Der Hellseher

Bitte beachten Sie!

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Sie dürfen meine Geschichte "Der Hellseher" kopieren und für den privaten Gebrauch nutzen. Änderungen dürfen nicht vorgenommen werden. Eine Vervielfältigung und Veröffentlichung, auch auszugsweise, bedarf immer meiner schriftlichen Zustimmung.

Der Hellseher

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von Joachim Größer (2015)

 

Ich spreche von mir, von Vinzenz van der Haid. Mein Name scheint holländischen Ursprungs zu sein, ich aber bin garantiert ein Deutscher, ein echter Norddeutscher. Aber all das ist eigentlich völlig unbedeutend und nebensächlich, aber da, nenne ich meinen Namen, ich garantiert Frager höre, die sofort die Antwort selber geben: „Aha, ein Holländer!?“

Also, bitte merken: „Ich bin ein Deutscher! Garantiert ein völlig normaler Deutscher! Ich habe Macken, wie andere auch! Nichts an mir ist außergewöhnlich!“

Das bitte prägen Sie sich ein. Und bitte denken Sie daran, wenn ich jetzt meine Geschichte, die sich doch wirklich einmal fast zu einer Leidensgeschichte zu entwickeln drohte, erzähle.

Meine Kinderjahre verbrachte ich in einer Kleinstadt, die sich zwar Stadt nannte, aber eigentlich doch nur ein Dorf war. Jeder kannte jeden, und wenn die Frau Mayer beim Kaufmann etwas besonders Seltenes kaufen konnte, so wollten dies auch Frau Schäfer, Frau Schmidt, Frau … Und der Kaufmann verkaufte. Er hätte es auch über dem Ladentisch verkaufen können, aber da wollte keiner seine Ware. Aber so …?! Dieses Geschäftsprinzip war so einfach und doch sehr optimal. Seit Jahren praktizierte es der Kaufmann, der auch mit bürgerlichem Namen Kaufmann hieß. Und mit diesem Gebaren des Herrn Kaufmann wurde meine spezielle Fähigkeit entdeckt.

Ich war ein pubertierender Jüngling, der nicht nur seine in die Länge geschossenen Gliedmaßen nicht beherrschte, sondern der auch sein Pickelgesicht verantwortlich machte, dass seine heimliche Liebe ihn, den Vinzenz, nicht beachtete.

Eines Tages hatte ich das komische Gefühl, dass mir mein Verstand etwas sagen wollte. Auf seinen Verstand muss man hören - also hörte ich: „Der Kaufmann verkauft die Pickelsalbe!“

„Mama! Gehst du heute zum Kaufmann? Er hat gerade die Pickelsalbe bekommen! Bitte kaufe sie mir!“

Da ich vormittags in der Schule war und jetzt schon die dritte Stunde an dem blöden Aufsatz saß, fragte mich meine Mutter, woher ich das wüsste. „Ist nur solche Eingebung!“, antworte ich. Wie sollte ich das auch sonst erklären.

Eine Stunde später stand die Pickelsalbe neben dem Aufsatzheft. „Der Kaufmann war sehr überrascht, dass ich von der Lieferung wusste“, sagte Mutter. Damit hätte eigentlich dies keine Nachwirkungen haben dürfen. Ich hatte die Salbe, einen Tag später auch meine Freunde aus meiner Klasse und der Herr Kaufmann rieb sich wie immer erfreut die Hände und schrieb schon eine neue Bestellung. Und noch einmal machte ich meine Mutter darauf aufmerksam, dass der Kaufmann eine Lieferung erhalten hatte. Suchte doch meine Mutter schon seit geraumer Zeit eine neue Jacke und Hose für mich. Bei meinen enormen Wachstumseigenschaften hatte die jetzige Hose „Hochwasser“ und die Jackenarme – na ja, Sie wissen doch, wie unmöglich das aussieht. Und meine heimlich Angebetete ging immer adrett und hübsch anzusehen; und ich wollte sie doch an einem Sonntag ins Kino einladen. Also stürzte meine Mutter mit mir zum Kaufmann, um unbedingt als Erste für ihren Sohn das Passende aus dem geringen Angebot herauszusuchen.

„Wie machen Sie das, Frau van der Haid?“, fragte der Kaufmann verwundert. „Die Ware ist noch nicht ausgepackt.“

 „Na dann bin ich ja gerade richtig. Mein Vinzenz braucht Hose und Jacke. Und bitte, etwas reichlich. Der Junge wächst und wächst.“

Und der Junge bekam Jacke und Hose, in die er zwar frühestens in einem Jahr hineingewachsen war, aber auf alle Fälle besser reichlich als „Hochwasser“. Jetzt konnte ich überlegen, wie ich die Mechthild ansprechen konnte. In solchen Sachen wäre ein älterer Bruder, selbst eine ältere Schwester hilfreich, aber ich war Einzelkind. Meine Freunde? Das Hänseln konnte ich mir gut vorstellen. Ich musste mir selber eine Strategie ausdenken. Und das war schwer!

Schwer hatte es jetzt auch meine Mutter. Wollten doch ihre Freundinnen und Bekannten wissen, wieso sie wüsste, wann der Kaufmann welche Waren bekam. „Mein Vinzenz sagt mir das!“, erklärte meine Mutter stolz. „Er kann hellsehen!“

Das hässliche Wort war gefallen: Der Vinzenz van der Haid ist ein Hellseher!

Ungläubig waren die Freundinnen meiner Mutter, doch dann testeten sie mich. So musste ich voraussagen, wann die Frau Schmidt ihre warmen Herrensocken bekommen würde und die Frau Sichle die neue Bratpfanne und die Frau Mayer die neuen Haarlockenwickler und die Frau … Meine Mutter schrieb alles fein säuberlich auf und ich musste weissagen. Ehrlich – ich war gut! Nur Treffer! Leider versagte mein „Zweites Gesicht“, wie meine hellseherischen Fähigkeiten auch genannt wurden, völlig in der Liebe. Die Mechthild, die ich so anbetete, gab mir einen Korb.

