Geschichten für Erwachsene: Fantastisches und Skurriles

Die Wolke

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von Joachim Größer (2009)

 

Diese verrückte Geschichte begann mit einer E-Mail. „Lies das mal!“ hatte Jakobs Freund geschrieben und dazu die Link-Adresse angegeben: Donnerwetter.de. Und Jakob las, zuerst nur den Artikel dieser Wetterseite. Doch seine Neugier wurde bereits mit der Überschrift geweckt.

„Am 16. Februar hat Donnerwetter.de wegen der künstlichen ‚Regenwolken’ im Radarbild die Staatsanwaltschaft benachrichtigt und den Fall veröffentlicht.“

Was war das für eine künstliche Regenwolke? Warum wird wegen einer Regenwolke die Staatsanwaltschaft eingeschaltet?  Diese beiden Fragen hoffte Jakob, in weiterführenden Links beantwortet zu bekommen. Und er hatte richtig gedacht. Der Verfasser des Artikels recherchierte nach Ursachen, und als Jakob die Ergebnisse seiner Recherchen las, murmelte er: „Es wird immer mysteriöser. Der schließt ja alles aus: keine Fehler des Radars, keine militärischen Aktionen, selbst natürliche Ursachen sollen es nicht sein.“

Jakob las eine weitere Meldung  und da stutzte er noch mehr. Hier stand schwarz auf weiß:

„Der Wetterdienst Donnerwetter.de meldete am 19. Juli Regen über Norddeutschland, weil die Radarbilder ein langes, dichtes Wolkenband zeigten. Tatsächlich gab es aber gar kein Wolkenband. Und es regnete nicht.“

Auch fand er die Erklärung, warum der Staatsanwalt ermitteln soll: Die Wetterbeeinflussung ist seit 1977 per UNO-Richtlinie verboten.

Jakob rief seine Frau, doch die war gerade mit der Wäsche beschäftigt. „Das hat doch bestimmt Zeit bis zum Abendbrot, oder?“, fragte sie, kaum von ihrer Hausarbeit hochblickend.

Mit irgendjemandem musste er jetzt sprechen! „Hans!“ Und Jakob griff zum Telefon.
Hastig wählte er die Nummer seines Freundes. Nach mehrmaligem Wählen endlich das Freizeichen: „Hans, seit wann bist du denn unter die Dauerquatscher gegangen?“ Aber Jakob wartete die Antwort seines Freundes gar nicht ab. „Mannomann, ist das eine Sache! Prima, dass du mir die E-Mail geschickt hast. Ich habe fast eine Stunde im Internet gestöbert und weißt du, dass bereits im letzten Sommer schon einmal solch eine Regenwolke im Radar aufgetaucht war? Was hältst du davon? Also, fasst könnte man den Verschwörungsanhängern glauben, die davon ausgehen, dass eine Macht versucht, das Weltwetter zu manipulieren! Zum Schluss seiner Recherchen schreibt der Journalist, dass nur absichtlich ausgesetzte Partikel oder Substanzen zurzeit die einzig plausible Erklärung seien. Wer soll dies denn gemacht haben, wenn alle immer betonen. `Wir waren das nicht!´ Aber lass mich doch nicht immerzu reden, Hans. Sag doch mal deine Meinung dazu!“

„Na, nun mal langsam, mein lieber Jakob!“, erwiderte Hans Petri. „Als Erstes müssen wir mal klären, dass du diese Quasselstrippe bist! Zweitens hat mich gerade vor dir Tino angerufen, denn dem hatte ich auch eine E-Mail geschickt. Und drittens bin ich genau so ratlos wie du. Ich kann mir einfach keinen Reim auf die ganze Geschichte machen. Jetzt lass mich noch viertens den Vorschlag von Tino sagen, der da lautet: heute Abend 20.00 Uhr Treffpunkt Stammtisch in der `Alten Kneipe´. Einverstanden, Jakob?“

„Klar bin ich einverstanden, Hans. Aber kannst ...“ Weiter kam er nicht. Hans lachte ins Telefon: „Bis heute Abend, Jakob!“ Jakob hörte nur noch das Freizeichen.

Na gut, sagte er sich, haben wir wenigstens mal wieder ein interessantes Thema für einen Bierabend.

