Die Rentnerclique: 12. Halloween

Halloween

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(von Joachim Größer)

 

Apropos Grab, Sie erinnern sich doch noch an die letzte Geschichte, die Geschichte von Tantchen und ihrem Hausgespenst. Was zuerst nur nach einem Ulk aussah, entpuppte sich als die Aufklärung eines alten Verbrechens. Und so etwas Ähnliches erlebten wir noch einmal – d. h. eigentlich: Nur ich erlebte es!

Die Halloween-Welle schwappte über den großen Teich und eroberte auch unsere beschauliche alte Stadt. Was ein Spaß für Kinder ist, nervt aber auch einige der älteren Generation. „Süßes oder Saures!“ – der Schlachtruf der Bonbon-Sammler ertönte auch in unseren Straßen. So manches Omchen wurde vom Klingeln überrascht, und da sie keine Süßigkeiten zur Hand hatte, ließ auch schon mal ein frustrierter Bonbon-Jäger seinen Ärger an einer Mülltonne aus. Und dann meldet der Polizeibericht, dass die Zahl der Eigentumsdelikte in der Halloween-Nacht sprunghaft zunehmen. „Im Schutz der Dunkelheit werden Mülltonnen umgeworfen, Autos beschädigt und andere diverse Straftaten ausgeführt.“ So lautete auch der letzte Polizeibericht. Was nicht gemeldet wurde, war, dass die Anwohner am Morgen nach Halloween in einem umgestürzten Müllcontainer die Reste einer menschlichen Leiche ausmachten. Blaulicht, viel Ta - tü – ta - ta, Experten der Mordkommission, Kriminaltechnik – als die Leiche freigelegt war, rief der Jüngste der Kriminaltechniker, der die „Ehre“ hatte, im Müll zu wühlen: „Sehr gut gemachte weibliche Schaufensterpuppe!“

Schnell waren alle Autos mit allen Spezialisten wieder verschwunden. Zurück blieben feixende Anwohner, der Oberlehrer und meine Person.

Wir beide betrachteten diese Puppe recht genau, denn sie wirkte, wie sie da so im Müll lag, wirklich wie eine echte Leiche. Der „Künstler“ hatte sie sogar mit einem Einschussloch versehen. Blut schien geronnen zu sein und die Farbe dieser Puppe entsprach der Leichenblässe.

„Der Mensch, der diese Puppe geschaffen hat, ist wirklich ein Künstler“, kommentierte der Oberlehrer die „Leichenschau“. Ich hatte inzwischen ein Papier aufgehoben. Es war wohl der erste Buchstabe, der von einem Kalligrafen so kunstvoll gestaltet wurde, der mich dazu brachte, dass ich das Blatt aus dem Müll nahm. Ich las den einzigen Satz, der auf dem Blatt stand und ich wusste, Blatt und „Leiche“ gehören zusammen.

Ich gab das Blatt dem Oberlehrer, der las, las nochmals, grinste und gab es mir zurück: „Ein Spaßvogel!“

Ganz so sah ich es nicht. Zwar stand auf dem Zettel mit wunderschöner Schrift: „Dies war Nummer 2 und bald kommt Nummer 3!“

Jetzt wurden wir in unseren Betrachtungen gestört. Ein älterer Mann im blauen Kittel, garantiert der Hausmeister des Wohnblocks, kam mit Schaufel und Besen. Knurrend bemerkte er: „Erst die Bengels, dann die Bullen – alle wühlen im Müll und wer hat die Arbeit?! Der Maier! So eine Sch…“

Ich weiß nicht, warum ich mich spontan an den Hausmeister wandte und ihn fragte, ob ich die Puppe mitnehmen könnte. Ohne dass der Hausmeister hochblickte, antwortete er nur: „Wenn Sie Müll mögen?!“

So zog ich die wirklich „hübsche Leiche“ aus dem Müll und legte sie mir über die Schulter. Der halben Kilometer bis zum Auto wurde zum Spießrutenlauf. Nicht nur, dass der Oberlehrer über meine Erwerbung frotzelte, so mancher der Fußgänger, der den netten älteren Herrn – ich spreche von mir – mit der „Leiche“ über der Schulter sah, gab seinen Kommentar ab. Die angenehmste Anzüglichkeit war noch: „Na Alter, ne neue Puppe fürs Bett?!“

Tapfer schritt ich weiter und setzte meine hübsche Puppe auf den Rücksitz.

