die Wohnung, die eigentlich keine war. Ein kleines Zimmer war mit einer Couch, einem Tisch und einem Sessel bestückt. In der Ecke gab es ein Regal mit einem kleinen Kocher. Geschirr stand unbenutzt im Regal und benutztes im Abwaschbecken.  

Der zweite Raum war eine Dunkelkammer mit allen Utensilien  ausgestattet, die ein Fotograf so braucht. Der dritte Raum, den man nur durch den Aufenthaltsraum erreichen konnte, war der größte und hellste. Oberfenster ließen viel Licht in das Atelier. Scheinwerfer, Dekoration – aber nur die vielen Porträts an zwei Wänden erhielten meine Aufmerksamkeit. Aufnahmen von jungen hübschen Mädchen. Alle Haarfarben waren vertreten, wobei blond dominierte. Keine der Frauen war älter als 30, eher jünger so um die 20. Und einige der Frauen kamen mir bekannt vor. Jetzt musste ich improvisieren. Mein Handy hatte zwar eine Fotofunktion, aber ohne große Leistung. Hoffend, dass Sophie trotzdem die Fotos zum Suchen und Vergleichen verwenden konnte, fotografierte ich jedes einzelne Frauenporträt.

Dann bekam ich dieses komische „Bauchgefühl“, das mir signalisierte: Gefahr in Verzug! Ich glaubte, eine helle Frauenstimme zu hören.

Ich konnte noch die Wohnung verlassen, die Tür leise schließen und mich scheinbar wartend auf die Treppenstufe setzen.

Eine schwere Person kam nach oben, die Dielen knarrten und ächzten unter dem Gewicht. Dann stand die ältere Frau schnaubend auf dem letzten Treppenabschnitt und schaute nach oben.

„Hatte ich doch recht, der Lehmann ist schon weg!“

„Es sieht so aus. Hat wohl den Termin vergessen. Ist schon etwas lange her, als wir ihn vereinbart haben.“

„Soll ich ihm morgen was ausrichten?“

„Nein, nicht notwendig. Ich melde mich selbst bei ihm. Sonst klappt es vielleicht wieder nicht. Und hier geht es um wichtige Termine!“

„Na gut“, erwiderte die Frau. Ich stieg die Treppen herab, dabei versuchte ich, mein Hinken zu unterdrücken. Meine Identität wäre sonst leicht herauszufinden. Als ich an der Frau vorbeiging, bemerkte sie vorwurfsvoll : „Warum haben Sie denn nicht geantwortet, als ich gerufen habe?!“

Jetzt war guter Rat teuer. Stammeln oder diese Frage nicht zu beantworten ging nicht. Die Frau war ein zu guter „Wachhund“. So antwortete ich freundlich lächelnd: „Mir sitzt noch die Nachtschicht in den Gliedern. Ich habe mich auf die Treppe gesetzt und bin doch wahrhaftig eingeschlafen.“

„Ja, ja, das kenn ich. Mein Arthur war bei der Bahn – Gott hab ihn selig! Wenn der Nachtschicht hatte, schlief er hinterher– egal, wo er war. Ach ja, mein Arthur! Er war eine Seele von Mensch. Er konnte …“

Da ich nicht wissen wollte, was der verblichene Arthur konnte, beendete ich das Gespräch, indem ich auf meine Uhr schaute und freundlich aber bestimmt bemerkte: „Schon so spät! Jetzt muss ich aber …“

Ich ließ die gute Frau im Unklaren, was ich musste. Ich wusste aber, was jetzt zu machen war.

Sophies Computerkenntnisse waren gefragt. Meine Bilder von der Handykamera mussten begutachtet werden. Und das konnten wir eine viertel Stunde später.

Der Kriminalanwärter Freund beobachtete noch den Fotoladen, der Oberkommissar Klein war noch auf „Ansitz“ beim Lehmann. So standen der Kriminalanwärter Schuster, Obermeister Schlenk, meine Ex und ich vor dem Bildschirm. Meine Handy-Kamera taugte wirklich nichts.

„Ich hab schon alles probiert“, sagte Sophie fast traurig. “Besser kriege ich das nicht hin!“

Jetzt kam die Stunde des jungen Kriminalanwärters. Der Schuster verdrängte meine Ehemalige vom Computer. „Darf ich“ und „Seit 14 Tagen haben wir ein neues Bildbearbeitungs- und Erkennungsprogramm, Frau Schneider. Hier können Sie es aufrufen. Diese Funktionen …“ Schuster war in seinem Element und Frau Schneider lauschte andächtig. Und ich konnte nach 3 Minuten ausrufen: „Ich wusste doch, ich kenne diese Frauen!“

In diesem Moment trat der Klein ein, ging sofort zum Bildschirm, schaute zu mir: „Die vermissten Frauen? Stimmt doch?!“

„Genau, die seit Jahren vermissten jungen Frauen. Diese Fotos hängen beim Fotografen Lehmann.“

„Und dieser Lehmann hat seine Wohnung am Ortsrand. Es ist ein kleines Einfamilienhaus. Er wohnt allein, ledig. Es gibt nichts Auffälliges am Haus. Nachbarn haben keinen Kontakt. Ein Einzelgänger!“ Das war des Oberkommissars kurzer Bericht.

Nun mussten wir spekulieren: Welche Rolle spielt dieser Fotograf Lehmann in dem „Ring“? War er der Kidnapper der Michelle? Lebt diese junge Frau überhaupt noch? Oder ist sie bereits über die Grenze „verkauft“?

