Geschichten für Erwachsene: Fantastisches und Skurriles

Das Rätsel

……………

 

von Joachim Größer (2013)

 

Viktor Andrejewitsch Abramow schüttelte nur verwundert den Kopf. „Diesen Brocken  Kohle haben Sie wirklich so gefunden?“, fragte er den alten Mann, der ihm mit schwarzen Händen ein großes Kohlestück entgegen hielt.

„Ja, ja, Viktor Andrejewitsch, so war es! Ich binde Ihnen keinen Bären auf. Meine Mascha wollte gerade Kohle nachlegen, als sie Metall in der Kohle entdeckte. Sie hat mich sofort gerufen. Und fast hätte ich dieses Stück Kohle auseinandergebrochen. Weil ich aber mit diesem Fund nicht klarkomme, habe ich Sie gerufen. Sie sind doch Spezialist für Metalle, Viktor Andrejewitsch.“

„Na ja, Großväterchen Wanja, Spezialist für die Herstellung von Metallen war ich – aber nicht für solch seltsame Funde. Ein Metallstück fest von der Kohle umschlossen!? Könnte ich diesen Kohlenbrocken mitnehmen?“

„Aber ja, Viktor Andrejewitsch, nehmen Sie, nehmen Sie! Sie sind ein Studierter, Sie können das Rätsel bestimmt lösen.“

„Großväterchen Wanja, ich werde das Rätsel nicht lösen können - aber noch heute fahre ich nach Wladiwostok. Dort lege ich Ihren Fund in der Akademie vor. Die Wissenschaftler können bestimmt das Rätsel lösen.“

„Fahren Sie, fahren Sie Viktor Andrejewitsch. Aber bevor Sie unser Haus verlassen, müssen wir noch mein neues ‚Wässerchen‘ ausprobieren. Es wird Ihnen bestimmt das Herz erwärmen.“

Viktor Andrejewitsch Abramow kannte Großväterchen Wanja schon sehr lange. Der Alte war schon ein Original. Er hatte das kleine Dorf sein ganzes langes Leben lang nie verlassen und selbst im hohen Alter verzichtete er nicht auf seinen Herzenswärmer, seinem selbst gebrannten Wodka. Als ihn ein Polizist belehren wollte – und das ist schon sehr, sehr lange her -, dass die Regierung das Selbstbrennen von Wodka verboten hat, da grinste Wanja nur, goss dem Polizisten „Sto Gramm“ ein und prostete ihm zu. Da er den Trinkspruch auf die „beste Regierung der Welt“ ausbrachte, sah sich der Polizist genötigt, die Hundert Gramm Wodka genüsslich in seine trockene Kehle zu schütten, denn schließlich war er Beamter dieser Regierung. Und da dieses Schlitzohr Wanja viele gute Trinksprüche kannte, sah sich der Towaritsch Polizist immer wieder genötigt all denjenigen ein langes und glückliches Leben zu wünschen, die Wanja in seinen Trinksprüchen benannte. Auf der breiten Dorfstraße, die für zwei reichlich Betrunkene ziemlich schmal war, brachte dann der Bürger Wanja den Bürger Polizist nach Hause, d. h. eigentlich zur kleinen Polizeistation. Dies allerdings war an diesem Abend eine schlechte Adresse, denn dort wartete schon mit großer Ungeduld der Chef der Bezirksbehörde. Der Polizist wurde auf der Stelle degradiert, Wanja erhielt eine Anzeige für die Umgehung des Verbotes, Wodka zu brennen und musste viele Rubel Strafe hinblättern. Zukünftig machte der Towaritsch Polizist einen großen Bogen um das kleine Häuschen des Wanja und Wanja? Wanja brannte weiterhin sein „Wässerchen“ – nur dass er jetzt seltener Gäste damit bewirtete.

An diese allgemein bekannte Episode musste Viktor denken, als er mit Großväterchen Wanja auf „die beste Regierung der ganzen Welt“ anstieß. Doch als Großväterchen auch den Präsidenten, den Patriarchaten von Moskau und ganz Russland, den Gouverneur, den … hochleben lassen wollte, da verabschiedete sich Viktor Andrejewitsch Abramow lachend vom Großväterchen Wanja.

„Sobald ich etwas weiß, melde ich mich!“

„Ist in Ordnung, Söhnchen!“

Als Viktor sich noch einmal in der Tür zum alten Wanja umblickte, sah er, wie dieser Alte in sekundenschnelle gleich zwei „Sto Gramm“ in sich hinein schüttete. Was er nicht mehr sah, war, dass Großmütterchen Mascha wieselflink aus der Küche huschte, dem Wanja die Flasche entriss und ihren Ehemann als Trunkenbold und Tunichtgut beschimpfte.