„Ins Kino!?“, sagte sie nur. „Mit dir?!“ Sie ging und ich stand wie ein begossener Pudel.

So wurde mir bewusst, dass auch Hellsehen seine Grenze hat.

Und leider hatte ich auch in meinem späteren Leben kein Glück, wenn es um die Liebe ging, und ich auf meine besondere Fähigkeit vertraute. So stellte ich in der Liebe alles auf den Kopf, und statt dass ich eine junge Hübsche erobern wollte, ließ ich mich von den „Jungfrauen“ des Landes in Besitz nehmen. Statt mir selbst „Körbe“ zu holen, verteilte ich sie jetzt. Aber eingedenk meines ersten „Korbes“ – Sie wissen, das war der Korb der Mechthild! – waren meine „Körbe“ niemals abweisend oder gar unhöflich. Dank Mechthild war ich ein „Frauenversteher“.

Meine hellseherischen Fähigkeiten setzte ich aber gezielt für meine schulische Karriere ein. Nicht dass ich wüsste, welche Aufgaben in der Mathearbeit dran kämen. Nein – so ging das bei mir nicht. Ich vertraute darauf, dass mir mein Verstand sagte, dass Aufgaben aus diesem oder jenem Komplex dran wären. Und nur das lernte ich – und es klappte, immer! So gehörte ich zu den Besten der Klasse und auch bei meinem Studium der Psychologie bot mir diese Methode enorme Vorteile. Anmerken muss ich jetzt, dass ich die Psychologie nur gewählt habe, um herauszubekommen, wieso ich Dinge, Vorgänge voraussehen, vorausahnen konnte.

Meine Professoren bezüglich dieses Phänomens anzusprechen, traute ich mich nicht, wollte ich mir doch eine Abfuhr ersparen. Angesprochen wurde es während des Studiums, allerdings in einem völlig anderen Zusammenhang. Nach dem Vortrag meines Lieblingsprofessors über die Parapsychologie vermied ich es peinlichst, auch nur einen Gedanken an meine hellseherischen Fähigkeiten zu äußern.

Nun nannte ich mich Diplom-Psychologe, und ich musste entscheiden, ob ich mich zukünftig Dr. Vinzenz van der Haid nennen sollte oder der Uni „Ade!“ sage und mich lieber auf dem freien Arbeitsmarkt umsehe. Obwohl mich mein Professor drängte, eine Uni-Karriere einzuschlagen, war mir eigentlich das Leben im wahren Leben sympathischer. Nur wer stellt einen diplomierten Psychologen ein? Jetzt wandte ich mein „psychologisches“ Denken an und entschied: Der Zufall soll es richten. Ich lebte mein Studentenleben weiter – allerdings mit dem Unterschied, dass ich meine Arbeitskraft an jeden verkaufte, der sie mir bezahlen wollte. Meine hellseherischen Fähigkeiten habe ich während des Studiums nicht zur vollen Entfaltung bringen können. Sie wissen ja: Parapsychologie! Jetzt aber verhalf mir mein „Können“ recht häufig zu recht guten Jobs. Beim Zeitungskauf verkündete mir mein „Verstand“: „Vinzenz, du gibst eine Annonce auf!“ Und auf seinen „Verstand“ muss man hören. Eine Woche später konnte man weit und breit lesen, dass ein Diplom-Psychologe eine interessante Tätigkeit sucht. Absichtlich habe ich keinen Arbeitsbereich vorgegeben – der Zufall sollte es richten. Und er richtete! Aus mehreren Angeboten entschied ich mich für ein Polizeipräsidium, das für seine Polizisten psychologische Betreuung suchte.

Das erste Gespräch war sehr aufschlussreich, die Bezahlung nicht. Bei Eignung winkte mir später die Übernahme in den höheren Dienst. „Höherer Dienst“ – wie das klingt! Also muss es auch bei der Polizei einen „Niedrigen Dienst“ geben und den machte ich zur Bedingung. „Polizeiarbeit ist mir fremd!“, verkündete ich. „Wenn Sie mich haben wollen, dann nur zu meinen Bedingungen: Ich durchlaufe alle Bereiche des Polizeiapparates!“

Mein Gegenüber nickte nach kurzem Zögern, und ich folgte meiner Eingebung und verlangte: „Von der Arbeit eines Streifenpolizisten, über die Schreibkraft bis zur Kriminalabteilung und letztendlich will ich Einblick in die Arbeit des Polizeichefs haben.“

Mein Gegenüber wurde sehr unruhig: „Da muss ich nachfragen!“

Keine 5 Minuten später war er zurück. „Der Herr Polizeirat möchte Sie kennenlernen.“

Und was sagte mir meine hellseherische Fähigkeit: „Du wirst genommen! Der Oberpolizist ist neugierig!“

Ein strammer Fünfziger erhob sich hinter seinem Schreibtisch. „Ungewöhnliche Forderungen stellen Sie!“ Das war seine Begrüßung. Und ich: „Da ich keine Polizeiarbeit kenne, muss ich sie erst kennenlernen, um zu helfen.“ Und mein zukünftiger Chef: „Und warum auch meine Arbeit.“

Feixend erwiderte ich, wissend, dass seine Reaktion über mein neues Arbeitsverhältnis entscheidend sein wird: „Es gilt das Sprichwort ‚Wie der Herr, so’s …!‘“

Ich konnte noch nicht einmal meinen Satz zu Ende führen. Der Polizeirat verkündete dröhnend: „Willkommen in meiner Mannschaft! Und wehe, Sie sagen mir nicht die Wahrheit über meinen Leitungsstil!“

Besser konnte die Aufnahme in der Polizeibehörde nicht sein. Bereits in einer Woche trat ich meinen Dienst an: Streifenpolizist. Nach zwei Tagen fragte ich meine beiden Uniformierten, was für Befehle sie betreffs meiner Person bekommen haben. Sie stammelten und stotterten und dann hörte ich: „Keine!“