Es war spät. Es wurde für den nächsten Tag eine lückenlose Überwachung des Fotografen abgestimmt. Klein und ich übernahmen die „Frühschicht“. Wenn der Lehmann sein Haus verlassen hatte, sollte ihm Klein folgen und der Obermeister zu ihm stoßen. Die beiden Jungen kamen mit mir. Sie sollten „Schmiere“ stehen, während ich versuchte, ins Haus des Fotografen zu gelangen.

Am nächsten Morgen sah ich den Fotografen mit seinem roten Auto wegfahren. Schuster saß neben mir im Auto, der Freund wartete mit seinem Auto keine 50 m weiter. Er konnte damit auch eine Nebenstraße gut einsehen. Klein war dem Lehmann hinterher gefahren. Am Mietshaus des Fotografen wartete schon der Obermeister Schlenk.

Die Luft war „rein“! Mit den beiden Kriminalanwärtern hatte ich mich dahin gehend abgestimmt, dass sie mich vor jeder möglichen Störung meines „Hausbesuches“ warnen sollten. „Lieber ein Fehlalarm! Kein Risiko!“ Das habe ich ihnen dreimal „gepredigt“! Wir hatten uns „verdrahtet“, was nichts anderes hieß: Ich wurde per Sprechfunk über alles informiert. 

Ich näherte mich dem Haus und suchte zuerst nach versteckten Überwachungskameras. Das hatte zwar auch schon der Klein gemacht, aber besser ist es, zweimal zu kontrollieren.

Das Haus hatte einen Nebeneingang, der mit einer Eisentür gesichert war. Das Schloss konnte man ohne spezielle Hilfsmittel so nicht öffnen. Also nach vorn zum Hauseingang. Prüfend begutachtete ich den gesamten Hauseingang. Nichts Ungewöhnliches fiel mir auf. Alles war so, wie es in einem Einfamilienhaus zu sein hatte. Jetzt kam ein sehr wichtiger Moment: Ich musste prüfen, ob noch jemand im Haus war. Nach Aussage meiner Ex lebt dieser Fotograf solo, aber das hieß ja aber nicht, dass eine Freundin oder ein Freund Mitbewohner des Hauses sein konnten. Ich klingelte Sturm – wieder und immer wieder! Nichts! „Ich geh jetzt ins Haus!“, sprach ich in das kleine Mikrofon.

Das Schloss wäre selbst für einen ungeübten Einbrecher ein leichtes Spiel. Schon kamen mir Zweifel, ob dieses Haus wirklich für ein Verbrechen benutzt wird. Alles war viel zu normal. In der Wohnung fiel mir sofort die spartanische Inneneinrichtung auf. Alles war zweckmäßig eingerichtet, oder sollte ich besser sagen: einfach nur hingestellt. Das Obergeschoss, die kleinen Dachkammern waren leer, das Hauptgeschoss war reiner Wohnraum, blieb noch der Keller zu erkunden. Auch dass, was ich hier sah, entsprach dem Normalen: Heizraum mit Öltank, Wäschetrockenraum, Abstellkammer. Schon wollte ich mich zur Treppe zurückbewegen, als mir direkt unter der Treppe eine kleine schmale Tür auffiel. Eine leere Kiste stand davor, scheinbar abgestellt. Ich zückte meine kleine Taschenlampe und leuchtete in die dunkle Ecke. Die Tür war mit Eisen beschlagen und eine kleine Fensterklappe war eingebaut - zugeschlossen, wie auch die Tür. Ich begutachtete das Schloss und musste feststellen, das war nicht einfach zu knacken. Selbst das Schloss, mit der die Türklappe verschlossen war, war mit meinem einfachen „Einbruchswerkzeug“ nicht zu öffnen. In diesem Moment hörte ich eine Stimme. Zuerst dachte ich, Freund oder Schuster reden mit mir, aber die Stimme war weiblich – eindeutig … und die Stimme sang. Ich legte mein Ohr an die Tür und lauschte: Ich hatte mich nicht geirrt. Das musste die bewusste Michelle sein. Ich hatte sie gefunden! Innerlich jubelte ich, ich hatte es geschafft! Schon wollte ich gegen die Tür schlagen und mich bemerkbar machen, als ich Kriminalanwärter Schuster im Kopfhörer vernahm: „Chef, ein verdächtiger PKW nähert sich langsam dem Haus.“

Das konnte viel oder nichts bedeuten. Für mich hieß es erst mal: raus hier und nicht das Leben der entführten Michelle gefährden. Als ich vor der Eingangstür stand, holte ich mir neue Informationen über dieses Auto bei Schuster ein. Schuster gab Entwarnung. Er meinte, dass der Fahrer nur am Ende der Straße wenden wollte. Sicherheitshalber mahnte ich: „Meldung, wenn Auto weggefahren.“

Es vergingen wohl zwei Minuten, dann kam: „Straße frei!“ Ich öffnete die Tür und verschloss sie von außen. Nichts sollte auf mein unberechtigtes Eindringen hinweisen, war mir doch während ich auf Schusters Meldung wartete ein Einfall gekommen. Und diesen musste ich sofort mit Oberkommissar Klein und bestimmt auch mit dem Präsidenten besprechen. Ich erteilte an die beiden Anwärter die Weisung: Beobachten! Beobachten! Beobachten! Sofort Alarm geben, wenn verdächtige Aktionen erfolgen! Lieber zu vorsichtig melden, als gar nicht!

Klein traf mit mir fast gleichzeitig im Präsidium ein. Der Obermeister saß weiterhin auf Beobachtungsposten vor dem alten Mietshaus und sollte alle „Bewegungen“ des Fotografen „mitmachen“.

Zuerst musste Klein und Sophie mir bestätigen, dass mein Plan machbar war – und sie meinten: Riskant, sehr riskant, aber machbar – wenn der Chef zustimmt. Und der Chef war unser Präsident.