Als Jakob Redlich die Stammkneipe betrat, in der er sich mit seinen zwei Freunden einmal im Monat zum Bierabend traf, staunte er nicht schlecht. Obwohl es erst 15 Minuten vor 8 war, saßen Hans Petri und Tino Ruppert bereits vor einem vollen Bierglas. Ein Fremder, ihr Alter, etwas 40 bis 45 Jahre, schon leicht angegraut, mit halber Glatze, aber dafür einen gepflegten Vollbart im Gesicht, gestikulierte heftig und scheinbar sehr erregt. Jakob, verärgert, dass seine Freunde schon ohne ihn die Diskussion begonnen hatten, knurrte statt einer Begrüßung: „Hieß es nicht 20 Uhr?“

„Ja, ja, Jakob!“, erwiderte Hans. „Aber Tino hat einen Gast mitgebracht, und der muss nämlich schon um 8 Uhr wieder in der Redaktion sein. Also rege dich nicht künstlich auf.“

Hans stellte Jakob den Gast als Dr. Heinrich Sorge vor. Wissenschaftsjournalist sei er und so wie sie über dieser Meldung über die künstliche Regenwolke sehr beunruhigt.

Und dieser Dr. Sorge versprach, sie in drei Tagen über seine Recherchen zu unterrichten. Er selbst sei an der Aufklärung dieser geheimnisvollen Wolke sehr interessiert. „Für die Wissenschaft gibt es keine unlösbaren Rätsel. Uns fehlt oft nur das Wissen, um hinter sogenannte Geheimnisse der Natur zu kommen“, verkündete er, sich von seinem Platz erhebend.

„Also glauben Sie nicht daran, dass die Wolke Menschenwerk sein könnte?“, fragte Jakob.

„Ja, der Meinung bin ich übrigens. All das, was ich bereits über diese Wolke in Erfahrung bringen konnte, sagt mir: Das ist nicht vom Menschen gemacht! Das nicht! Die Wissenschaft und Technik vermag schon viel, aber diese Wolke erscheint mir eher als ein noch nicht bekanntes Naturphänomen. Und Phänomene sollte man lösen. Stimmt´s meine Herren?“ Dr. Sorge verschwand mit einem freundlichen „Guten Abend noch, die Herren!“

Drei Männer ließ er zurück, die dem Alkohol eifrig zusprachen. Mit dem zunehmenden Alkoholgehalt in ihrem Blut, nahmen auch die Spekulationen über diese geheimnisvolle Regenwolke zu. Als man sich biertrunkend um 23 Uhr verabschiedete, war man sich über eins einig: Wir Drei wissen nicht, was die Wolke sein könnte und da wir das wissen, wissen wir schon viel! So verkündeten sie es lautstark, auch denen, die es gar nicht hören wollte. Der Wirt kam schließlich und bugsierte sie mit freundlichen Worten zur Tür hinaus.

Die frische Abendluft entnebelte ihre Köpfe so weit, dass sie ziemlich gesittet den Heimweg antreten konnten. „Wir sehen uns am Freitag um 8!“ Damit verabschiedete sich Tino. Jakob und Hans schwankten ein Stück des gemeinsamen Weges nach Hause.

Obwohl die tägliche Arbeit mit ihrem Stress und das Familienleben sie forderten, dachten die Freunde immer wieder an diese Regenwolke und an diesen Dr. Sorge.

Am Freitag, es war der dritte Tag, trafen sie sich wieder in ihrer Stammkneipe. „Nanu, meine Herren? Schon ein Monat um?“, fragte der Wirt feixend und doch etwas verwundert. „Außergewöhnliches verlangt auch außergewöhnliches Verhalten“, konterte Jakob schmunzelnd. „Und drei Biere bitte. Wir erwarten noch einen Gast. Sobald er kommt, bringen sie bitte noch ein Glas.“

Ihr Stammplatz war natürlich besetzt. Aber sie fanden noch ein ruhiges Plätzchen in einer Seitennische, welches allerdings den Nachteil besaß, dass man die Tür nicht im Blick hatte. Kaum saßen sie, begann erneut die Diskussion über die rätselhafte Wolke. Und wie das manchmal so ist in einer Männerrunde, deren Teilnehmer ein interessantes Problem erörtern, vergaß man die Zeit. Das zweite Bier wurde bestellt, beim dritten meinte Hans Petri auf die Armbanduhr schauend: „Nun müsste unser Doktor aber langsam kommen. Er ist ja schon mehr als eine halbe Stunde überfällig.“

„Ich glaube nicht mehr, dass wir deinen Bekannten heute noch sehen werden, Tino“, sagte Jakob Redlich, sich an Tino Ruppert wendend. Der schaute jetzt auch auf seine Uhr, schüttelte den Kopf: „Nee, nee Jakob. Dieser Journalist hält, was er verspricht. Da kann nur was Wichtigeres dazwischen gekommen sein. Ich jedenfalls kenne ihn als äußerst zuverlässigen Zeitgenossen.“

„Na, macht doch nichts“, erwiderte Jakob. „Machen wir uns noch einen schönen Abend. Prost Männer!“ Er hob zum Bierglas zum Prosten, als Tino von seinem Platz hochschnellte. Laut und deutlich hatte er seinen Namen rufen gehört. Er ging in den Gastraum und erblickte dort einen ratlos in die Runde blickenden Dr. Sorge.