„Gut!“, antwortete ich. „Jetzt machen Sie das, was Sie machen, wenn kein psychologischer Aufpasser da wäre. Und das ist mein Befehl!“

Nun, ich konnte zwar keine Befehle ausgeben, aber gewirkt hatte es. Ich lernte wirklich die harte, oftmals aufreibende Arbeit eines Polizisten kennen. Als sie mich nach einem Monat verabschiedeten, waren wir per du und wirklich gute Freunde. Langweilig war es im „Schreibbüro“. Ich tippte mit mehreren uniformierten Damen und Herren Briefe, Entscheidungen, Wichtiges und Banales und musste sogar einmal zum Diktat zum Polizeirat. Der behandelte mich völlig normal, so, als wäre ich einer aus dem großen Polizeigetriebe. Und ich tat meine Arbeit – auch völlig normal. „Drei Durchschläge und mir zur Korrektur vorlegen!“ Ich war entlassen. Sicher war ich mir, mein oberster Chef testete mich, weil ich ihn testete – und das gefiel mir. Es ist wie ein Katz- und Mausspiel. Eine halbe Stunde später legte ich ihm die Schreiben zur Unterschrift vor. Ich wusste, ich war gut in Rechtschreibung und Grammatik. Fehler dürfte er nicht finden. Trotzdem beobachtete ich sein Gesicht sehr genau. Bereits nach den ersten gelesenen Zeilen wusste ich, der Chef blufft. Mit ernstem Gesicht sagte er dann: „Ist in Ordnung, Herr van der Haid.“

Ich kann nur jedem den Rat geben, versagen Sie sich nicht der Psychologie. Es ist immer interessant, seinem „Gegenüber“ im Geiste voraus zu sein; zu ahnen oder zu wissen, was er denkt. Mimik, Gestik sind Entäußerungen, die man nur deuten können muss. Und mit Hellsehen hat dies nichts tun.

Allerdings brauchte ich diese Eigenschaft in der nächsten „Herausforderung“. Ich verabschiedete mich mit einem Umtrunk von dem „Schreibbüro“ und heuerte am Montag drauf in der Kriminalabteilung an. Ungewöhnlich – eine Frau stand der Abteilung vor. Mein oberster Chef sammelte viele Pluspunkte, war es doch damals unüblich dem schönen Geschlecht Leitungsaufgaben zu übertragen. Und meine neue „kleinere“ Chefin war 1. sehr hübsch, 2. sehr kühl, 3. sehr klug und 4. überhaupt nicht an meiner Person interessiert.

„Der Polizeirat hat mich informiert, dass Sie unsere Arbeit kennenlernen wollen. Bitte stören Sie unsere Arbeit nicht mit Ihren Beobachtungen!“

Was sollte ich drauf antworten: nichts! Also nickte ich nur und beobachtete sie bei der sogenannten Tagesbesprechung. Mir ging Einiges durch meinen Schädel. Sagen tue ich es Ihnen nicht, nur so viel, diese Frau olala…

Privat Kontakt aufnehmen war garantiert nicht möglich, aber vielleicht kann ich sie ja mit meinen Fähigkeiten von meinen Qualitäten überzeugen. Und so wartete ich geduldig, bis der richtige Augenblick gekommen war.

Die erste Woche war stinklangweilig. Ich fragte mich schon, ob man diese Polizisten nicht überbezahlt. Dann am Dienstag in der 2. Woche: Ein einziger Anruf wirkte wie ein Stein, den man in ein Wespennest wirft. Überrascht war ich, wie alle Mitarbeiter wussten, was zu tun sei. Es ging um eine mögliche Entführung mit wahrscheinlicher Erpressung. Jedem Einzelnen dieser Abteilung bescheinigte ich hohe Professionalität – auch wenn ich von dieser Polizeiarbeit keine Ahnung hatte. Überrascht war ich auch, dass keiner auf die Uhr schaute. Sie wollten unbedingt diesen komplizierten und verworrenen Fall lösen. Nach 20 Stunden schlief ich erschöpft auf meinen Schreibstuhl ein und wurde in der 21. Stunde mit einem dampfenden Kaffee von einem hübschen Gesicht geweckt. „Weiter geht’s, Herr van der Haid!“

In der 22. Stunde schaute ein müdes Polizeiratsgesicht ins Büro. „Schon Hinweise?“

Mein weiblicher Kommissar verneinte. „Bislang kein Anruf, keine Forderung nach Lösegeld!“

„Die Eltern?“

„Noch gefasst, aber kurz vor dem Zusammenbruch. Sie wissen nicht, warum ihre Tochter entführt wurde.“

Meine Kommissarin durfte ich garantiert nicht nach Einzelheiten fragen, aber es gab ja Mitarbeiter, die bestimmt mit einigen Tricks zu bewegen sind, mir Einzelheiten zu verraten. Und das wären solche in aller Kürze: Mädchen 16 Jahre jung, Schülerin, keine Probleme in der Schule und zu Hause – nach Aussagen der Eltern.

„Vorgetäuschte Entführung, um die Eltern zu erpressen?“, fragte ich meinen Gegenüber.

„Nee, schließt die Chefin aus. Eltern sind vermögend. Wir erwarten Lösegeldforderungen.“

Einen Blick durfte ich noch auf das Bild des Teenagers werfen. Das war’s, viel war das nicht. Aber ich wollte doch meine Kommissarin von mir überzeugen. Also benutzte ich meine psychologischen Kenntnisse, um meine hellseherischen Fähigkeiten zu aktivieren. Das sah so aus: Ein van der Haid sitzt hellwach mit geschlossenen Augen und sinniert. Wie mein Gehirn jetzt arbeitet, habe ich nie herausgefunden und das trotz meines Psychologiestudiums. Es war einfach da: Ich sah das Mädchen in einem dunklen Raum. Dieser Raum muss sich nicht weit der Wohnung befinden. Dann trat ich an die Karte und betrachtete das Messtischblatt.