„Sophie, frag mal die Neue, ob der Präsident Zeit hat!“

Sophie fragte und sagte dann: „Der Präsident ist allein im Zimmer. Wir sollen selber fragen.“

„Sophie, rufst du …?“

„Ne, Manfred! Ich nicht!“

„Ach was, wir gehen einfach hoch und fragen ihn selber, ob er Zeit hat! Komm Frank!“

Der Oberkommissar Klein kam mir zwar hinterher, um aber mehrmals zu betonen, dass ich den Chef fragen sollte. Ja, so ist das mit den Chefs: Man braucht sie für wichtige Entscheidungen – aber sonst macht man viel lieber drei große Bogen um sie.

Im Vorzimmer telefonierte die Neue gerade - wir warteten. Und dann sagte doch die Neue: „Der Herr Präsident hat Zeit für Sie. Gehen Sie bitte hinein!“

Garantiert hat die Sophie mit der Neuen telefoniert und die hatte wohl Angst, mit mir neuen Ärger zu bekommen. So ging es mir durch den Kopf, als wir ins Präsidentenzimmer traten.

Beim Präsidenten kam ich gar nicht zu Wort. Er begrüßte uns kurz angebunden, um dann zu sagen: „Sie wollen eine Entscheidung?! Kurzfassung der Fakten!“

Und ich berichtete die Fakten und dann kam mein Vorschlag: „Herr Präsident, wenn wir die entführte Michelle mit einer Polizistin, die ihr ähnlich sieht, austauschen, können wir den ‚Ring‘ von dieser Seite her aufrollen. So kommen wir bei der Übergabe an die Hintermänner. Und diese Übergabe ist fällig. Die Michelle befindet sich jetzt schon mehr als 5 Wochen in dieser Wohnung. Garantiert wird bald die Übergabe an die ‚Verkäufer‘ erfolgen. Dann kennen wir auch die Transitwege. Wir bräuchten eine ständige Telefonüberwachung aller Festnetz- und Mobilfunkanschlüsse von diesem Fotografen Lehmann. Freiwillige junge Polizistinnen, die bereit wären, ein großes Risiko einzugehen und eine Rundumüberwachung beider Häuser, in der sich der Fotograf aufhält. Und dann noch das Quäntchen Glück, Herr Präsident.“

„Oberkommissar Klein, Ihre Meinung? Machbar?“

Klein enttäuschte mich nicht. „Mit genügend Leuten schaffen wir das! Wir tauschen morgen die Frauen aus und dann heißt es nur noch warten!“ Und der Klein wusste, was er sagte, schließlich musste er als leitender Kommissar seinen „Kopf“ für diese Aktion hinhalten – ich war ja nur ein Zivilist!

Ich überließ es Klein, mit allen Dienststellen zu telefonieren und nach blonden jungen Polizisten „zu fanden“. „Verlange Fotos!“, rief ich ihm noch zu, als er ins Nebenzimmer zum Telefonieren verschwand. Ich selbst belegte Sophies Telefon, um den Pflanzendoktor zu erreichen.

Doch der Kerl war telefonisch nicht zu erreichen - so die Aussage einer jungen Frau. Mürrisch bat ich diese nette, frisch klingende Telefonstimme am anderen Ende der Leitung, dem Dr. Malkow doch eine wichtige Nachricht zu übergeben. Aber neugierig war die Stimme auch. „Sind Sie etwa der Detektiv?“, wollte sie wissen. Sie musste es nicht wissen.

Ich hinkte zur Abteilung „Diebstahl“. Dort erwartete mich schon der Klein und neben ihm stand der Wagner, ein Spezialist für Einbrüche. Er knackte jedes Schloss – besser als jeder Einbrecher. Er legte mir viele Schlösser vor und ich musste jetzt das richtige herausfinden, nämlich das Schloss, mit dem diese Gefängnistür gesichert war. Zwei dieser Schlösser könnten es sein – da war ich mir sicher. Also musste ich bei beiden und mit beiden mein „Einbrecherglück“ versuchen.

„Mayers, mehr Gefühl!“, murrte der alte Wagner und dann packte er mich an meinem wunden Punkt. „ Mayers, vielleicht ist es besser, ich öffne das Schloss!“

Wenn Blicke töten könnten - der Wagner hätte jetzt ein Problem. Ich knurrte aber nur: „Ich geh rein, nur ich – und ich knacke das Schloss.“

Klein kannte den alten Wagner und er kannte mich. Schmunzelnd verzog er sich in die Cafeteria. „Kommt nach, ich lade euch zum Kaffee ein!“, rief er uns beiden zu und verschwand.

„Ein Schloss ist wie ein junges Mädchen, Mayers. Mehr Gefühl, Mayers!“ Das war einer von Wagners blöden Sprüchen.

Und ich öffnete das Schloss – gefühlvoll. „Und nun das zweite, Mayers – aufpassen auf das Häkchen!“

Und ich knackte das zweite Schloss und gleich alles noch einmal - und noch einmal - und noch einmal mit verbundenen Augen! Während aller meiner erfolgreichen Versuche bekam ich auch kostenlos einen Vortrag über die Kunst des „Einbrechens“, und weil der alte Wagner stolz auf sein Geschick und auf sein umfassendes Wissen war, dehnte er den Vortag auf die Zeit des Mittelalters aus. Und als er von den Bettlerkönigen in den mittelalterlichen Großstädten erzählte, unterbrach ich ihn doch mit der Bemerkung: „Reicht das Wagner oder willst du mich weiter schikanieren!?“

„Na ja, Mayers, als Anfänger bist du nicht schlecht. Aber damit dein tägliches Brot zu verdienen – da, nee Mayers, das reicht noch nicht.“

„Aber mir! Komm, der Klein gibt einen heißen Kaffee aus.“

Das Kaffeetrinken wurde von meinem Handy gestört. Sophie suchte uns. Sie hätte wichtige Neuigkeiten für uns. Also stürzte ich den heißen Kaffee hinunter und zerrte den Klein vom alten Wagner weg.