Zu Hause musste ich auch meiner Karla einige Fragen beantworten. Der Oberlehrer stand daneben und schwieg mit einem grinsenden Gesicht.

Meine Karla konnte wirklich mit der „Nebenbuhlerin“ nichts anfangen. Sie begutachtete die Puppe, meinte auch, dass sie gut gemacht sei – das war es auch schon.

Ähnliche Reaktionen erlebte ich bei den Skatbrüdern. Zwar saß die Puppe mit dem Einschussloch mit am Skattisch – und ich stand hinter ihr, aber selbst das brachte meine Skatgenossen nicht dazu, meiner Theorie zu folgen. Versuchte ich doch, zuerst die Männer, und als das nichts brachte, die lieben Frauen zu überzeugen, dass diese Puppe Nummer 2 nichts anderes sei, als die Ankündigung für die Puppe Nummer 3, die dann aber eine echte Leiche sein könnte.

Keiner sprach es aus, aber ich fühlte, alle dachten: „Der Fred, der spinnt!“

Nur mein Bruder Bob, und das war für mich eine echte Überraschung, meinte: „Na ja, man konnte ja mal darüber nachdenken!“ Als er dann aber einen Grand mit Vieren haushoch gewann, da dachte er wieder nur an die Skatkarten.

Aber ich gab so schnell nicht auf. Dem Chemiker jubelte ich eine Probe der roten Farbe vom Einschussloch unter, und er versprach, mir am nächsten Tag in seinem Labor-Keller die Zusammensetzung zu präsentieren. Doch bevor ich am Nachmittag den Chemiker aufsuchte, klapperte ich zuerst einige Stellen ab. Bei der Lokalzeitung fragte ich unseren „Jungchen“ (Sie wissen doch – der junge Redakteur), ob bereits eine zweite Puppe gefunden worden sei. Als er verwundert fragte, worum es sich handelte, zeigte ich ihm das Blatt Papier und ein Bild von meiner „Leiche“. Doch der junge Mann, sonst immer so hellhörig und selbst dort noch eine Sensation witternd, wo es garantiert keine gab, antwortete nur: „Ein Halloween-Spaß! Das will keiner mehr lesen!“

Den Besuch bei der Polizei hätte ich mir auch ersparen können. „Mein Herr, wir klären hier Verbrechen auf und haben für solche Späße keine Zeit!“

Als der Chemiker mir dann verkündete, dass die rote Farbe eindeutig menschliches Blut sei, hoffte ich, in ihm einen Verbündeten zu bekommen. Doch Fehlanzeige! „Fred, das hat ein Spaßvogel gemacht! Das bringt nichts!“

Doch ich wollte nicht aufgeben. Ich weiß, dass ich sehr hartnäckig sein kann, meine Frau meint zwar, dass es Sturheit sei - na gut, also ich weiß, dass ich sehr hartnäckig oder sogar stur sein kann. Und ich war überzeugt, hier bereitet einer ein Verbrechen vor – oder er hat es schon begangen – oder er ist kurz davor, es zu begehen! Ich weiß auch heute nicht, woher ich diese Überzeugung nahm. Und dieser Überzeugung verdankte ich es wohl, dass mein Bruder Bob meinte: „Na ja, vielleicht hast du recht?! Ich helfe dir.“

Damit unsere Skatbrüder nicht weiter über meinen Spleen lästern sollten, hielten wir unsere Recherchen geheim. Nur unsere Frauen bekamen natürlich mit, womit wir uns gegenwärtig beschäftigten. Viel Laufarbeit war angesagt. Suchten wir doch einen Gestalter von Schaufensterpuppen. Wobei meine „Leiche“ eine besonders schöne Puppe war und technisch ausgereift. Alle Gliedmaßen konnten bewegt werden, selbst der Rumpf war etwas beweglich gestaltet – ein Kunstwerk! Wer konnte so etwas Schönes fertigen? Diese Frage und dann die richtige Antwort - das war für mich der Schlüssel zum Erfolg!