„Hier befindet sich das Mädchen!“ Meine Kommissarin: „Ich habe Sie gebeten, nicht zu stören! Und dort haben wir bereits alles abgesucht! In dem Gartenhaus ist niemand. Alles seit Jahren verriegelt und verrammelt! Nun stören Sie nicht weiter!“

Jetzt hätte nur noch gefehlt, dass sie „Platz!“ gerufen hätte. Ihre Augen taten das. Und ich war jetzt stinksauer! Jetzt wollte ich sie nicht mehr für mich einnehmen, jetzt wollte ich „Rache“. So lässt sich ein van der Haid nicht behandeln. Und weg war ich.

Um Mitternacht stand ich vor der Villa und begutachtete meine Umgebung. Es musste einen Zugang zu dem Anwesen geben, ohne das Haupttor zu benutzen. Und den gab es. Verborgen von einer recht dornigen Hecke, fand ich ein Loch im Zaun. Fragen Sie nicht, wieso ich das wusste: Ich wusste es! Ich fand den „Wildwechsel“ und folgte ihm. Meine Taschenlampenfunzel reichte aus, um dem Pfad zu sehen. Vor dem Gartenhaus setzte ich mich, um zu hören. Sie wissen – mein „Zweites Gesicht“. Das sagte mir nämlich, zwei Menschen sind in dem Gartenhaus. Aber wie sind sie hineingekommen? Ich schlich um das Haus und verharrte, als ich zwei Stimmen unterscheiden konnte. Und ich verstand ihr Gespräch. Na ja Gespräch – das hörte sich nach einem richtigen „Ehekrach“ an. Sie: „Ich habe mit dir Schluss gemacht und dabei bleibt es! Merke dir das! Und merke dir, dass ich den Robert liebe!“

Und er: „Dann bleibst du hier, bist du verfault bist! Blöde Ziege!“

Oh, das tat weh! Sie heulte auf, er stand mit einem Male vor dem Haus. Ein Glück, dass ich im Schatten des Hauses stand. So sah er mich nicht, aber ich hörte ihn wutschnaubend davon rennen.

Wo ist der Junge aus dem Haus gekommen? Meine Funzel zeigte mir eine kleine Klappe – groß genug für einen Mann mit meiner schlanken Gestalt ihn durchzulassen. Also nichts als hinein und dann stand ich auch schon vor dem heulenden Mädchen. Als sie mich sah, schrie sie. Erst, als ich mein Gesicht mit meiner Lampe anfunzelte und mich als Mitarbeiter der Polizei ausgab, wurde sie ruhig. Ich konnte ihre Fesseln lösen, sie schaltete das Licht an, stieß die Tür auf und stand in der Kühle der Nacht.

„Gehen wir zu Ihren Eltern“, sagte ich. Und sie: „Muss ich alles erzählen?“

„Der gesamte Polizeiapparat ist in Aktion. Sie werden bundesweit gesucht!“

„Ach bitte, sagen Sie nicht, wie Sie mich gefunden haben!“

„Warum nicht?“

„Ach, mein Freund begann, nach anderen Mädchen zu schauen. Da wollte ich ihm eine Lehre erteilen und erfand den Robert als meinen neuen Freund. Und der Andreas ist dann völlig ausgerastet und hat mich bei unserem Treff im alten Gartenhaus gefesselt. Es war doch alles nur Spiel.“

„Das was ich hörte klang nicht mehr nach Spiel!“

„Aber ich weiß doch jetzt, dass er nur mich liebt!“

„Ich darf nicht lügen, bin bei der Polizei!“

„Dann sage ich, Sie wollten mich vergewaltigen!“

„Was???“

„Entweder Sie halten den Mund oder …“

„Nun hören Sie mal: Auch eine Vergewaltigung kann nachgewiesen werden. Und ich werde Klage gegen Sie wegen Verleumdung und Falschaussage einreichen. Sie und Ihre Eltern werden durch alle Klatschseiten unserer Presse geschleppt. Sie werden sich nicht mehr auf der Straße blicken lassen können. Und von wegen heimliche Treffs mit dem Andreas – das können Sie vergessen!“

So ein kleines verschlagenes Biest. Jetzt haben mich meine kleine „Rache“ und mein „Zweites Gesicht“ ganz schön in die Bredouille gebracht. Ich schaute zu dem pubertierenden Teenager und erkannte in ihrem Gesicht reine Angst. „Doch kein Biest“, dachte ich und laut: „Wenn Sie einverstanden sind und Sie die Wahrheit sagen, helfe ich Ihnen. Ich bin Psychologe und kann Ihnen zur Seite stehen.“

Sie schluchzte und nickte. Viel hätte nicht gefehlt und sie hätte mich aus Dankbarkeit umarmt.

Dem Polizeibeamten im Haus sagte ich, dass er der Frau Kommissarin Bescheid geben möchte, dass es nie eine Entführung gegeben hat. Den Eltern beichte der Teenager unter ständigem Schluchzen ihre Affäre mit dem Andreas. Dann sandte sie einen flehenden Blick zu mir. Jetzt kam mein Auftritt. Im Reden geübt, erklärte ich den Eltern den psychologischen Hintergrund, warf viele schön klingende Fremdwörter ein und kam zu dem Schluss: „Nehmen Sie Ihre Tochter in den Arm und verzeihen Sie ihr, dass sie Ihnen viel Aufregung verursacht hat.“

Ach ist das schön, wenn die Menschen sich lieb haben. Tochter, Mutter und Vater heulten – ich war gerührt und wollte mich heimlich verdrücken. Doch da meldete sich der Hausherr. „Wird es noch Untersuchungen geben, irgendwelche Konsequenzen für meine Tochter?“

„Das entscheiden andere.“

„Bitte legen Sie ein gutes Wort für meine Tochter ein – bitte!“

Ich nickte und verschwand. Auf dem Weg zum Polizeipräsidium hatte ich genügend Zeit, über einen Volltrottel nachzudenken. Ich schwor mir, meine hellseherischen Fähigkeiten zu verbannen und nur noch mein erworbenes Wissen über die menschliche Psyche zu verwenden.