„Schön, dass Sie doch noch gekommen sind.“ Tino führte den Doktor zu ihrem Platz. Im hellen Schein der Tischlampe sahen die Freunde jetzt die Gesichtszüge ihres Gastes und erschraken. Das war nicht mehr der selbstbewusste, energisch und sicher auftretende Journalist. Vor ihnen saß ein Mensch mit unstet blickenden, man könnte auch sagen mit großen, angstvoll aufgerissenen Augen, die etwas Unglaubliches gesehen haben müssen. Sein ehemals gepflegter Vollbart war arg zerzaust, auch erschien er, leicht angesengt zu sein. Als er zu sprechen begann, zitterte seine Stimme: „Meine Freunde - ich hoffe, Sie erlauben mir, Sie so zu nennen - ich brauche Sie und ich bitte um Ihre Hilfe.“

„Wenn wir helfen können, gern. Stimmt`s Männer?!“ Hans Petri sprach für alle. „Was können wir tun?“

Der Wirt hatte inzwischen ein Bier gebracht. Dr. Sorge stürzte es in einem Zug hinunter. „Aaach, das tat gut!“, murmelte er. Sich wieder direkt an die Drei wendend, sagte er leise: „Zuerst müssen Sie mir schwören, dass das, was ich Ihnen sage, ein Geheimnis bleibt. Sie dürfen bis zu Ihrem Tod mit niemandem darüber sprechen.“ Dr. Sorge schaute die Freunde an. Ihr Gesichtsausdruck zeigte mehr als nur Erstaunen. Und der Doktor bekräftigte noch einmal: „Sie dürfen mit niemandem darüber sprechen, auch nicht mit ihren Ehefrauen!“

„Das muss ja ein tolles Geheimnis sein!“, antwortete Jakob nach kurzer Zeit. Und seine Freunde anschauend, meinte er dann: „Also gut, ich schwöre.“

„Wir auch!“ Tino und Hans nickten.

„“Das reicht nicht, meine Herren. Ich brauche Ihre Unterschrift unter diesem Schwur. Sollte einer von Ihnen den Schwur brechen, könnte das seinen Tod, auch den Tod des Mitwissers bedeuten. Also überlegen Sie es sich sehr gründlich. Ich werde mir inzwischen noch ein Bier holen.“ 

Der Journalist ließ jetzt wirklich drei ratlos blickende Männer zurück. Tino fand zuerst seine Sprache wieder: „So etwas ist mir noch nie untergekommen. Auf was für ein Geheimnis ist der Doktor nur gekommen? Ein Geheimnis, das den Tod bedeuten kann? Das ist schon mehr als merkwürdig!“

„Wenn er von uns solch einen Schwur abverlangt, dann muss es schon mehr als ein Staatsgeheimnis sein“, antwortete ihm Hans. „Habt ihr seinen Gesichtsausdruck gesehen, als er zu unserem Tisch kam? Dieser Mann hat Angst,  übergroße Angst! Und ich habe den Eindruck, wir sind die Einzigsten, die ihm helfen können. Also ...“ Hans schaute seine Freunde in die Augen. “Also, ich bin bereit, diesen Schwur zu leisten!”

„Einverstanden!“ Auch Jakob sprach sich dafür aus. In diesem Moment erschien der Doktor mit einem vollen Bierglas. Er wirkte jetzt ruhiger, fast gelassen. „Wie ist Ihre Entscheidung?“

„Meine Freunde leisten Ihnen den Schwur. Ich bin auch bereit, Doktor Sorge“, erwiderte Tino.

„Prima, ich habe nichts anderes erwartet. Aber bevor ich zum Erzählen komme, bitte ich Sie, vergessen Sie den Dr. Sorge. Ich heiße Heinrich oder kurz und bündig Hein. Einverstanden mit dem Du?“

Die Antwort der Freunde wartete der Journalist gar nicht erst ab. Er zog eine Schriftrolle aus der Jacke und die Drei erblickten ein eigentümliches Schriftstück. Es war beschrieben in Deutsch und einer Schriftsprache, die eher an die Keilschrift als an eine moderne Schrift erinnerte. Jakob nahm es in die Hand, um das Papier zu befühlen. Es sah aus wie Pergament, bestand aber aus einem eher stoffähnlichen Material.