Eine Woche lang suchten wir alle möglichen und unmöglichen Leute auf: Designer, Dekorateure, einschlägig bekannte Hobbybastler, Bildhauer und, und, und …

Ein Künstler will doch seine Exponate zeigen, die Menschen sollen von seiner Kunst, seinem Können erfahren – so dachten wir. Nur mein Puppen-Künstler wollte dies wohl nicht. Eine der typischen Antworten, die wir erhielten, lautete: „Ich kenne keinen, der solch schöne Puppen herstellt!“

Einen Hinweis bekam aber Bob und der sollte uns auf eine richtige Spur bringen. Einer der Bildhauer, die er befragte, meinte doch, dass dies auch die Arbeit eines Marionettenherstellers sein könnte. Klar – bewegliche Puppen! Nur größer, menschenähnlicher! Ich war mir sicher, wir sind auf der richtigen Fährte.

Da mein Bruder Bob am nächsten Tag einen wichtigen Arzttermin hatte, entschloss ich mich, diesen Marionettenhersteller allein aufzusuchen. Als Anhaltspunkt hatte ich nur den Namen einer Kleinstadt, in der ein solcher Handwerker leben und arbeiten sollte. Da ja nun der Beruf eines Marionettenherstellers wirklich kein häufiger ist, hoffte ich, in dieser Dreitausend-Seelen-Stadt diesen Mann – oder Frau – schnell zu finden. Aber dreitausend Seelen sind dreitausend Menschen, die kaum voneinander wissen! Früh bin ich losgefahren, gegen Abend war ich immer noch ohne einen Hinweis. Ich suchte ein kleines Café auf und schlürfte angewidert meine braune „Brühe“. Der Inhaber bekam trotz des miesen Kaffees ein gutes Trinkgeld, meinte er doch, dass ein gewisser Eusebius solche Puppen herstelle. Und dieser Eusebius wohne keine drei Häuser weiter in einem Hinterhaus, ohne Klingel und Namensschild. „Gehen Sie durchs große Tor und schreien Sie: ‚Eusebius!‘ Wenn er da ist, dann kommt er!“

Und ich ging, ich brüllte – und ich hatte Erfolg. Nach dem dritten Brüller nach diesem Eusebius öffnete sich ein großes Fenster und ein Mann mittleren Alters schaute verwundert auf den Hof.

Eine Minute später saß ich dem Mann gegenüber und reichte ihm das Bild. Seine Augen bekamen einen fiebrigen Glanz. Leise, sehr leise hörte ich ihn immer und immer wieder einen Namen nennen: „Genoveva.“

Ab diesem Augenblick wusste ich, dass ich einen Fehler begangen habe. Doch noch wusste ich nicht, dass mein Leben in ernster Gefahr war.

„Genoveva“, flüsterte dieser Eusebius. Und dann forderte er mich auf: „Kommen Sie! Sehen Sie meine Kinder!“ Und er nahm mich an die Hand und führte mich in sein Atelier. Jetzt gingen mir die Augen auf. Dieser Eusebius war ein wahrer Künstler. Kleine und große Marionettenpuppen, auch Puppen in der Größe meiner „Leichenpuppe“ standen oder hingen in Regalen. Und jede dieser Puppen hatte solch starke menschliche Züge, wie sie nur ein echter Künstler gestalten kann. „Meine Kinder!“, flüsterte Eusebius und betrachtete liebevoll die Puppen.

Jetzt machte ich einen Fehler. Ich tippte auf das Einschussloch auf dem Bild, bemerkte, dass der rote Fleck echtes menschliches Blut sei, und ich fragte den Künstler, warum er diese Puppe so gestaltet und dann entsorgt hätte.