In der Kriminalabteilung erwartete mich Frau Kommissarin. „Noch einmal solch ein Alleingang und Sie können die Polizeiarbeit vergessen!“ Und: „Sie schreiben einen umfangreichen Bericht!“ Als ich sie anschaute, ächzte sie nur „Jetzt!“ und verschwand.

Ui, ui – diese Frau konnte richtig böse sein. Solch eine Frau als liebevolle Ehefrau? „Brrr!“ Ich schüttelte mich.

Ich schrieb bis zum Morgengrauen und ließ nichts aus. Auch den Vergewaltigungsvorwurf erwähnte ich und lieferte zugleich eine psychologische Analyse des pubertierenden Teenagers. Damit hatte ich mein Versprechen gegenüber dem Vater erfüllt.

Meine Kommissarin erwischte mich am Morgen gerade, als ich meinen Bericht nochmals auf Fehler las. Irgendwie war sie erstaunt, mich noch anzutreffen.

„Fertig?“

„Ja! Hier bitte!“

Sie las und ich beobachtete ihr Gesicht. Schien es zuerst völlig teilnahmslos, so merkte ich doch eine gewisse Erregung, als sie den Abschnitt über die „Vergewaltigung“ las.

„Ein ganz schönes Biest, die Kleine!“ Frau Kommissarin grinste mich an. „Die Schlagzeile wäre nicht schlecht: Polizeipsychologe - ein Vergewaltiger!?“

Ich gab keinen Kommentar ab. Ich hatte meine Pflicht erfüllt, der Bericht lag vor! Schluss!

„Bitte legen Sie den Bericht dem Polizeirat vor.“ Sie schaute auf die Wanduhr. „Jetzt ist er schon im Haus!“

Also zum Polizeirat. Der zog gerade den Mantel aus und ich konnte ihm dabei behilflich sein. „Wirke ich auf Sie wie ein alter Opa?!“, schnauzte er mich an. „Ich kann mich noch selber ausziehen.“

„Verzeihung!“ Ich wirkte äußerst reserviert und harrte, was da noch kommen sollte.

„Gute Nase gehabt, Herr van der Haid! Glückwunsch!“ Und dann holte mein oberster Chef Luft und ein Wortschwall ergoss sich auf meine Person. Nach fünf Minuten war ich so geschrumpft, dass ich mich selber nicht mehr ansehen wollte. Das Ende seiner Strafpredigt war: „Sie haben keine Ahnung von der Polizeiarbeit und wollen Detektiv spielen. Wenn Sie ermitteln wollen, dann müssen Sie lernen – bei Kommissarin Sommerwind! Wollen Sie?!“

Was blieb mir übrig als zu nicken. Aber dann wagte ich doch noch einen Vorstoß: „Aber erst, wenn ich Sie wenigstens drei Tage begleiten konnte! Sie wissen doch: meine Bedingungen!“

Ein völlig normaler Polizeirat erwiderte: „Gut! Am Montag: Wir fahren zum Innenminister. Sie bleiben aber schön im Auto! Am Dienstag: Ausarbeitung eines Vortrages. Am Mittwoch: Konferenz mit den Bürgermeistern. Ich halte einen dreistündigen Vortrag zum Thema der inneren Sicherheit. Das sind Ihre drei Tage!“ Er feixte! Ich auch. „Ich habe verstanden Herr Polizeirat. Ich verzichte.“ Und dann musste ich doch noch das letzte Wort haben: „Einschätzen tue ich Ihre Arbeit trotzdem!“ Sprach‘s und verschwand schnellstens aus dem Zimmer.

Draußen legte ich mein Ohr an die Tür und hörte sein Lachen und seinen dröhnenden Bass: „Der Kerl ist gut! Der gefällt mir!“

Also beim Polizeirat hatte ich Pluspunkte gesammelt, bei meiner „kleinen“ Chefin nicht. Stand sie doch jetzt hinter mir und starrte mich an – wortlos! Ein Vinzenz van der Haid wurde rot wie eine Tomate, murmelte etwas Unverständliches und setzte sich ab.

Ich verfluchte meine Neugier, mein an der Türelauschen, meine Frau Kommissarin Sommerwind, ich verfluchte mich selbst. Ich beschloss, da ich die ganze Nacht im Einsatz war, nach Hause zu gehen. Schon auf der Treppe kam mir Frau Kommissarin entgegen. „Wohin?!“

„Ins Bett!“ Fast wäre mir rausgerutscht: „Aber ohne Sie!“

„Der Polizeirat hat mich zu Ihrer Mentorin ernannt. Ich soll Ihnen das Eins-mal-eins der Kriminalarbeit beibringen. Anschließend gehen Sie auf die Polizeischule.“

„Warum nicht gleich die Polizeischule?“ Mein Versuch, dieser Frau zu entkommen, schlug fehl.

„Der Chef hat Angst, Sie würden zu viel Blödsinn reden und uns blamieren. In diesem Lehrgang sitzen nur altgediente Kriminalisten.“

„Dann sitze ich wohl neben Ihnen?!“

Getroffen! Mein Seitenhieb, egal wie man ihn aufnehmen wollte, traf ins Schwarze. Eine kleine Genugtuung hatte ich jetzt. Aber sofort kam ihre kalte Dusche: „Trinken Sie einen Kaffee, waschen Sie Ihr verschlafenes Gesicht und erscheinen Sie pünktlich um 8 Uhr zur Lagebesprechung.“ Das klang wie Krieg. Aber Krieg wollte ich nicht, friedliche Koexistenz war mir lieber. Also ich: „Um 8 zur Lagebesprechung. Werde pünktlich sein!“

Als Mentor war Kommissarin Sommerwind nicht übel. Jeder ihrer Mitarbeiter war ein Spezialist auf einem Gebiet, jeder musste mich anlernen und sich bemühen, mir sein Wissen in meinen Psychologenschädel einzuhämmern. Nur sie versagte mir ihr Wissen. Das aber, was ich über ihre Leitungs- und Koordinierungstätigkeit wissen wollte, erfuhr ich auch so. Ich beobachtete sie so oft, wie es nur ging und ich muss sagen: Die Frau ist gut!