„Es ist aus Stein gefertigt“, kommentierte der Doktor den fragenden Blick des Jakob Redlich. Um eventuellen weiteren Erklärungen aus dem Wege zu gehen, las der Doktor den wenigen Text vor: „Wir schwören bei unserem Leben, dass wir das Geheimnis, das mit diesem Schwur verbunden ist, bis zu unserem Tode bewahren werden.“

Während er einen eigenartigen Stift zückte, erklärte er so nebenbei, dass die fremden Schriftzeichen die genaue Übersetzung  aus dem Deutschen wären. „So, wer möchte zuerst unterschreiben?“

Hans ergriff den Stift. Er suchte eine Spitze oder Feder, aber der Stift besaß so etwas nicht. „Egal, mit welchem Ende du unterschreibst“, erklärte der Doktor, „er schreibt immer.“

Hans kritzelte seinen Namen unter den Schwur. In feiner Schrift entstand seine typische Unterschrift. Auch Jakob und Tino unterschrieben und befühlten gleichzeitig das aus Stein gefertigte pergamentähnliche Schriftstück.

„Ist deine Geschichte auch so mysteriös, wie dieses Pergament?“, fragte Jakob.

„Mysteriöser!“, erwiderte der Journalist. „Viel geheimnisvoller und vor allem unglaublich. Aber es ist Wirklichkeit. Ich bestelle noch eine Runde Bier und dann erzähle ich.“

Kaum hatte der Wirt das Bier gebracht, begann Dr. Heinrich Sorge seinen mehr als abenteuerlichen Bericht.

„Nachdem ich euch verlassen hatte, bin ich sofort los. In der Redaktion besorgte ich mir ein Bild der Radaraufzeichnung und ich beschloss, in das Zentrum dieser Wolke zu fahren. Ich folgte mit diesem Gedanken einfach meinem Instinkt, denn mein Verstand sagte mir, was soll ich am Boden, wenn sich die Wolke doch in der Troposphäre befindet. Aber meinem Gefühl nachgebend war es mir in der Vergangenheit schon einige Male gelungen, treffsicher ein Problem einzukreisen.

Der Morgen graute bereits, als ich meine angestrebte Position erreichte. Auf einer einsamen Landstraße stellte ich mein Auto ab und suchte einen nahegelegenen Hügel. Von dort hatte ich zwar einen guten Rund-um-Blick, aber etwas Besonderes fiel mir am Horizont nicht auf. Das Einzige, was mir komisch vorkam, war ein leises Zischen. Aus großer Entfernung drang es an mein Ohr. Ich beschloss, diesem Geräusch nachzugehen und das war der Treffer. Nach einer halben Stunde strammen Fußmarsches wurde das Geräusch lauter und ich konnte in der Morgensonne ein verdächtiges Flimmern erkennen. Wenige Minuten reichten und ich sah, wie Luft in eine große Erdspalte gesaugt wurde. War ich zu nahe der Spalte gekommen oder war der Saugstrom zu stark - egal, welche Ursache es gab, die Folge war: Ich wurde wie die trockenen Blätter und die Erdklumpen in die Erde gesaugt. Ich prallte gegen einen harten Gegenstand, welcher sich später als ein riesiger Filter entpuppte, und fiel dort recht sanft auf den Boden, der mit Laub, Moos und feiner Erde gepolstert war. Dieses Zischen hatte sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm entwickelt. Als der schlagartig abbrach, rappelte ich mich aus dem Laub und der Erde. Mein Blick nach oben versprach nichts Gutes. Ich sah viele Meter über mir das Loch, durch welches ich in die Tiefe gesaugt wurde. Wie sollte ich jemals wieder die Erdoberfläche erreichen?

Es werden wohl schon einige Minuten vergangen sein, als ich feine Stimmen hörte. `Mensch! Mensch! Komm, folge mir!´ Das war eine klare Aufforderung, aber ich machte niemanden aus, der mir solch einen Befehl geben konnte. Trotzdem folgte ich dem Stimmchen. Wie von Geisterhand öffnete sich eine Tür, die allerdings für mich etwas zu klein geraten war. Ich legte mich auf den Boden und robbte, besser - ich schlängelte mich durch die schmale kleine Türöffnung. Ich konnte alles schemenhaft erkennen, denn ein einzigartig fluoreszierendes Licht gestattete mir, meine Umgebung zu betrachten. Der Raum, in welchem ich mich jetzt befand, war so hoch, dass ich aufrecht stehen konnte. Meine Augen gewöhnten sich sehr schnell an dieses Licht und mit großem Erstaunen machte ich wohl einhundert kleine Geschöpfe aus, die sich zu mir drängten. Es waren Menschen, nur dass ihre Körpergröße die fünfzig Zentimeter nicht überschritt. Das Besondere an ihrem Aussehen waren die sehr großen und klug blickenden Augen. Diese Menschlein bildeten jetzt eine Gasse und ein alter, weißhaariger Mann, gekleidet in einem weißen Umhang, der mit goldenen Sonnen und silbernen Monden bestickt war, trat auf mich zu. `Willkommen, Mensch! Willkommen im Reich der Unterirdischen! Schon lange hatten wir keinen Kontakt mehr zu den Menschen. Aber dich schickt der Himmel! Du wirst unser Retter in unserer Not sein! Hilf uns und dein Schaden wird es nicht sein!´