Viktor Andrejewitsch Abramow brachte dieses außergewöhnliche Stück Kohle zur Außenstelle der Akademie nach Wladiwostok. Ein Geologe bestimmte das Alter der Kohle auf 300 Millionen Jahre. Und dann kam der erregende Augenblick: Der Kohlebrocken wurde äußerst vorsichtig auseinandergebrochen, und er gab das Metallstück frei. Viktor begutachtete das Stück, schabte sogar mit dem Messer am Metall und sagte dann zum Geologen: „Aluminium, silbrig-weiß, ein Leichtmetall.“

Und der bestätigte Viktors Annahme. „Ja, Aluminium ist das dritthäufigste Element und das wichtigste Metall in der Erdkruste. Nur, Viktor Andrejewitsch, wieso steckt Aluminium in der Kohle?“ Der Geologe Anton Antonowitsch Malenkow legte das Metallstück vorsichtig in die eine Kohlehälfte und schloss mit der anderen Kohlehälfte das Aluminiumstück ein. „Es passt wie angegossen. Und jetzt kommt die Frage aller Fragen, auf die ich keine Antwort habe: Aluminium kommt in der Natur in dieser Form so gut wie nicht vor. Dieses Teil war so fest in der Kohle eingeschlossen, dass ich davon ausgehen muss, es ist so alt wie die Kohle … 300 Millionen Jahre. Wie kommt reines Aluminium in eine 300 Millionen Jahre alte Kohle?“

Die beiden Männer starrten auf den Kohlenbrocken, aus dem das Aluminiumstück herausschaute.

„Wie konnte so etwas geschehen?“ Der Geologe schüttelte den Kopf, murmelte leise vor sich hin, drehte und wendete den Kohlebrocken und sagte dann seufzend: „Viktor Andrejewitsch, diese Rätsel sollen andere lösen. Sind Sie einverstanden, dass ich diesen Brocken weiterreiche?“

Natürlich war Viktor damit einverstanden, erbat sich aber, dass er benachrichtigt würde, wenn man dieses Rätsel gelöst habe.

Zu Hause in dem kleinen Häuschen am Rande des Dorfes lebte Viktor seit kurzer Zeit mit seiner Frau. Beide waren seit kurzer Zeit Rentner und hatten sich entschieden, das alte sibirische Holzhaus, das Haus der Großeltern, wieder herzurichten. Wladiwostok war nahe für große Einkäufe und weit genug weg, um die dörfliche Ruhe und Abgeschiedenheit genießen zu können. Nur - mit dieser Ruhe war es jetzt vorbei. Viktor Andrejewitsch durchwühlte seinen großen Bücherschrank nach Fachliteratur, die helfen könnte, dieses Phänomen zu klären. Nichts! Seine Frau Ljudmila staunte nicht schlecht über ihren Mann. Hatte der doch am Tage seiner Pensionierung erklärt: „Jetzt rühre ich kein Fachbuch und keinen Computer mehr an. Jetzt will ich nur noch mit meinen Händen arbeiten!“ Und er riss im Garten die alten Bäume raus und pflanzte neue, schuf einen Rasenplatz zum Sonnenbaden, ein Gemüsegärtchen und erneuerte den uralten halbverfallenen Zaun im ostsibirischen Stil. Als dies geschafft war, renovierte er das alte Häuschen. Fast war auch diese Arbeit abgeschlossen, aber nun blieb die Arbeit liegen.

„Viktor, wann machst du weiter. Das Wohnzimmer …“

Die Antwort konnte sie nun schon nicht mehr hören: „Bald, mein Täubchen, bald. Jetzt werde ich nur noch …“

Was ihr Ehemann nur noch machen wollte, blieb immer sein Geheimnis. So ganz nebenbei erfuhr sie, dass Viktor unbedingt einen neuen Computer brauchte. Einige Tage später musste er den Internetzugang neu einrichten und dann saß ihr Viktor den lieben langen Tag vor diesem Computer und ließ Arbeit Arbeit sein.

„Viktor, wann …“

Und was hörte sie: „Ljuda, mein Liebes, bald, bald …“

Dann klingelte das Telefon und ein Anton Antonowitsch Malenkow wollte unbedingt ihren Mann sprechen. Aus den wenigen „Brocken“, die ihr Mann von sich gab, hörte sie eigentlich nur heraus: „Außerirdisch, wirklich außerirdisch?“

Aber irgendwie brachte der Anruf dieses Malenkow ihren Viktor wieder zur Ruhe. Und jetzt konnte er mit ihr über dieses „ungeheuer wichtige Problem“ sprechen. Und sie hörte ihm beflissen zu, fragte auch: „Wirklich, du meinst außerirdische Intelligenz …?“; und sie staunte nur, mit welchem Problem sich ihr Viktor in den letzten Wochen beschäftigt hatte.