Nebenbei schrieb ich meine Einschätzung über die Arbeit der Polizei und vergaß auch nicht den Leitungsstil meines obersten Chefs einzuschätzen. Trotz einiger kleiner Mängel, Mängel aus Sicht eines Berufsfremden, wurde der Polizeiapparat gut geführt. Umfangreicher gestaltete ich den Bereich, wo es um meine zukünftige Tätigkeit ging: um die Notwendigkeit einer psychologischen Betreuung. Ich schrieb so konkret, dass man meine Vorschläge zukünftig beachten würde. Da war ich mir sicher.

Den Bericht legte ich dem Polizeirat am letzten Tag meines „Lern-Einsatzes“ vor. Und dann geschah noch ein Wunder, aber eigentlich waren es zwei. Mein oberster Chef bat mich zu sich und bedankte sich für meine umfangreiche Analyse. „Gute Arbeit, Herr van der Haid! Alles Gute für die nächsten Wochen!“

Wieder bei der Kriminalabteilung zurück, erwartete mich eine festlich gedeckte Tafel. Man verabschiedete mich zum Lehrgang. Meine Frau Kommissarin Sommerwind fand einige nette Worte und ich strahlte vor Glücksgefühl.

Dieses „Glücksgefühl“ nahm ich mit zum Lehrgang. Kennen Sie Lehrgänge? Mindestens drei Tage dauert es, bis jeder jeden beschnuppert hat. In dieser Zeit hat man auch herausgefiltert, wer ein Freund, ein Kriecher, ein Spinner, ein Ich-Mensch oder nur ein bescheidener Mensch war. Da nur Kriminalisten und noch dazu altgediente auf den Schulbänken saßen, fehlte garantiert etwas Erfreuliches, etwas Erheiterndes, etwas schön Anzusehendes – eine Frau.

Allerdings war dieser Lehrgang für mein berufliches Fortkommen sehr bedeutsam. Eines Tages referierte doch mein Lieblingsprofessor von der Universität. In der Pause begrüßte ich ihn und er freute sich genauso über das Wiedersehen wie ich. „Bei der Polizei sind Sie gelandet?! Ein Beruf mit guten Karriereaussichten für einen Psychologen. Van der Haid, Sie können Pionierarbeit leisten. Schreiben Sie neben Ihrer Arbeit im Polizeiapparat Ihre Doktorarbeit. Ich werde Ihr Doktorvater sein. Sagen Sie ‚Ja!‘, es wird Ihr Fehler nicht sein.“

Und ich sagte „Ja!“ Und wissen Sie warum? Ich wollte eine Frau Kommissarin Sommerwind mit einem Doktortitel beeindrucken!

Ich glaube nicht, dass ich Frau Kommissarin Sommerwind mit meinem Doktortitel beeindruckt habe. Damit sie aber wusste, welche „Schwerstarbeit“ ich neben meiner Polizeiarbeit geleistet habe, beschloss ich, meine Dissertation als Buch zu veröffentlichen. Die ersten beiden Bücher, selbstverständlich mit Widmung, erhielten meine beiden Chefs. Während der Polizeirat zu mir ins Büro kam und ein Loblied über meine Arbeit „sang“, tat die Kommissarin so, als hätte sie kein Interesse an diesem Buch. Direkt darauf angesprochen sagte sie nur: „Noch keine Zeit gehabt. Später!“

Aber am nächsten Tag erwischte ich sie, wie sie ein Buch im Schreibtisch vor mir versteckte. Das konnte doch nur mein Buch sein. Auch Psychologen sind nur Menschen, neugierige Menschen. Ich erwischte einen günstigen Augenblick, ging in ihr Zimmer und schob den Schub auf. Und was lag oben auf? Mein Buch! Ich brauchte nur wenige Sekunden, um zu erfassen, dass sie mein Buch nicht nur gelesen, sondern studiert hatte. Überall sah ich Bemerkungen, mit Bleistift hingekritzelt. Und: zu 99 % positive Zustimmung!

Diskret verschwand ich wieder, hütete mich aber, irgendwie von meinem Büchlein zu erzählen. Das übernahm der Polizeirat. Verkündete er doch in einer Dienstberatung, dass der Innenminister nach der Lektüre beschlossen hatte, dass das Buch geeignet ist, als Handbuch für jeden Kriminalisten zu fungieren. Ich staunte nicht schlecht; wusste gar nicht, wie gut ich war! Und noch eine Überraschung, auf die ich nicht gefasst war. Fragte doch der Polizeirat meine Kommissarin Sommerwind, ob sie auch dieser Meinung – der Meinung des Innenministers selbstverständlich – wäre. Und meine Frau Kommissarin hielt einen knappen 10-minütigen Vortrag zu meinem Buch. Und diese Rezension war so gut, dass ich meinen Mund nicht zubekam. Ich hauchte „Danke!“, ein Polizeichef feixte, Kommissarin Sommerwind blieb kühl und gelassen.

Meine Arbeit war manchmal stinklangweilig, dann hektisch und aufreibend. Es kam auf den Fall an, der bearbeitet wurde. Aber ein Fall wird mir lebenslang in Erinnerung bleiben, führte er mich doch mit der gesamten Kriminalabteilung in meine Heimatstadt. Die Kollegen wohnten im einzigen Hotel des Städtchens, ich bezog meine Kammer in der alten Wohnung. Meine Mutter freute sich, endlich mal wieder ihren Einzigen so richtig verwöhnen zu können. Am Morgen zur Frühstückszeit erschien ich zur Lagebesprechung im Hotel. Und wer begrüßte mich dort? Meine Mechthild! Das Wörtchen „meine“ streiche ich gleich wieder. Das war nicht mehr meine einstige Jugendliebe. Etwas auseinandergegangen – ja, das war sie. Anziehend war sie immer noch, aber nicht für mich! Ein „Korb“ reicht fürs ganze Leben.