Ich glaubte wirklich, in einem Märchen- oder Sagenbuch meiner Kindheit gelandet zu sein. Ich erinnerte mich, dass im norddeutschen Raum viele Sagen von sogenannten Unterirdischen handeln, die teils dem Menschen freundlich oder auch weniger freundlich gesinnt sein sollen. Der Alte bat mich, Platz zu nehmen. In Windeseile wurde ein Höckerchen und ein Tischlein herbeigeschafft. Dann wurden Speisen und Getränke auf dem Tisch abgestellt und der Alte forderte mich auf, kräftig zuzulangen. Dem kam ich nach und genoss ein ausgezeichnetes Menü. Aber das nur nebenbei. Während ich aß, erzählte mir der Alte die Geschichte seines Volkes. Und ihr könnt mir glauben, ich vergaß vor Verwunderung oftmals dabei das Essen und Trinken.“

Der Doktor nahm einen kräftigen Schluck aus dem Bierglas. Dies nutzte Jakob, um seiner Ungläubigkeit Ausdruck zu geben: „Hein, das alles sollen wir dir glauben? Das sind doch Märchen und keine Tatsachen!“

„Jakob, überlege doch. Hast du nicht selbst dieses besondere Pergament befühlt? Und warum soll uns der Doktor Fantasiegeschichten auftischen?!“

„Hast recht, Tino. Ich habe unüberlegt geredet.“ Sich an den Journalisten wendend: „Entschuldige meine Dummheit, Heinrich. Aber das ist alles so fantastisch.

„Ist schon in Ordnung, Jakob. Das ist wirklich alles wie aus einem Märchenbuch. Wenn ich euch jetzt die Geschichte des Volkes erzähle, wird es noch sagenhafter. Am besten, ich versuche es, mit den Worten des Alten zu berichten. So etwa hat mir der Alte die Geschichte seines Volkes erzählt:

`Mein Volk lebte vor vielen, vielen hundert Jahren in einem Land, dass ihr Mesopotamien nennt. Die Menschen waren so groß und stattlich, wie die Menschen es heute sind. Sie bauten Städte und Dörfer, bauten Getreide an und hielten Haustiere. Besonders stolz waren unsere Vorfahren auf unsere Gelehrten. Sie konnten schreiben, die Wege der Gestirne deuten und mehrten den Wohlstand unseres Volkes durch viele kluge Erfindungen. Auch lehrten sie allen Menschen das Schreiben, waren kluge Seefahrer, die sich mithilfe des Mondes, der Sonne und der Sterne auch auf den Weiten des Meeres zurechtfanden. Kaufleute besuchten fremde Länder, trieben eifrig Handel und brachten auch neue kluge Ideen mit. Unser Volk war glücklich und zufrieden. Mit Verachtung schauten sie auf Nachbarvölker, die nicht so reich und gebildet waren wie sie. Doch die Nachbarn neideten ihnen ihren Reichtum und versuchten, mit der Gewalt der Waffen unser Volk zu besiegen. Unsere Technik war aber der primitiven Kriegstechnik der Angreifer weit überlegen. So wehrten sie sich und schützten ihre Städte und Dörfer mit mächtigen Mauern. Der ständigen Angriffe leid, empfahlen unsere Gelehrten, mein Volk sollte sich ein neues Land suchen. Einhundert Schiffe, so groß und so seetüchtig, wie sie noch kein anderes Volk gebaut hatte, entstanden in kürzester Zeit. Unsere Gelehrten navigierten unsere riesige Flotte durch alle Stürme. Unsere Vorfahren entdeckten viele neue Länder, bewohnte und unbewohnte. So umrundeten die Vorfahren fast die gesamte Erde. Nach vielen Monaten, heftigen Unwettern, Durst und Hunger erreichten sie eine Insel inmitten der riesigen Weiten des großen Ozeans. `Lasst uns hier bleiben´, baten die Menschen und sie blieben. Sie gaben der Insel den Namen Eilandis. Fruchtbar war der Boden, das Klima war mild und regenreich. Ihre Sämereien und Früchte, die sie von der alten Heimat mitgebracht hatten, gediehen prächtig. Auch neue Pflanzen, die von den besuchten fremden Ländern stammten, trugen zur ausreichenden Ernährung unseres Volkes bei. Schnell wurden Städte und Dörfer gebaut. Die Menschen waren glücklich und zufrieden. Die Wissenschaft erlebte eine neue Blüte. Ab und zu verirrten sich im Laufe der Jahrhunderte fremde Seefahrer auf die Insel. Sie staunten über unser Wissen und unseren Reichtum. Unsere Gelehrten ließen sie Seekarten abzeichnen, damit mithilfe dieser Karten sie wieder den Weg nach Hause finden konnten.

