Ich will arbeiten!

Ich will arbeiten!

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von Joachim Größer (2013)

 

Das also war mein letzter Arbeitstag. Eigentlich sollte ich mich freuen – so meinten die Kollegen. Und auch mein Nachfolger, den ich ein halbes Jahr lang eingearbeitet habe, gratulierte mir zum wohlverdienten Ruhestand.

Ruhestand! Wie das klingt! Ruhestand – das war für alle früheren Generationen: Im Alter nach einem langen Arbeitsleben endlich die Hände in den Schoß legen. Ruhestand hieß faulenzen, den Hobbys frönen!

Aber ich werde morgen erst 50! Bin ich alt? Das Lebensalter für Männer beträgt 100 Jahre, für Frauen sogar 105! Ich habe also theoretisch erst die Hälfte meines Lebens gelebt und gehe in den Ruhestand.

Na ja, jetzt fahr ich erst einmal nach Hause. Zwei Stunden und 11 Minuten dauert die Fahrt. Ich steige ins Elektromobil, gebe in den Minicomputer mein Fahrziel ein und das kleine zweisitzige Mobil surrt fast geräuschlos davon. Jetzt habe ich zwei Stunden Zeit, meinen Gedanken nachzuhängen – oder soll ich das Fernsehen einschalten, ein Spielchen wagen? Ach, mir ist nicht danach. Dieser Ruhestand schafft mich!

Geboren bin ich im Jahre 2000 – ein Millenniumskind. Ich habe mein Abi gemacht, Ingenieurswesen studiert, mich darüber gefreut, dass ich eine einigermaßen gut bezahlte Stelle bekam, und habe mich zum Abteilungsleiter hochgearbeitet. Als mein Arbeitsleben begann, arbeitete ich 40 Stunden in der Woche und meine Perspektive sah vor, dass ich mit 70 in die Rente gehen konnte. Was habe ich damals innerlich diese lange Lebensarbeitszeit verflucht. Bis zum 70.! Und nun bin ich mit 50 bereits Rentner.

Der Bordcomputer reißt mich aus meinen Gedanken. „In wenigen Minuten verlassen wir die Landesstraße und fahren auf die Autobahn auf. Haben Sie einen Wunsch? Soll ich das Dach öffnen? Möchten Sie Unterhaltung?“

„Ich will meine Ruhe!“ brülle ich den Computer an und schäme mich sofort meines Wutausbruches. Aber der Computer hat es verstanden. Die freundliche Frauenstimme schweigt – hoffentlich heute auf der ganzen Fahrt. Das Mobil verlangsamt die Fahrt und wechselt auf die Autobahnspur. Ich starre auf die Anzeige und lese: 80 km/h. Das ist die höchstzulässige Geschwindigkeit – quatsch – das ist die einzig zugelassene Geschwindigkeit auf dieser Autobahn. Nicht weniger und nicht mehr! Alle Fahrzeuge vor mir fahren 80, alle hinter mir ebenso. Das schwarze Autobahnband liefert die Energie für die Fahrzeuge. Solartechnik vom Feinsten: robust, unverwüstlich! Und ich habe Anteil an dieser Technik. Stellt doch mein Betrieb diese Energielieferanten her. Man müsste an diesen Modulen

noch …

„Max, du bist ab morgen im Ruhestand! Du veränderst nichts mehr an den Modulen! Du bist alt!!!“

Ich spreche mit mir selber! Ich bin wirklich alt! Ein 50zigjähriger Rentner! Vielleicht sollte ich mich der „Initiative für Arbeit“ anschließen. Sie organisieren fast täglich Versammlungen und Protestmärsche und verlangen, arbeiten zu dürfen. Arbeit bekommen sie zwar keine, aber sie sind den ganzen Tag auf Achse. Das lenkt sie vom Nichtstun ab.

Ja, bist heute hatte ich einen geregelten Arbeitstag: 2 Stunden und 11 Minuten mit dem Mobil zum Werk – 5 Stunden Arbeit einschließlich einer halben Stunde Essenszeit – 2 Stunden und 11 Minuten Fahrt vom Werk nach Hause. So ging das nun die letzten fünf Jahre. Einmal noch werde ich diesen Weg fahren – morgen: 2 Stunden und 11 Minuten zum Werk, 30 Minuten Geburtstagsgratulation, Hände schütteln, dumme Reden hören, neidvolle Blicke der Kollegen auffangen, dann 2 Stunden und 11 Minuten letzte Fahrt vom Werk nach Hause. Ende!!!