Der Blick, der mich jetzt traf, den werde ich bis zu meinem letzten Atemzug nicht vergessen. „Ein Verrückter!“ Dieser Gedanke beherrschte mich jetzt nur noch. Die „Leichenpuppe“ war mir jetzt egal, der Künstler war mir egal – ich wollte nur weg von diesem Menschen – von diesem irren Blick.

„Kommen Sie! Sehen Sie meine geliebte Genoveva!“  Er fasste mich an und sein sehr harter Griff zwang mich, ihn in den Keller zu begleiten. Dort öffnete er eine Tiefkühltruhe und ich sah im schwachen Kellerlicht eine weibliche Gestalt: Genoveva – tiefgefroren und vereist!

Mit fiebrig glänzenden Augen betrachtete er die Frauenleiche. Nur ein leichtes Kleidchen trug die Frau. Fast schien es mir, als würde sie im Tode lächeln.

Eusebius hob die Leiche aus der Truhe und trug sie noch oben. Mich herrschte er freundlich an: „Nun kommen Sie schon! Genoveva gibt ihren Empfang!“

Oben setzte Eusebius die Frau in einen Sessel, d. h., er lehnte sie an den Sessel. Ich musste mich in einen zweiten Sessel setzen. So saß ich neben einer tiefgekühlten Leiche und mich fror bei dem Gedanken, diesem Verrückten ausgeliefert zu sein.

Eusebius betrachtete mich entzückt, murmelte: „Ja, das ist es! Ja, das fehlte! Eine Familie, das war es, was Genoveva so vermisste!“

Eusebius kramte in einer Truhe und ich wollte die Gelegenheit benutzen, mich davon zu schleichen. Bis zur Tür kam ich nicht. Der Sessel, zu alt und zu schwach die Federn, gab ein Geräusch von sich, das den Marionettenkünstler aufschauen ließ.

„Hinsetzen! Sie erheben sich nicht ohne Genovevas Aufforderung!“, herrschte er mich an. Damit ich seiner Forderung nachkam, holte er aus der Truhe eine Pistole. Nun habe ich wahrhaftig keine Ahnung von Feuerwaffen, aber dass dies keine Spielzeugwaffe war, erkannte ich sofort. Es war ein uralter Militärrevolver und nach dem Gesichtsausdruck des verrückten Eusebius zu urteilen, würde er ohne Gnade und Barmherzigkeit, den Abzugshahn durchdrücken.

So saß ich schnell wieder in dem Sessel und Eusebius stand hinter mir. Mit einem Paketband schnürte er mich an den Sessel fest. Dabei musste ich eine ganz bestimmte Haltung einnehmen. Als er meine Fesselung und Positionierung beendet hatte, wusste ich, dass ich mich nicht selbst aus dieser Umklammerung befreien konnte. Eusebius selbst wurde zum Gestaltungskünstler. Er stellte einige Puppen hinter und neben mir auf - Eusebius schuf mit den Puppen ein Gruppenbild. Entzückt schlug er dann die Hände zusammen: „Ich wusste es! Ich wusste es! Das war es, meine Geliebte, mein Herz und mein Seelchen, dies hat dir gefehlt! Jetzt hast du deine Familie!“

Und da die Leiche schon ein wenig angetaut war, bog und drückte er an seiner Genoveva, sodass sie ihr Gesicht mir zuwandte. Eine Hand legte Eusebius auf meinen Arm. Ich musste meinen Blick zu Genoveva richten und dann strahlte der Künstler. „Morgen früh wirst du glücklich sein! Morgen früh wirst du lächeln! Morgen früh …“

Eusebius murmelte nur noch. Doch jetzt begann er, wie ein Berserker zu arbeiten. Ich sah, wie er vorgefertigte große Puppen suchte, eine auswählte und ihr mit einer speziellen Knetmasse mein Gesicht gab. Er arbeitete die ganze Nacht, ich saß die ganze Nacht Modell. Neben mir tropfte Genoveva und ich wagte einmal, den Künstler in seiner Arbeit zu stören, als ich ihn bat, mich zur Toilette gehen zu lassen. Ich bat ihn nicht noch einmal. Wenn Blicke töten könnten, dann wäre ich jetzt genauso tot, wie die schöne Genoveva. Garantiert war aber mein Gesicht genauso bleich, wie das der jungen Frau.