Sie: „Vinzenz! Vinzenz van der Haid!“

Ich: „Dr. Vinzenz van der Haid!“

Ach wie schön ist das, wenn man nach all den vielen Jahren Rache für einen gegebenen „Korb“ nehmen kann.

Sie: „Verheiratet?“

Ich: „Nein und du?“

Sie: „Einmal geschieden, einmal verwitwet. Jetzt bin ich allein!“

Wenn das keine „Einladung für einen Kinobesuch an einem Sonntag“ war, dann will ich kein Psychologe mehr sein. Meine Frau Kommissarin kam ins Lokal und Mechthild versuchte trotz der Anwesenheit der Kommissarin, mich zu umwerben. Sie gurrte und schnurrte und machte ganz verliebte Augen. Ich beobachtete mehr meine Kommissarin als Mechthild. Das war viel interessanter als Mechthilds dummes Gequatsche, glaubte ich doch, so etwas wie Eifersucht am Gesichtsausdruck der Frau Sommerwind auszumachen. Wie gesagt, ich glaubte …

Am frühen Nachmittag fanden wir uns nach der umfassenden Lageeinschätzung am nahen See ein. Wir suchten einen 10-jährigen Jungen. Alles kam infrage: Gewaltverbrechen, nur Weglaufen, Unfall.

Jeder vom Team ging seiner Arbeit nach. Ich, da ich ortskundig war, wollte ein Fleckchen Erde erkunden, das so einfach nicht zu erreichen war, aber mir früher ein sicherer Rückzugsort bei Ärger oder Liebeskummer war. Also stolperte ich über den schmalen, aus Steinen bestehenden Weges, und dann geschah die Katastrophe. Ich rutschte auf einem glitschigen Stein aus und landete im Wasser. Zu meiner Schande muss ich gestehen: Ich kann vieles, aber nicht schwimmen! Ich schluckte Wasser, schrie dazwischen, versuchte durch unkontrollierte Bewegungen, mein Untergehen zu verhindern. Es kam, wie es kommen musste: Dr. Vinzenz van der Haid verabschiedete sich aus dem Leben.

Dann machte ich meine erste Nah-Tod-Erfahrung. Ach war das schön. Ich hörte: „Vinzenz, mein Lieber! Vinzenz, du darfst nicht sterben! Vinzenz, ich liebe dich doch! Vinzenz, öffnete die Augen! Vinzenz! Vinzenz, was soll ich ohne dich machen!“

Zwischen den einzelnen Wörtern und Sätzen spürte ich einen schweren rhythmischen Druck auf meinen Rippen. Obwohl es schön war, solch Liebesbeweise zu hören, wollte ich doch wissen, welcher Mund mir das verkündete. Schon wollte ich die Augen öffnen, da wurden nasse Lippen auf meinen Mund gedrückt und ein warmer Atem strömte in meine Lungen. Wieder und wieder! Jetzt musste ich wissen, wer … Ich riss die Augen auf und sah meine Kommissarin über mich. Und gerade in dem Augenblick, als sie die Beatmung fortsetzen wollte, umklammerte ich sie und küsste sie heiß und inniglich. Sie versuchte, sich loszureißen, aber ich hielt sie fest. Solch eine Nah-Tod-Erfahrung macht man nämlich nur einmal in seinem Leben. Ich küsste und herzte sie und sie wollte sich nur losreißen. Mit dem Ergebnis, wir rollten ins Wasser, und sie musste mich zum zweiten Male retten. Kaum stand ich auf festem Boden, da bekam ich eine Ohrfeige, die mich endgültig dem Tod entriss.

Triefend kam ich bei meiner Mutter an. Erschrocken wollte sie wissen, was mir widerfahren sei. „Nichts Mutter! Bin nur in den See gerutscht.“ Dann verkündete ich meiner Mutter: „Heute Abend lernst du deine Schwiegertochter kennen!“

„Junge, du willst heiraten?! Endlich! Doch nicht etwa die Mechthild?!“

Also, die Mechthild wollte sie nicht. Erstaunt war ich aber, dass Mutter von meiner ersten großen heimlichen Jugendliebe wusste. Ja, ja die Mütter … Sie brauchen kein Psychologiestudium.

Ich brauchte jetzt unbedingt vier Dinge: 1. einen trockenen Anzug, 2. einen Blumenstrauß – nur rote Rosen, mindestens fünfzig, 3. ein Festessen für 10 Personen und 4. einen Verlobungsring.

Der Anzug schien am einfachsten zu beschaffen, eilte doch meine Mutter aus dem Zimmer und kam mit meinem ersten „Sonntagskino-Anzug“ wieder. „Der passt!“, meinte sie. „Der war so reichlich, dass du wie eine Vogelscheuche aussahst.“

Wenn das so war, verdanke ich diesem Anzug meinen ersten „Korb“. Ich zog den Anzug an und … er passte. „Ich bügele ihn dir auf. Jetzt passt er dir richtig!“ Ach die Mütter!

Jetzt der Blumenstrauß. Als die Floristin hörte: fünfzig langstielige Rosen, möglichst rote, heute Abend ½ 8 Uhr, da muss sie mich für verrückt gehalten haben. Erst als ich den dreifachen Preis versprach, hörte ich: „Mal sehen, was ich machen kann.“

Das Festessen war bei Mechthild schnell bestellt und neugierig, wie sie ist, wollte sie doch …

Nun fehlte noch der Verlobungsring. „Mutter, gibt es hier einen Goldschmied, einen Juwelier?“

„Ja, der Jens Mädel hat doch Goldschmied gelernt. Ruf ihn an, er steht im Telefonbuch.“

Der Jens Mädel war ein ehemaliger Schulfreund, ein pickliger - so, wie ich einer war.

„Mensch, Vinzenz, du hier?! Was brauchst du? Einen Verlobungsring?!“

Dreißig Minuten später kam der Jens mit seinen besten Stücken. Meine Mutter musste sie auf ihre alten aber schlanken Fingern anprobieren und dann kam die Auswahl. Mutter und ich entschieden uns für einen schönen, einfach gehaltenen mit Diamanten besetzten Ring.