Unser Volk war glücklich und zufrieden. Allerdings wuchs die Anzahl der Menschen gewaltig an. Bald zeigte sich, dass die Insel nicht mehr alle Menschen ernähren konnte. Auch der Fischfang erbrachte im Küstenbereich nur noch wenig Nahrhaftes. So meinten einige Gelehrte, die Menschen müssten kleiner werden, dann brauchen wir auch weniger Nahrung. Da sich unsere Gelehrten mit dem Geheimnis des Lebens beschäftigten, konnten sie auch bald die Bausteine des Lebens bestimmen und verändern. Jede Generation, die jetzt heranwuchs, war immer kleiner, als die vorangegangene. So schrumpften die Menschen und maßen bald nur noch unsere jetzige Größe. Erneut glaubten unsere Vorfahren, dass sie ein glückliches und sorgenfreies Leben führen konnten. Aber es kam leider anders. Die Gelehrten kannten zwar die Geheimnisse des Lebens und die Gesetze des Himmels, aber was sich in der Erde abspielte, das war ihnen fremd. Sie wussten zwar, dass ihre Insel vulkanischen Ursprungs sei, auch gehörte leichtes Beben ständig zum Alltag - der Gefahr aber, auf einem Vulkan zu leben, war man sich nicht bewusst. So nahm das Verhängnis seinen Lauf. Eine gewaltige Eruption zerstörte den größten Teil der Insel. Nur wenige Menschen überlebten die Katastrophe. Die große Flottille lag auf dem Meeresgrund. Geblieben waren nur kleine Fischerboote und die Ballongleiter. Diese befanden sich zwar noch in der Phase der Erprobung, aber genutzt werden konnten sie schon. So trieb ein Teil unserer Menschen fast hilflos in den kleinen Booten auf den Weiten des Meeres. Der andere Teil flog mit sehr unsicheren Ballongleitern einer genauso ungewissen Zukunft entgegen. Wir Unterirdischen sind die Nachkommen dieser Menschen. Es gelang ihnen nämlich unter Ausnutzung günstiger Winde, die Küste zu erreichen. Doch sie betraten besiedeltes Land und trafen Menschen, die ihnen schon aufgrund ihres kleinen Wuchses feindlich gegenübertraten. So wanderten sie immer nachts ins Landesinnere. Hier entschlossen sie sich zum Bleiben. Riesige Urwälder gaben ihnen Schutz, sie nutzten Erdspalten und lebten in Höhlen, die sie immer tiefer gruben. So wurden sie zu den Unterirdischen.´

So etwa lautete der Bericht des Ältesten. Mir war jetzt auch klar, warum diese kleinen Menschen solch große Augen besaßen. Das Leben über viele Generationen unter der Erde hatte also bereits Auswirkungen.“

Hier beendet Heinrich Sorge seinen Bericht.

„Wie ging es nun mit den Unterirdischen weiter und warum hoffen sie auf deine Hilfe?“, fragte Tino. Dr. Sorge sagte freundlich lächelnd: „Zuerst noch ein Bier. Meine Kehle ist zu trocken vom vielen Reden.“ Kaum standen volle Biergläser vor ihnen, sprach er: „Am besten berichte ich, welche Technik ich dort unter der Erde angetroffen habe. Die Bewohner von Eilandis müssen für die damalige Zeit über Kenntnisse verfügt haben, die wir niemals bei Menschen, die vor drei- oder viertausend Jahren gelebt haben, vermuteten. So experimentierten sie mit diesen Ballongleitern. Sie waren bereits unseren Luftschiffen ähnlich und sie füllten sie auch schon mit dem Gas Helium. Fragt mich nicht, wie sie das anstellten, sie besaßen die Technik. Ihre Nachfahren, also unsere Unterirdischen, vervollständigten dieses Wissen. Heute besitzen sie Techniken, von denen wir nur träumen können. Und diese Technik wendet sich gegen diese kleinen Menschen.“