Da die Knetmasse, aus der er mein Gesicht modelliert hatte, aushärten musste, nahm Eusebius eine zweite Puppe und ich konnte ihn wieder nur bewundern, wie schnell und meisterhaft er die Gesichtszüge in die Masse modellierte. Er war wirklich ein Meister seines Faches. Da ich mich jetzt ruhig verhielt, schien ich für ihn nicht mehr zu existieren. Ich überlegte krampfhaft, wie ich aus diesem Horrorhaus wieder entkommen könnte. Aber so, wie ich gebunden war, durfte ich wohl nur darauf hoffen, dass mein Bruder Bob und die Frauen nach mir suchten.

Aber wie sollten sie mich finden? Sie hatten keinen Anhaltspunkt. Mich selbst hatte ja auch nur der Hinweis des Caféhausbesitzers zu Eusebius geführt. Also sagte ich mir, wenn du dir nicht selber hilfst, dann hilft dir keiner! Wissen Sie, liebe Leser, was einem alles durch den Kopf geht, wenn man in eine solch verzwackte Situation geraten ist? Aber alle Gedanken verwarf ich wieder. Solange das Paketband mich an den Sessel fesselte, so lange war ich diesem Verrückten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Über die Gedanken, wie ich mich befreien könnte, bin ich wohl eingenickt. Eusebius Ausruf: „Oh Genoveva, mein Herz und mein Seelchen! Jetzt wirst du mit mir zufrieden sein!“ ließ mich hochschrecken.

Eusebius beachtete mich nicht. Er nahm die tropfende Leiche und murmelte: „Komm meine Liebste! Du musst dich erholen!“ Er trug die Leiche hinunter in den Keller. Jetzt war für mich die Gelegenheit gekommen, mich zu befreien. Ich zerrte und riss an dem Band, ich schurrte den Sessel durch den Raum, ich schrie aus Leibeskräften: „Hilfe! So helft mir doch!“ Ich kam nicht frei und keiner half mir.

Eusebius kam aus dem Keller hoch und beschimpfte mich, als er sah, dass ich mit meinem Davonrutschen sein „Kunstwerk“ zerstört hatte. Grob fasste er zu und schob mich zur alten Stelle. Dann betrachtete er liebevoll das Bild, verschwand in einen Nebenraum und kam mit einem Kleid wieder. Das Kleid zog er der Puppe „Genoveva“ über und setzte sie neben mich. Dann zog er ein Messer und ich dachte schon, mein letztes Stündlein habe geschlagen. Aber er schnitt mich los. Dann bat er mich mit irrem Blick – ja, er bat mich! – meine Sachen abzulegen. Als stände ich unter Hypnose, entkleidete ich mich und auf seinem Geheiß hin, zog ich der Puppe, die meine Gesichtszüge trug, meine Hose, mein Hemd, meine Jacke über und steckte ihre Füße in meine schönen Schuhe.

Das Platzieren der Puppe war aber die Aufgabe des Künstlers. Wieder und wieder veränderte er die Stellung meines „Ichs“, dann stellte er die anderen Puppen neu auf. Ich habe mich ganz ruhig verhalten, bin leise nach hinten Richtung Tür gerutscht, fasste die Klinke und stellte erleichtert fest, die Tür ließ sich öffnen.

Nun stellen Sie sich einen alten grauhaarigen Mann mit bleichem Gesicht vor, der nur mit Unterhosen und Unterhemd bekleidet am helllichten Tage auf eine viel befahrene und viel begangene Straße lief.

Wer war nun der Verrückte?