Zuerst zeigte uns Sophie die eingegangenen E-Mails – zwanzig waren es wohl – den meisten war ein Bild einer jungen blonden Frau zugefügt. Da wir alle das Foto der Michelle in 3-D kannten, konnten wir jetzt eine Vorauswahl treffen. Zehn junge Frauen blieben übrig. Der Oberkommissar Klein übernahm es, alle Frauen telefonisch zu befragen, ob sie freiwillig eine eventuell riskante Aufgabe, die auch einen ungewissen Ausgang nehmen könnte, übernehmen würden.

Klein verschwand nach nebenan und Sophie holte eine Liste hervor. „Manfred, ich habe alles aufgeschrieben, was ich über den Lehmann erfahren konnte. Ein Rückruf fehlt mir noch, dann müsste ich alles erfragt haben.“

Die Sophie Schneider ist wirklich ein außerordentliches Organisationstalent. Sie trägt in kürzester Zeit zusammen, wozu andere Wochen bräuchten. Dabei versteht sie es so geschickt zu fragen, dass der Befragte gar nicht merkt, dass er vielleicht sogar ein kleines oder großes Geheimnis so nebenbei ausplaudert. Glauben Sie mir’s, ich weiß wovon ich rede. Sophie hatte ihre „Kunst“ an mir weidlich verfeinert!

Ich überflog den Zettel, den mir Sophie reichte. Und was ich las, bestätigte meine Meinung, dass dieser Fotograf Lehmann eine Schlüsselrolle in dieser mafiösen Struktur des „Ringes“ spielt. Er hatte innerhalb der letzten 10 Jahre zwei Häuser gekauft. Ich kannte beide Häuser. Das Geld kam jeweils von einem ausländischen Guthaben. Seiner Steuererklärung zufolge, ist er aber arm wie eine Kirchenmaus. Scheinbar hält er sich mit einzelnen Fotos, die er an verschiedene Abnehmer verkauft, über Wasser. Wahrscheinlich verkaufte er auch so das Michelle-Bild an diese Firma, die 3-D-Bilder produziert. Sehr interessant ist auch, dass er einmal im Monat für mindestens 3 Tage ins Ausland fährt. Wie die Sophie das herausbekommen hat, ist mir schon ein Rätsel, aber wenn Sophie das hier aufgeschrieben hat, dann stimmt das einhundertprozentig.  

Dieser Lehmann lebt so unauffällig, dass es schon wieder auffällig ist. Keine Freunde – jedenfalls nicht in unserer Stadt – Sophie hätte das herausgefunden. Keine Vorlieben, keine Frau – auch keine Ex, keine Freundin für einsame Nächte. Der Mann könnte auch als „Heiliger“ im Kloster leben.

„Sophie, schreib das mal für den Chef auf. Der will bestimmt auf dem Laufenden sein. Gibst es ihm!“

„Ich zum Präsidenten?!“ Sophie machte große erschrockene Augen. „Nie und nimmer! Geh selber!“

„Na, dann schick ihm eine E-Mail!“

„Weiß der Präsident überhaupt, was eine E-Mail ist? In seinem Zimmer steht kein PC, auch kein Laptop.“

„Na, dann schick der Neuen doch eine Mail – ins Vorzimmer.“

„Nichts da, Manfred! Geh zum Präsidenten und informiere ihn. Ich drucke dir das fein säuberlich aus und dann bist du oben!“  

„Aber mein Bein, Treppen mag es nicht!“

„Du musst es trainieren – schon vergessen, was du mir vor einigen Monaten erzählt hast?!“  

Der Drucker rasselte, wortlos nahm ich die beiden bedruckten Bögen und verschwand. „Biest!“, sagte ich leise, aber doch so laut, dass meine Ex es hören musste. Sophie hörte es und schmunzelte.

Ich war noch nicht im Vorzimmer meines ehemaligen Chefs angekommen, als mein Handy klingelte. Sophie war dran. „Manfred, das ist ganz wichtig! Komm zurück!“

„Sophie mein Bein!“

„Komm zurück! Ich bestelle auch den Oberkommissar zu mir!“

„Verdammt!“, fluchte ich laut. „Die Sophie weiß doch von meinen Schmerzen, wenn ich Treppen steigen muss! Die will mich doch nur ärgern!“

„Meinen Sie, Oberkommissar?“ Aus einem Nebengang kam der Präsident. Ich hatte wohl meinen Unmut doch etwas zu laut zum Ausdruck gebracht und hatte einen Mithörer – und das war ausgerechnet der Chef.

„Ich, ich wollte eigentlich zu Ihnen, Herr Präsident. Aber Frau Schneider hat sehr wichtige Neuigkeiten und bestellte mich in ihr Zimmer. Es muss wohl sehr wichtig sein, der Klein muss auch kommen.“

„Na, da werde ich wohl auch zur Frau Schneider gehen! Wenn das so wichtig ist! Vielleicht eine neue Wende in unserem Fall?!“

Ich hoffte für Sophie, dass es wirklich etwas ungeheuer Wichtiges war, denn sonst … Na ja, mein Ärger war schon verraucht. Wenn der Chef mit nach unten kommt, brauche ich nicht noch einmal die Treppen hoch.