Diese Fahrt mit dem Elektromobil wird mir auch fehlen. Hier hatte ich meine besten Ideen. Ein Wort genügte und ein Hochleistungscomputer stand mir zur Verfügung. Hatte ich eine Lösung für ein Problem gefunden, so reichte ein Befehl und alle Daten landeten im Werk oder zu Hause. Aber in diesem Mobil konnte ich auch einfach nur meinen Gedanken nachhängen. Vor allem im letzten viertel Jahr habe ich mir viele Gedanken zur Vergangenheit gemacht. Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass ich vor 30 Jahren es nicht für möglich gehalten hätte, dass die Wissenschaft und Technik sich so rasant entwickeln und das gesamte gesellschaftliche Leben verändern könnte. Mein Urgroßvater kam als Krüppel aus diesem verdammten Krieg. Mein Großvater engagierte sich in der Gewerkschaft und forderte weniger Arbeit und mehr Lohn. Mein Vater musste bis zum 67. Geburtstag arbeiten und beklagte jeden Tag diese Sch…arbeit.

 Und ich will arbeiten und man lässt mich nicht. Schon diskutiert man, dass die Arbeitszeit auf 4 Stunden täglich abgesenkt werden kann. Und was wird sich in Zukunft noch alles ändern?! Als ich zur Schule ging, konnte sich keiner vorstellen, ohne Geld auszukommen. Und jetzt? Jeder Mensch erhält eine Grundsicherung. Mit einer Plastikkarte geht er einkaufen oder er lässt es sich durch den Automatenversand zustellen. Fehlt etwas im Kühlschrank, genügt es zu sagen: „Butter bestellen!“ Am nächsten Tag kommt die Butter mit dem Minitransport – automatisch natürlich. Man kann auch mehr bestellen, mehr als das wöchentliche Budget hergibt. Dann greift man die Reserven des sogenannten Angesparten an. Das ist die Löhnung für meine Arbeit. Normalerweise braucht das keiner. Ich kann nicht mehr essen, als ich darf – schon wegen der Gesundheit. Kleidung könnte ich wöchentlich neu bestellen – nur, wann soll ich das anziehen? Fahrtkosten gibt es nicht mehr, Fernsehen, Internet – alles kostenlos. Will ich verreisen, stehen mir im Jahr 2000 Kilometer zur Verfügung. Ich kann jedes Hotel kostenlos mit meiner Budget-Karte buchen. Will ich persönliche Betreuung, so nehme ich mein Angespartes. Und davon habe ich so viel, dass ich 150 Jahre alt werden müsste, um alles auszugeben. Paradiesisch – ich weiß und trotzdem bin nicht nur ich mit diesem Leben unzufrieden. Die Psychologen rufen: „Keine Panik! Das ist nur in der Übergangszeit.“ Aber ich meine, sie glauben selber nicht dran!

Ist das typisch für die menschliche Rasse – immer ist man mit den Gegebenheiten unzufrieden? Der Freund meines Opas – wir nannten ihn den „Revoluzzer“ – ließ keine Versammlung, keine Demonstration aus, wenn es gegen den Kapitalismus ging. Er konnte sich so in Ekstase reden, dass Opa dann immer lächelnd sagte: „Nun lass es mal gut sein, Jupp! Noch leben wir!“

Wenn ich heute an das Gestern denke, dann muss ich dem Jupp aber Recht geben: Der Kapitalismus konnte die Probleme seiner Gesellschaftsordnung nicht lösen. Er war unfähig, die Natur und Umwelt weltweit zu erhalten. Raubbau, Vernichtung riesiger Urwaldgebiete – das war das Sinnbild für seine Unfähigkeit. Jupp klärte mich damals auf: „Weißt, mein Junge“, sagte er, „wenn es nur um den Profit geht, nur um das Geld, dann verkauft der Kapitalist sogar seine Großmutter. Der Karl Marx hat das schon vor mehr als 150 Jahren erkannt. Er schrieb schon damals, dass für 300 Prozent Profit der Kapitalist jedes Verbrechen riskiert, selbst auf die Gefahr dafür am Galgen zu hängen.“ Und Jupp holte tief Luft und wollte Anlauf zu einem neuen Vortrag nehmen, und ich schaute Hilfe suchend zum Opa und der „erlöste“ mich und schickte mich in den Garten.

Aber recht hatte der Jupp. Eine Krise löste die andere ab. Auch wenn ich damals noch ein Kind war, die Sorgen der Erwachsenen um die Zukunft bekam ich mit.