Jens war sehr einverstanden damit. Dann hörte ich den Preis und ich legte den Ring sofort zurück. „Vinzenz, lade mich zur Hochzeit ein und ich gebe dir 50 % Rabatt – mein Hochzeitsgeschenk für euch!“

„Und ich bezahle den Rest! Mein Hochzeitsgeschenk für dich!“ Mutter war so gerührt. Und dann sagte sie doch: „Ist denn deine Zukünftige diesen Ring wert?“

„Tausend Ringe Mutter! Sie wird dir bestimmt gefallen.“

Der Abend konnte kommen. Ich stolzierte in meinem „Jugendanzug“ durch die fast leeren nur schwach erleuchteten Straßen meiner alten Heimatstadt. Stolz und mit erhobenen Haupt schritt meine Mutter eingehakt bei ihrem Einzigen. Im Blumenladen stand ein herrlicher Rosenstrauß – der dreifache Preis war durchaus gerechtfertigt. Im Lokal saßen die Mitarbeiter des Teams. Zum Glück war meine Kommissarin noch nicht da. Ich stellte meine Mutter meinen Kollegen vor und begutachtete im Nebenraum den festlich gedeckten Tisch.

Nur meine Kommissarin fehlte. Kommt sie gar nicht? Ist sie beleidigt? Mache ich mich jetzt zum „Affen“?

Ein Kollege informierte mich, dass man vor einer Stunde den Jungen gefunden hatte. Eigentlich hatte der Junge die Eltern gefunden, der Hunger hatte ihn mächtig gequält. Ende gut – alles gut!

Hoffentlich kann ich das auch für den heutigen Abend sagen. Den Mitarbeitern des Teams muss ich bescheinigen, dass sie sich wie Profis verhalten haben. Sie schielten zwar immer auf den wunderschönen Blumenstrauß, aber keiner stellte eine dumme Frage.

Endlich – die Tür öffnete sich. Und – keine Kommissarin! Jetzt wurde ich sehr unruhig. Ich musste etwas unternehmen. Ich ergriff den Strauß, entnahm der Jackentasche das Kästchen mit dem Verlobungsgeschenk und wollte zur Tür – hoch in ihr Zimmer.

Keine zwei Schritte, die Tür ging auf und eine wunderschöne Frau Kommissarin Sommerwind betrat den Raum. Ich – auf die Knie, ihr den Strauß hinhaltend, mit der anderen Hand das geöffnete Kästchen mit dem Verlobungsring entgegenstreckend, fing ich an, ihr einen Antrag zu machen. Mein Gott habe ich mich dämlich angestellt. Ich stammelte und stotterte, wechselte die Gesichtsfarbe wie ein Chamäleon und wollte doch nur ein „Ja!“, ein ganz leises „Ja!“ reichte mir schon.

Dann – Frau Kommissarin Sommerwind kniete mit mir, nahm meinen Kopf in beide Hände und hauchte: „Vinzenz, ich will dich! Nur dich!“ Der Kuss war der schönste, den ich je von ihr bekommen habe.

Ach war das schön! Meine Mutter heulte, meine Kollegen rieben sich die feuchten Augen – nur die Mechthild guckte neidisch, sehr neidisch!

Wieder im Polizeipräsidium war unsere Verlobung das wichtigste Gespräch im ganzen Haus. Erstaunlich, wie Polizisten tratschen können. Und dann noch das: Im unteren Flur, abseits der Besucher, stand eine Tafel, auf der stand, dass die Wetteinsätze beim Hausmeister eingesehen werden können. Wie ich so stand und verwundert die Tafel betrachtete, hörte ich hinter mir ein dröhnendes Lachen: „Glückwunsch, Doktor!“ Mein Polizeichef – und der erzählte mir, dass der Hausmeister seit einem Jahr ein Wettbüro eingerichtet habe. Wöchentlich wurden Einsätze angenommen. Inhalt der Wette: Heiratet der Doktor die Kommissarin oder nicht?! Gestaffelt war dies nach Wochen. Alle Einsätze wurden gesammelt und damit wird die Hochzeitsfeier im Präsidium ausgerichtet.

Was bin ich für ein Psychologe?! Alle wissen, dass ich in die Kommissarin unsterblich verliebt bin und ich kriege nichts mit. Und mein „Zweites Gesicht“? In der Liebe hat es mir noch nie geholfen!!!

Und dem Polizeichef stellte ich noch die dämliche Frage, warum der Hausmeister das Wettbüro unterhielt.

„Na, weil er als Einziger kein Beamter ist! Er darf, was wir nicht dürfen!“ Und dröhnend lachend verschwand er in Richtung Büro.

Es wurde eine wunderschöne Hochzeitsfeier!

 

Epilog

……….

Die Jahre vergingen. Meine Arbeit füllte mich vollkommend aus. Mein Chef hieß Frau Polizeirat van der Haid und war zugleich Mutter von vier bildhübschen Mädchen. Sie alle hatten mit der Schönheit auch die Klugheit ihrer Mutter geerbt. Und meine fünf Mädchen waren der Grund, warum ich eine mir mehrmals angebotene Professur nicht annahm. Ich wollte meine Familie nicht allein lassen und nur am Wochenende eine Familie haben, das war mir einfach zu wenig.

Manchmal fragte ich mich, was ich meinen Mädchen mitgegeben habe. Und – Sie werden es nicht glauben: mein „Zweites Gesicht“, meine hellseherischen Fähigkeiten. Und wie habe ich das herausbekommen? Alle vier stellten mir in den verschiedenen Jahren ihren Freund vor und begründete die Vorstellung mit der Aussage: Papa, das ist der Richtige!

Und als ich die Jüngste fragte, wieso sie das so genau wisse, meinte sie nur: „Papa, ich weiß es. Der Verstand sagt mir das!“ Und unser Nesthäkchen ist erst 13 Jahre jung.

Nur komisch, in der Liebe versagte mein „Zweites Gesicht“ immer. Ich hoffe, meine Mädchen …