Meine Ex empfing mich: „Mensch Mayers, wenn das stimmt, dann …“

Das Ende des Satzes blieb sie mir schuldig. Vor mir war der Präsident ins Zimmer getreten und Sophie hatte gar nicht hochgeblickt, als die Tür geöffnet wurde. Dann erblickte sie den Chef, lief rot an – mitleidslos vermerkte ich: rot wie eine Tomate -, schoss vom Stuhl hoch und begrüßte ihren obersten Chef: „Guten Abend, Herr Präsident!“

„Guten Abend, guten Abend, Frau Schneider! Was gibt es Neues?“

„Eh, hm … von der Telefonüberwachung habe ich eine E-Mail erhalten. Sie haben mir einen Mitschnitt geschickt. Es ist nur ein Ausschnitt, das ganze Telefonat bring jemand rüber.“

„Na dann lassen Sie mal hören, Frau Schneider!“

„Sofort!“ Sophie verhaspelte sich vor lauter Aufregung beim Öffnen der Mail, dann war eine männliche Stimme zu hören: „Mittwoch um 17 Uhr, ich wiederhole um 17 Uhr, wird das Paket abgeholt. Es ist der alte Bote und bringt auch Ihr Päckchen mit.“

„Das ist aber wirklich wichtig, Oberkommissar Meyers. Besprechen wir bei mir den weiteren Einsatz!“ Doch jetzt schmunzelte der Chef wahrhaftig und meinte lächelnd: „Wenn ich von Ihnen einen guten Kaffee bekomme, Frau Schneider, können wir hier auf den Oberkommissar Klein warten und wir ersparen uns einmal die vielen Treppenstufen.“

Sophie konnte Kaffee kochen und der Chef überflog in der Zwischenzeit die Fakten, die Sophie über den Fotografen Lehmann gesammelt hatte.

„Also wirklich, Oberkommissar, ich muss es wieder sagen, Sie hatten mal wieder den richtigen ‚Riecher‘. Alles deuten darauf hin, dass wir diesmal diese Bande ergreifen können. Übermorgen könnte diese sogenannte Übergabe sein?! Schaffen Sie das mit Ihren Vorbereitungen, Oberkommissar?“

„Ja, wir schaffen das. Morgen holen wir das Opfer aus ihrem Gefängnis und eine Polizistin übernimmt eine Stunde später ihren Platz. Das ist alles soweit vorbereitet. Oberkommissar Klein hat von 6 Polizistinnen eine Zusage zur Mitarbeit bekommen – wenn diejenige denn Ähnlichkeit mit dieser Michelle hat. Was wir gebrauchen könnten, wären weitere Kollegen, die zur Observierung eingesetzt werden könnten. Unsere Kriminalanwärter und der Obermeister müssten sich mal richtig ausschlafen können.“

„Und Sie, Mayers? Auch Schlaf nötig?“

„Nicht nötig, ich bin fit!“ Wenn der Chef wüsste, dass mein sehnlichster Wunsch ein Schlaf von wenigsten 8 Stunden wäre und mein Hinkebein eine Auszeit bräuchte, er würde … Ach was, das braucht er nicht zu wissen!

Der Klein stürmte ins Zimmer und erschrak, als er den Chef erblickte.

„Guten Abend, Oberkommissar!“, begrüßte ihn der Präsident. Und der altgediente Oberkommissar Klein stammelte: „Guten …guten Abend, Herr Präsident.“

Warum nur wirken angesehene und respektvolle Vorgesetzte immer so „erschreckend“ auf ihre Mitarbeiter? Kennen Sie auch dieses Phänomen? Man weiß ganz genau, der Chef mag einen, ist mit der geleisteten Arbeit zufrieden und doch … die menschliche Psyche ist schon ein eigenartiges „Ding“!

Unser Chef genoss seinen Kaffee und ließ uns den morgigen Tag planen. Kein einziges Mal mischte er sich ein. Ich kannte ja seine Methode, wie er mit Untergebenen zu arbeiten pflegte. Für einen Fremden schien das so zu wirken, als säße auf dem Chefsessel ein Dilettant. Und das war das Gute: Jeder im Präsidium, der einmal direkt mit dem Präsidenten zusammengearbeitet hatte, wusste, dieser Mann kennt die gesamte Polizeiarbeit, hat sie von der Pike auf gelernt. Nach einer viertel Stunde war alles besprochen, der Präsident hatte seinen Kaffee ausgetrunken und meinte dann: „Gute Arbeit, meine Dame, meine Herren! Sehr gut!“

Und er verschwand in sein Büro. Ich schaute auf die Uhr. Erschrocken stellte ich fest, dass ich nur noch 15 Minuten bis zum Treff mit dem Pflanzendoktor hatte. „Klein, du musst mir helfen. Schick ein Blaulicht vor mir her. Wenn ich zum Treff mit dem Malkow zu spät komme, könnte unser schöner Plan in die Hose gehen.“

5 vor 18 Uhr stand ich vor dem Haus. Ein Wink zum Fahrer des Polizeiauto und ich war nur noch Detektiv Mayers. Die Treppen zur Wohnung wurden zur Qual. Eindeutig hatte ich meinem Hinkebein zu viel zugemutet, aber diesen Fall musste ich durchstehen - und wenn ich wieder die alten Krücken aus der Bodenkammer herausholen muss. Dieses schwor ich mir beim Hochgehen, besser wäre zu sagen beim Hochziehen zur Wohnung des Dr. Malkow. Vor der Tür straffte ich meinen Invalidenkörper und machte ganz auf „frechen, ungehobelten“ Detektiv. Es war aber auch zu verführerisch, wie die fein säuberlich geschmierten Schnittchen auf dem Teller lagen. Nur der Tee bekam meinem Magen nicht, der stand nur auf Kaffee. Malkows entrüsteten Blick, als ich ihn um Kaffee bat, ignorierte ich. Dafür bedankte ich mich für sein Abendbrot mit der Aussicht, seine Michelle morgen in den Armen zu halten. Ganz bewusst verzichtete ich auf Einzelheiten, der Pflanzendoktor konnte sich morgen sowieso alles selbst zusammenreimen. Ich fuhr nach Hause, nur noch schlafen. Trotzdem stellte ich mir den Wecker und ließ mich zusätzlich vom Telefondienst wecken.