Aber eins hätte der „Revoluzzer“ nie für möglich gehalten, dass der Kapitalismus sich selber abschafft. Ja, heute weiß ich es, eigentlich begann dieser Prozess damit, dass einige Milliardäre mit ihrem Geld nichts mehr anfangen konnten. Sie besaßen mehr Geld, als viele Staaten in der sogenannten dritten Welt ihr eigen nannten. Bill Gates, einer der „Väter“ der modernen Computerwelt, übergab die Hälfte seiner vielen Milliarden dem Gemeinnutz. Aber damals folgten ihm nur wenige. Erst in den 30-iger Jahren folgte die gewaltlose heimliche Revolution. Die Wissenschaft und Technik machte viele Menschen zu Arbeitslosen. Nach dem Vorbild der antiken römischen Gesellschaft versorgte man die Millionen und die Abermillionen mit Nahrung, Kleidung und billigem Wohnraum. Die Römer erfanden vor 2.000 Jahren „Brot und Spiele“, um die Menschen weiterhin beherrschen zu können, der moderne Kapitalist erfand den Begriff der „Versorgungsgemeinschaft“. Nur die Menschen wollten nicht nur versorgt werden. Und ausgerechnet im Mutterland des Kapitalismus, in England, wurde der Kapitalismus zu Grabe getragen – einfach so. Eine Gruppe der reichsten und einflussreichsten Briten übergaben ihre Fabriken, ihre Gesellschaften der Allgemeinheit. Sie übernahmen Verantwortung für ihr Tun und organisierten den Staat neu. Die Arbeitszeit wurde radikal reduziert, Menschen, die jahrelang zum Nichtstun verdammt waren, wurden wieder gebraucht. Die Lebensarbeitszeit sank, mit 70 oder 65 ging keiner mehr in Rente. Das Bildungswesen und das marode Gesundheitswesen wurden radikal erneuert. Mit Freude schauten die armen Menschen in der ganzen Welt auf die Engländer, mit Sorge verfolgten die Kapitalisten die „englische Entwicklung“. Hinter verschlossenen Türen wurde ein Krieg gegen England vorbereitet, denn was ist das für eine Gesellschaft, wo jeder arbeitet, jeder gut leben kann und jeder das Leben führt, das lebenswert ist.

Es gab aber keinen Krieg, es gab den Aufstand der Aufrechten. Als nämlich diese heimlichen Aktivitäten doch bekannt wurden, waren nicht nur Millionen Menschen auf der Straße, man zählte die Aufrechten nach Milliarden. Die „Aufrechten“ – so nannten sich die Menschen, die ihre Regierungen zum Rücktritt zwangen. Es fiel kein einziger Schuss, es wagte keine Regierung, ihr Militär gegen die „Aufrechten“ zu …

„Sehr geehrter Fahrgast, Sie haben Ihr Ziel erreicht. Wir wünschen Ihnen noch angenehme Stunden!“ Die Computerstimme brachte mich wieder in die Gegenwart zurück. Gegenwart – verdammt, ich bin ab morgen Rentner!

„Morgen früh um 7 Uhr 15 vorfahren!“, befahl ich dem Minicomputer. Und die nette Computerstimme erwiderte: „Habe notiert: ‚Morgen früh um 7 Uhr 15 vorfahren!“‘

So, jetzt brauchte ich nur noch dem Berg hinauf und ich stand vor meinem kleinen Häuschen. Meine Frau erwartete mich schon freudestrahlend. „Max, morgen beginnt unser neuer Lebensabschnitt – unser gemeinsamer Rentneralltag.“

„Wieso, du musst doch noch 3 Jahre arbeiten?“, fragte ich verwundert.

„Das ist mein Geburtstagsgeschenk für dich! Ich gehe jetzt mit dir in Rente, bekomme dafür als Bonus eine halbjährige Reise. Max, 6 Monate auf dem Rücken eines Pferdes durch ganz Europa! Ist das nicht herrlich?!“

Meine Gedanken schreibe ich jetzt nicht auf, aber was ich gesagt habe, können Sie gern lesen: „Das ist ja wirklich eine tolle Überraschung! Wann geht es denn los?“

„Übermorgen, die ersten drei Tage werden wir geschult und dann folgen wir dem europäischen Pferde-Trail. Ich freu mich ja so, mein Mäxchen!“

Also, wenn meine Franzi mich „mein Mäxchen“ nennt, dann darf ich sie nicht enttäuschen.

 

Und ich enttäusche sie nicht. Mein Hintern ist rot wie bei einem Pavian, jeder Knochen meines Körpers schmerzt, aber ich bin glücklich, weil meine Franzi glücklich ist. Eine Woche sind wir unterwegs und ich denke immer seltener an die Arbeit. Nur – was mache ich nach diesem halben Jahr? Vielleicht doch wieder arbeiten?!