So dachte wahrscheinlich auch eine Polizeistreife, die mich in einer Nebenstraße, in die ich mich geflüchtet hatte, aufgriff. Die Fahrt zum Polizeirevier, die beiden Beamten wollten meine Geschichte gar nicht hören, unterbrach ich mit einem mörderischen Schrei „Halt! Sofort anhalten!“

Der Fahrer bremste auch abrupt, ich griff zur Türklinke – nur, ich saß im Polizeiauto. Die Türen waren blockiert. Ich schrie: „Bob! Bob!“ und schlug mit den Händen an die Scheibe.

„Mann, bleiben Sie ruhig oder ich muss Sie in Handschellen legen!“, knurrte ein Beamter. „Sie haben doch schon genug Ärger!“

„Das ist mein Bruder! Der kann alles aufklären!“, schrie ich den Beamten an. „Machen Sie die Tür auf! Sofort! Rufen Sie meinen Bruder!“

Entweder war ich in meiner Verzweiflung sehr überzeugend oder aber mein Gekreische ging den Beamten auf die Nerven. Einer der Beamten stieg aus und brachte Bob zum Auto. Machte mein lieber Bruder große Augen. „Fred, was ist denn los? Wie siehst du denn aus!“

Ich war so glücklich, meinen Bruder zu sehen, dass mir die Augen nass wurden. „Bob, steig ein. Du musst mir helfen, ein Missverständnis aufzuklären.“

Eine halbe Stunde später saßen mehrere grienende Polizeibeamte dem halb nackten Alten gegenüber und der Chef bemerkte spottend: „Ja, ja, das passiert, wenn Laien Detektiv spielen!“

Sie kennen doch das alte Sprichwort: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Mein Bruder tat alles, um meine Geschichte unter die Skatbrüder zu bringen und ich wünschte mir zum tausendsten Male: „Hätte ich doch …“

Na ja, heilfroh war ich, dass sich noch alles zum Guten gewandt hatte.

Und Eusebius, diesen Verrückten, diesen Ausnahmekünstler? Ich besuchte ihn in der Klinik. Er erkannte mich nicht mehr. Der Arzt, mit dem ich mich unterhalten konnte, quetschte mich zuerst aus, als er erfuhr, dass ich derjenige sei, welcher …

Vieles wollte er da von mir wissen und meinte immer, während ich mir die ganze Geschichte von der Seele redete: „Ja, ja, typisch! Typisch!“

Und dann erfuhr ich die Geschichte des Eusebius, der eigentlich Sebastian Eusebius hieß und mit seiner Jugendliebe Thea, die er aber immer nur Genoveva rief, verheiratet war. Als seine Frau völlig überraschend starb, drehte der Sebastian durch. Er wollte den Tod seiner Frau nicht wahrnehmen und legte sie in die Tiefkühltruhe, um sie später wieder auferstehen zu lassen. Er erschuf Puppen mit menschlichem Antlitz, die er alle seiner Frau widmete. Auch seine Frau modellierte er nach. Doch wenn ihm das Modell nicht gefiel, dann zerstörte er es, indem er es durchbohrte und mit „seinem Herzblut“ versah und dann einfach wegwarf. Immer gab er sich die Schuld am Tod seiner Frau und glaubte, dass sie, die sich immer Kinder und eine große Familie gewünscht hatte, gestorben sei, weil er keine Kinder, keine Familie haben wollte. Sebastian Eusebius war ein besessener Künstler, der den Tod seiner Frau nicht verkraftet hatte. Der Volksmund hat für Menschen, wie diesem Sebastian Eusebius, eine Redensart parat: Genie und Wahnsinn liegen dicht beieinander!

Eins versicherte mir der Arzt, dass ich nämlich niemals Angst um mein Leben hätte haben müssen. Gut, das war die Meinung des Arztes, aber was wäre, wenn …

Ach, übrigens dieser Revolver war wirklich ein echter Revolver, aber eine völlig unbrauchbare Waffe. Und dieser Zettel, den ein Kalligraf mit den schönen Buchstaben versehen hatte, hatte nichts mit unserem Sebastian Eusebius zu tun. So kann man sich irren. Irren tue ich mich aber garantiert nicht, wenn ich behaupte, dass ich Halloween gar nicht mehr mag.