Ich bin mal geradeso ins Bett gekommen, streckte mein Hinkebein aus und schloss die Augen. Schlafen, nur schlafen!

Der nächste Tag war für den Pflanzendoktor und seiner Michelle der entscheidende; ich dagegen fieberte dem Tag entgegen, an dem ich diesen „Ring“ zerschlagen konnte. Aber immer schön eins nach dem anderen. Die Befreiung der Michelle verlief ohne Störung. Mehr als 10 Augenpaare verfolgten mich beim Hineingehen, ich selbst war verkabelt und hatte mehrere Wanzen bei mir, die ich im Haus anbrachte. Ein großes Problem hätte es geben können, wenn mich Michelle als ihren Befreier nicht anerkennen will. Aber ich hoffte, dass der Name des Pflanzendoktors sie zum Verlassen ihres Gefängnisses veranlasst, denn sonst … ja, ich war bereit, auch physische Gewalt anzuwenden, um Michelle zu befreien. Aber das war nicht nötig. Der Name Georg Malkow wirkte wie ein Magnet. Ich führte eine verstörte junge Frau aus dem Haus und übergab sie einem sichtlich gerührten Pflanzendoktor.

Wir hatten uns in der SOKO daraufhin abgestimmt, dass wir die Entführte und ihren Doktor aus dem Fall heraushalten, wussten wir doch auch nicht, wie groß dieser Verbrecherring war, wer verstrickt ist oder wer Informationen liefern konnte.

Auch im Präsidium lief alles entsprechend unserer Vorbereitungen, die richtige Ersatz-Michelle war schnell gefunden. Sie sah der echten Michelle verblüffend ähnlich – wie Schwestern. Auf dem Weg zur Lehmann-Wohnung verkabelte sich die junge Polizistin noch im Auto, ich erklärte ihr, wo die Wanzen sind, wobei die wichtigste für sie die im Kerkerraum ist. Dann fiel mir mit Schrecken ein, dass ich noch nicht einmal ihren Namen kannte. Das ist schon eine blöde Situation, eine junge Frau ist bereit, auch ihr Leben einzusetzen und ich Hornochse kenne noch nicht einmal ihren Namen.

„Polizeimeister Cornelia Fritsche, Herr Oberkommissar“, sagte sie. Und ich: „Also, den Kommissar streichen wir. Auch streiche ich den Polizeimeister und die Frau Fritsche! Wenn ich mit Ihnen über die Leitung spreche, sind Sie Cornelia und ich bin der Mayers. Und da es mir schnell passieren kann, dass ich statt des ‚Sie‘ das ‚du‘ verwende, sage ich gleich Cornelia und du sagst Manfred oder Mayers. Ist auch der Situation angepasster. Einverstanden?“

Cornelia war einverstanden und sie erregte mein Interesse, als sie bemerkte: „Ist auch familiärer!“ Gehört sie etwa zu der Gruppe von Polizeibeamten, die den Polizeiapparat als eine „große Familie“ betrachtet. Diese „Art“ Polizisten ist doch schon lange „ausgestorben“ – oder?

„Vater oder Mutter?“ Cornelia schaute mich verwundert an. „Wer war oder ist Polizist?“

„Beide – auch mein Großvater.“

„Eine Polizistendynastie?!“

„Ja, ich wollte nur Polizistin werden.“

„Zufrieden damit?“

„Nein!“

„Wieso nicht?“

„Bin beim Verkehrsdezernat.“

„Bei den Verkehrsheinis!“ Ich schmunzelte. „Da hatte man mich auch hingesteckt.“

„Ich weiß, ich habe sie dort gesehen, Herr Oberkommissar.“

„Cornelia, ich heiße Manfred – nicht vergessen!“

Wir schwiegen und ich dachte: „Mayers, du bist wirklich ein Stiesel. Dein Hinkebein lässt dich noch nicht einmal junge hübsche Frauen beachten. Na ja – jetzt gilt es, diese junge Frau sicher vor dem ‚Ring‘ zu bewahren.“

In Sichtweite des Lehmann-Hauses hielt ich neben dem Auto des Obermeisters. Er leitete dort die Überwachung . „Kommissar, alles in Ordnung. Schuster hat mir gemeldet, dass der Lehmann sein Atelier nicht verlassen hat.“

„Obermeister, das ist Cornelia Fritsche – unser Michelle-Ersatz. Perfekt – was meinst du?“

„Hübsch, schade, dass ich glücklich verheiratet bin.“ Schlenk feixte übers ganze Gesicht. Polizeimeister Cornelia erglühte verschämt und fragte mich, auf das Lehmann-Haus zeigend: „Ist es dort?“

„Ja, wir gehen jetzt rein. Hast du noch irgend eine Frage?“

„Nein“, sagte sie und nach einer Weile fügte sie hinzu: „Bin nur furchtbar aufgeregt.“

Und ich muss ehrlich sagen, diese „Bin nur furchtbar aufgeregt.“ machte mir die Cornelia noch sympathischer.