Am Ende seines Vortrages erklärte Viktor Andrejewitsch: „Morgen geh ich zum Großväterchen Wanja. Er ist bestimmt neugierig, welchen Fund seine Mascha da gemacht hat.“

„Ja geh nur“, erwiderte Ljudmila, „ich bereite inzwischen das Wohnzimmer für die Renovierung vor. Jetzt hast du wieder Zeit!“

Und dieses „Jetzt hast du wieder Zeit!“ klang so energisch, dass Viktor nach den vielen gemeinsamen Ehejahren mit seiner Ljuda wusste: „Ich muss das Wohnzimmer renovieren!“

Großväterchen Wanja erwartete seinen Gast schon, hatte der sich doch telefonisch für 10 Uhr angesagt.

Und Großväterchen Wanja lauschte den Erklärungen des Viktors.

„Wissen Sie Großväterchen Wanja, das Stück Metall, das in dem Kohlenbrocken steckte, ist 7 Zentimeter lang, besteht zu 98 % aus Aluminium und zu 2 % aus Magnesium. Eine ungewöhnliche Legierung! Das Metall war stark oxidiert und diese Oxidationsschicht bewirkte, dass dieses Metallstück einen hohen Druck, extreme Temperaturen und eine aggressive Umwelt aushielt. Die Wissenschaftler vermuten, dass dieses Stück außerirdisch sei. Sie müssen wissen, Großväterchen, dass es ein außerirdisches Aluminium-26 gibt, welches in Magnesium-26 zerfällt. Das ist so spannend, Großväterchen, dass ich am liebsten wieder in meinem großen Labor stehen möchte, um weiter zu forschen. Aber das ist noch nicht alles. Dieses Teil hat Ähnlichkeit mit einer modernen Zahnstange. Der Zufall wäre zu groß, als dass man dies als natürlich entstanden bezeichnen könnte. Und nun meine Frage: ‚Wie konnte ein solch kompliziertes Teil vor 300 Millionen Jahren von Menschen hergestellt werden?‘ Uns gab es doch noch gar nicht?! Es könnte doch nur von …“

„… von Außerirdischen! Von außerirdischen klugen Geschöpfen … Meinten das die Wissenschaftler, Viktor Andrejewitsch?“

„Nein, nein, Großvater, die Wissenschaftler spekulieren nicht, sie forschen weiter. Aber ich bin der Überzeugung, dass es außerirdische Intelligenz gibt. Ja, es ist gewagt, aber …“

„Moment, Viktor Andrejewitsch, einen Moment! Auf diese Außerirdischen müssen wir unbedingt anstoßen. Und Großväterchen Wanja „zauberte“ eine volle Flasche seines Selbstgebrannten auf den Tisch – samt Sto-Gramm-Gläser.

„Auf die Außerirdischen, Viktor Andrejewitsch!“

Und Viktor Andrejewitsch erzählte jetzt, welch andere außergewöhnliche Gegenstände auf russischer Erde gefunden worden sind. Da hatte man doch bei Nowosibirsk ein Metallfragment entdeckt. Seine Höhe beträgt knapp 2 m, sein Gewicht – knapp 200 kg. Vermutlich besteht es aus Titan. Oder auf der Kamtschatka-Halbinsel fand man Versteinerungen, die Bauteile eines Mechanismus sind – 400 Millionen Jahre alt.

„Und Großväterchen Wanja, das Verrückteste, was ich im Internet erfahren habe, ist, dass man im Ural eine vermutlich 120 Millionen Jahre alte und tonnenschwere Steintafel gefunden hat, die eine dreidimensionale Landkarte aus der südlichen Uralregion zeigt. Um so etwas zu erschaffen, und da sind sich die Wissenschaftler einig, muss es eine fortschrittliche Hochzivilisation gegeben haben. Ist das nicht verrückt?!“

„Darauf müssen wir trinken, Viktor Andrejewitsch!“ Und Großvater Wanja goss die Gläser voll und erhob sich, um auf Schöpfer der Steinplatte einen Trinkspruch auszurufen. Und da auch die anderen Rätsel begossen werden mussten, war die Flasche bald geleert. Und als Großvater Wanja die zweite Flasche öffnen wollte, da streikte Viktor Andrejewitsch mit schwerer Zunge.

„Genug, Großvä … Großväterchen, gee…nug!  Meine Ljuda wartet auf mich … mit dem Essen.“ Und Viktor Andrejewitsch Abramow benötigte die breite menschenleere Dorfstraße, um sicher zu seiner Ljuda zu kommen.

Im Haus des Großväterchen Wanja konnte man einen Alten hören, der meinte, dass die heutige Jugend nichts mehr vertragen würde. Und Großvater Wanja entkorkte die neue Flasche Wodka und wollte sich gerade seine sto Gramm eingießen, als Großmütterchen Mascha wieselflink ins Zimmer huschte, Flasche und Glas vom Tische nahm und auf die „Suffköppe“ schimpfend in ihrer Küche verschwand.