„Wie sollen wir das verstehen, Hein? Wie kann sich Technik gegen Menschen wenden?“, fragte Hans. „Ihre Technik ist so hoch entwickelt, dass sie mit künstlicher Intelligenz gesteuert wird. Diese Automaten, Roboter oder wie wir sie auch immer bezeichnen mögen, haben sich gegen die Unterirdischen verschworen. Nicht nur, dass man die Arbeit verweigert - nein, Automaten und Roboter führen Krieg gegen die Unterirdischen!“

„Das gibt es nicht! Das kann nicht sein!“, stöhnte Tino. „Ich bin Maschinenbauingenieur, das kann ich einfach nicht glauben!“

„Es ist so, Tino“, sagte fast besänftigend der Journalist. „Mich haben sie auch angegriffen. Mein angesengter Bart bezeugt dieses. Sie benutzen zwar einfache, aber intelligente Waffen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie das kleine Volk tief unter der Erdoberfläche ausgerottet haben und dann vielleicht sogar die Macht auf der Erde an sich reißen möchten. Stellt euch vor, unbekannte Technik auf den Marsch in unsere Städte und Dörfer. Alles, was als lebendig erkannt wird, wird sofort vernichtet. Roboter, klein und wendig, über hochsensible Mechanismen verfügend, machen mit einfachen aber genialen Tricks die moderne Kriegstechnik der Menschen kaputt. Einfach so. Strahlen werden ausgesendet und die menschliche Technik ist Schrott. Sie könnten aber auch unsere computergestützte Technik manipulieren und diese dann ebenfalls gegen die Menschen einsetzen.“

Jetzt herrschte am Tisch großes Schweigen. Jeder malte sich mit seiner Fantasie aus, wie ein Krieg Maschinen gegen Menschen enden würde. Hans brach das Schweigen: „Was sollen wir tun?“

„Den Unterirdischen helfen! Sie wollen ihre Behausungen verlassen und ein neues Zuhause finden. Sie können aber keine Technik benutzen, können also nur zu Fuß neue Höhlen suchen. Flüsse, Seen, Landstraßen und Autobahnen sind Hindernisse, denen sie ohne ihre Technik nicht gewachsen sind. Von Tino weiß ich, dass ihr alle Campingfreunde seid. Nehmt eure Wohnmobile und Campingwagen, ladet die Unterirdischen ein und fahrt sie nach Süden. Sie haben bereits ein neues Zuhause ausgemacht. Es liegt nur 200 Kilometer südlicher, aber unter diesen Umständen ist es für die kleinen Menschen nicht erreichbar.“

„Was soll aus den aufständischen Automaten und Robotern werden?“, fragte Jakob. Auch darauf gab der Doktor sofort eine Antwort. „Die Unterirdischen müssen eine Mini- Kernfusion und noch weitere exzellente Techniken  beherrschen. Sie zerstören die Automaten mit der `Kraft der Sonne´. So drückten sie sich aus. Mehr kann ich euch nicht sagen. Ich habe ihre Technik mit meinem Verstand nicht begriffen. Sie ist aus einer anderen Welt.“

„Was haben die Unterirdischen denn nun mit dieser geheimnisvollen Regenwolke zu tun?“

„Hans, mit ihrer ausgefeilten Technik filtern sie Helium aus der Atmosphäre. Jetzt haben sie so viel gewonnen, dass sie es zum letzten großen Kampf gegen die Maschinen einsetzen können. Das waren genau ihre Worte.“

„Also Freunde“, sagte Hans und streckte seine Hand aus, „helfen wir den Unterirdischen in ihrem Kampf und damit helfen wir der gesamten Menschheit. Schlagt ein!“ Und mit ihrem Handschlag besiegelten sie ihre Partnerschaft mit den Unterirdischen.

Am nächsten Morgen, die Sonne erhob sich glutrot am Horizont, startete Jakob zum gemeinsamen Treffpunkt. Auf dem Parkplatz am Rande der Stadt wartete er auf seine Freunde. Nicht lange dauerte es, dann reihten sich ein Wohnmobil und ein weiterer Pkw mit Campinganhänger in die Parkordnung. Nun musste nur der Doktor noch kommen. Etwas Zeit blieb noch, aber ungeduldig waren sie alle drei.