Fast väterlich erwiderte ich: „Das ist schon in Ordnung. Wir passen auf dich auf – großes Polizeiehrenwort!“

Und der Obermeister bestätigte: „Wenn Mayers was verspricht, das hält er auch. Du bist sicher!“

Der Gang ins Haus fiel der Cornelia Fritsche sichtlich schwer. Ich vermute, dass jetzt erst so richtig ihr bewusst wurde, worauf sie sich eingelassen. Schon wollte ich fragen, ob wir die Aktion abbrechen wollen, als sie sich sichtbar einen Ruck gab und zu mir sagte: „Bringen wir es hinter uns!“

In ihrem Kerker zeigte ich ihr die Wanzen. „Die Batterien reichen mindestens 14 Tage! Auch wird dein Mikrofon ständig aktiviert sein. Wir hören also alles, was um dich herum geschieht. Zu 99% wirst du schon morgen wieder frei sein.“

Ich wollte mich schon verabschieden, als Cornelia zu mir kam und mich umarmte. „Du hast mir versprochen, dass du auf mich aufpasst. Das stimmt doch?“

„Darauf kannst du dich felsenfest verlassen!“ Cornelia war zufrieden. Und ich begann mich zu schämen, eine junge Frau, auch wenn sie eine Polizistin ist, für meinen Krieg mit dem „Ring“ zu missbrauchen.

„Wir können alles rückgängig machen … wirklich kein Problem!“, sagte ich jetzt und hoffte, sie sagt „Ja!“ Doch Cornelia setzte sich aufs Bett und sagte treuherzig und zugleich spöttisch lächelnd: „Mayers, ich habe doch dein Wort! Ich bleibe!“

Bereits in den nächsten Stunden wussten wir, dass wir mit der Auswahl unserer Ersatz-Michelle eine gute Wahl getroffen hatten. Sie untersuchte das gesamte Zimmer und informierte mich per Funkleitung: „Mayers, an der Wand stehen ganz klein geschrieben Namen von Frauen und dazu immer ein Datum. Ich lese mal vor.“

Cornelia las und wir notierten. Fünf Minuten später kam von Sophie die Mitteilung: „Es sind mehr Frauen, als bei uns als vermisst gemeldet sind.“

Da hatte sich die erste Inhaftierte an der Wand verewigt und die späteren Gefangene taten es ihr nach. Cornelia durchstöberte die Schränke und wir hörten: „Komplette Garderobe zum Wechseln. Die Kleidung ist ungetragen, Einkaufspreise hängen noch dran. Keine sehr teure Ware, aber geschmackvoll ausgesucht. Da hat wohl eine Frau ihre Hand im Spiel. Kann mir nicht vorstellen, dass ein Mann so Frauensachen aussucht. Auch komplette Unterwäschegarnituren liegen im Schub. Schmutzwäsche ist nur wenig vorhanden. Mehrere Bücher stehen im Regal, ein Radio, das auch funktioniert. Die Heizung ist einstellbar.“ Cornelia beschrieb uns jede Kleinigkeit in ihrem Gefängnis.

Dieser Lehmann muss sich sehr sicher gefühlt haben. Er ließ sogar Beweise für seine Verbrechen an der Wand stehen – so sicher und so ungestört konnte er über Jahre hinweg junge Frauen entführen. Cornelias Bemerkung, dass wohl eine Frau mit in diesem schmutzigen Menschenhandel verstrickt ist, ließ Sophie auf Hochform auflaufen. „Wenn es eine gibt, dann finde ich sie!“ Das sagte sie mir nicht nur einmal am Telefon und ich wusste, auf Sophie ist Verlass.

Der erste kritische Moment kam mit dem Feierabend des Herrn Fotografen Lehmann. Wird er was merken? Haben wir nur eine Kleinigkeit nicht beachtet? Ich saß mit Oberkommissar Klein im Auto und konnten dank unserer Wanzen den Ablauf rekonstruieren. Der Lehmann ging zuerst in die Küche und bereitete das Essen. Wir hörten Gescharre und Geklopfe, ein Zischen. Dann schlurfte er in den Keller. Während Klein vier Polizisten per Funk Anweisung erteilte, sich für das Stürmen des Hauses bereitzuhalten, hörte ich mit klopfendem Herzen folgende Sätzen: „Abendbrot! Essen! In 10 Minuten hole ich das Geschirr ab!“

Es klackte in den Ohrmuscheln, der Lehmann hatte das Türfenster wieder verschlossen. Ich wartete noch zwei Minuten, dann flüsterte ich ins Mikrofon: „Cornelia, Cornelia! Berichte!“

Und Cornelia antworte – man konnte ihre Erleichterung direkt anhören: „Alles in Ordnung. Er hat mich angeschaut, aber den Schwindel nicht bemerkt. Es gibt Gebratenes - Klopse, geschnittene Karotten und Brot. Es schmeckt sogar. Nur muss ich alles mit den Fingern essen, kein Besteck.“

Wir schauten uns an – Klein gab sofort den in Bereitschaft wartenden Polizisten durch: „Entwarnung! Alles läuft nach Plan!“

Ich rief Sophie an und sagte dasselbe, nur noch mit dem Hinweis: „Informiere bitte den Chef. Der wartet drauf!“ Und diesmal maulte die Sophie nicht.

Der Abend und die Nacht verliefen ruhig. Wir schliefen abwechselnd, Sophie kam und brachte uns allen belegte Brote, heißen Tee und Kaffee für mich. Damit so viele Menschen in vier stehenden Autos nicht Fremden auffielen, nahmen wir unseren Imbiss auf einem kleinen Parkplatz abseits der Hauptstraße ein.

Der nächste Tag war ein Mittwoch. Ob es der bewusste Mittwoch werden sollte? Wir hofften es für Cornelia.

Er musste es sein, denn unser Kidnapper verließ sein Haus nicht wie gewohnt. Dafür fuhr ein kleiner Lieferwagen vor. Eine Frau und ein Mann öffneten die Heckklappe des Autos und luden einen Kleiderständer aus. Dieser war vollbepackt mit Frauensachen. Sie trugen den Ständer zum Haus, klingelten und übergaben dem Lehmann den Kleiderständer. Der reichte der Frau einen Briefumschlag, die Haustür wurde geschlossen, die Frau schaute in den Briefumschlag und steckte ihn dann ein.

Kaum dass das Auto weggefahren war, wussten wir auch schon den Eigentümer des Wagens. Es war eine kleine Boutique in unserer Stadt. Sophie bemerkte dazu: „Das muss die Frau sein, die die Frau Fritsche meinte, denn ich habe keine Verbindung zu anderen Frauen gefunden.“

Dann fuhr erneut ein Auto vor, dem ein elegant gekleideter Mann entstieg. Er wurde eingelassen und verließ das Haus bereits wieder nach fünf Minuten. Und Sophie meldete: „Ein alter Bekannter. Hat mehrfach eingesessen wegen Urkundenfälschung und Passvergehen.“

Alles passte zu unserer Vermutung, dass die gekidnappten Frauen außer Landes gebracht werden. Und da man am schnellsten ein Land auf dem Luftweg verlassen kann, und man dafür auch sofort einen gültigen Pass benötigt, dürfte wohl feststehen, dass nur ein Flugplatz das Anlaufziel für die „Übergabe“ sein konnte. Aber welcher? In der näheren und weiteren Umgebung unserer Stadt kamen drei Flugplätze in Frage – ein großer und zwei kleine, die nur für Kleinflugzeuge geeignet waren.

Wir entschlossen uns, alle drei überwachen zu lassen. Außerdem hatten wir jetzt so viele Polizisten im Einsatz, dass auch alle Ausfallstraßen überwacht werden konnten.

Jetzt war es mittlerweile 10 Uhr geworden. Von Cornelia hörten wir nichts Neues. Dafür wusste sie von uns, dass eine Wende bevorstand, dass heute der bewusste Mittwoch ist.

Sie war sehr ruhig und gefasst und meinte auf meine Frage, ob sie sehr aufgeregt wäre: „Ich schaffe das schon.“

Mittags 13.16 Uhr – übers Mikrofon hörten wir Lehmanns Stimme: „Mitkommen! Baden!“

Die „heiße“ Phase begann. „Mensch Mayers, daran haben wir gar nicht gedacht – das Mikro! Cornelia muss baden! Wenn der Lehmann das Mikro findet?“

Mir begannen die Ohren zu glühen. Verdammt, verdammt! Da denkt man an alles Mögliche, aber nicht, dass das Opfer vor der Übergabe zum Baden geschickt wird.

„Klein, Bereitschaft aktivieren!“ Und der Oberkommissar informierte alle wartenden Polizisten im Umkreis des Hauses: „Achtung! Fertigmachen zum Stürmen!“

Es waren sehr viele bange Minuten, die wir warten mussten, dann hörten wir Cornelia flüstern: „Alles in Ordnung, konnte Mikrofon retten, ‚Ohrwurm‘ auch. Trage Mikro unter neuer Kleidung. Lehmann hat keinen Verdacht geschöpft.“

„Ist eine gute Polizistin!“, sagte ich erleichtert. Klein gab Entwarnung und ich schwor mir, zukünftig noch gründlicher Vorbereitungen zu treffen. Nur – hatte ich „zukünftig“ gedacht?! „Mensch Mayers, das ist dein erster Fall als Detektiv – vergiss den Polizisten!“ Das hämmerte ich mir jetzt ein.

15.34 Uhr: Ein Auto fährt vor. Es war ein Ford, älteres Baujahr – die zwei Männer allerdings waren jüngerer Natur. Sie klingelten und wurden sofort eingelassen. Wir warteten – warteten – warteten! Es ist furchtbar, wenn man nicht weiß, was geschieht.

16.05 Uhr: Die Tür öffnet sich, Cornelia verlässt in Begleitung der beiden jüngeren Männer das Haus, Lehmann schließt die Tür – ohne abzuschließen. Entweder fühlt er sich so sicher oder er wird nicht mehr zurückkommen. Nur dagegen spricht das fehlende Gepäck. Nur Cornelia trägt eine modische Handtasche. Überhaupt sieht unser Polizeimeister Cornelia in ihrer Kleidung schick aus – fast wie eine mondäne Frau.

Lehmann setzte sich hinters Lenkrad, Cornelia musste nach hinten auf den Rücksitz – zwischen die beiden Männer. Dann startet der Lehmann. Er fährt, wir in einem gebührenden Abstand hinterher. Jetzt sind wir auf der Hauptkreuzung, doch wir erwischen eine Rotphase und unser zu verfolgendes Auto ist weg. Über Funk bekommen wir die Mitteilung: „Ford-Fahrzeug fährt auf Ausfallstraße nach Norden!“

Oberkommissar Klein gibt den Einsatzbefehl. Nur wenige Minuten später rasen ein Notarztauto und zwei Krankenwagen mit Signal und Blaulicht an uns vorbei. Wir hängen uns an, um wieder Sichtkontakt zum verfolgten Ford zu bekommen. Jetzt sehen wir das Auto. Ich flüstere ins Mikrofon: „Cornelia, dass sind unsere Einsatzkräfte. In wenigen Minuten ist alles vorbei!“

Ich hoffe, die Polizistin Cornelia Fritsche hat alles verstanden!

 

Und ob alles gut ausgeht, das kann Ihnen der Polizeimeister Cornelia Fritsche selber erzählen. Wo? Natürlich hier!