„Was hast du deiner Frau erzählt?“, fragte Hans Tino. Der grinste, als er erwiderte: „Ich muss dem Hans helfen. Er sucht doch schon lange den idealen Campingplatz für unseren Dauercamp.“

„O weh, das war auch meine Ausrede. Nur dass ich Tino bei der Auswahl behilflich sein soll“, lachte Jakob. „Fein“, sagte Hans, „und ich habe dich, Jakob, vors Loch geschoben.“

„Na, wer sagt es! Sind wir nicht als Freunde perfekt? Jetzt fehlt nur noch, dass der Heinrich uns als Ausrede bei seiner Frau benutzte. Dann passt er bestens zu uns.“ Tino versuchte, seine Anspannung mit diesem Gefrotzel zu verbergen. Aber auch Hans und Jakob sah man die innere Unruhe und Anspannung an. Jakob „zauberte“ sogar eine Zigarette aus einem Schub in seinem Campinganhänger, obwohl er nun schon seit einem halben Jahr Nichtraucher war. Sein Hustenanfall quittierte er mit dem Verziehen des Gesichtes: „Schmeckt ekelhaft! Ich fange doch nicht wieder an.“

Seine Freunde wollten seinen Kommentar als Anlass für eine neue Frotzel-Attacke nehmen, wurden aber durch einen ankommenden Lkw davon abgehalten. Der Fahrer kurvte so dicht an die abgestellten Fahrzeuge heran, dass Hans protestierend zum Führerhaus des Lkws eilte.

„Wie sollen wir denn den Parkplatz verlassen?“, knurrte er. Die Stimme aus dem Führerhaus antworte ihm: „Nur hinter mir herfahren, Hans.“ Dr. Sorge verließ grienend das Führerhaus.

Sofort musste er neugierige Fragen beantworten: Warum er mit einem Vierzig-Tonner vorfährt? Wo er den herhätte? Ob er denn überhaupt einen Führerschein für dieses Fahrzeug besäße? Könne er überhaupt mit diesem „Riesenschlitten“ das Loch zu den Unterirdischen erreichen?

Geduldig und mit lächelndem Gesicht beantwortete der Doktor die Fragen. „Als Student habe ich als LKW-Fahrer nachts das Geld für mein Studium verdient. Der Vierzig-Tonner ist ausgeliehen und unbedingt notwendig, um das Archiv der Unterirdischen zu retten. Und drittens, Freunde, auch wenn ich nicht direkt zum Eingang der Unterirdischen fahren kann, ihre Technik sorgt dafür, dass der LKW beladen wird. Die Unterirdischen nehmen ihr Archiv und diverse Gerätschaften mit. Noch Fragen?“

„Ja“, sagte Tino, „wie hast du dir das gedacht? Wir müssen fast 400 Kilometer fahren, und meistens Autobahn. Wie finden wir dorthin, wenn wir uns verlieren?“

„Als Erstes betreiben wir Kartenkunde, zweitens erhält jeder von mir solch ein kleines Kästchen. Fragt mich nicht, wie es funktioniert - es funktioniert ganz exzellent. Vergleichbar, aber nur annähernd, wäre es mit unseren Navigationsgeräten. Und drittens werden wir uns bemühen, in Sichtweite auf der Autobahn zu fahren. Einverstanden?!“

Klar waren alle damit einverstanden. So übergab der Doktor jedem ein kleines Kästchen, welches nicht größer als eine Streichholzschachtel war. „Steckt es in irgendeine Tasche“, erklärte Hein. „Ihr denkt, z. B. `Wo bin ich?´ und die Antwort hört ihr hier.“ Feixend tippte sich Heinrich Sorge an die Stirn. „Ihr könnt auch fragen `Wie muss ich weiterfahren?´. Die Antwort wird sehr detailliert ausfallen. Probiert es doch mal!“

Die Freunde testeten sofort dieses Wunderwerk der Technik. Die erstaunten Gesichter der Drei bestätigten des Doktors Aussage. Jakob konnte es nicht fassen: „Mannomann, die Unterirdischen sagen mir, dass ich mich auf der Bundesstraße 38 befinde und den Parkplatz `Am Holze´ benutze!“

„Dann denke mal, welchen Weg du nehmen sollst!“, sagte lächelnd Heinrich. Und Jakob hörte ein feines Stimmchen: „Fahre 8.855 Meter die Bundesstraße 38 in westlicher Richtung. Benutze die Auffahrt zur Autobahn 5. Beachte die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 40 km/h. 165 Meter nach der Auffahrt auf die Autobahn wird deine Geschwindigkeit durch ein Radargerät überprüft. Fahre die Autobahn 5 weiter bis ...“

„Das ist ja verrückt!“ Jakob konnte sein Erstaunen nicht verbergen. Auch Tino und Hans hatten das Gerät getestet und waren genauso von dieser Technik überrascht.

Dr. Sorge erfreute sich an den ungläubigen Gesichtern der Drei. „Ihr seht dämlich aus!“, sagte er grienend. „Verzeiht mir, dass ich das sage, aber vorgestern sah ich genauso dämlich aus!“ Und er überraschte Jakob, Tino und Hans mit noch einer Möglichkeit, die das kleine Gerät der Unterirdischen beherrschte. „Sollten wir uns doch einmal verlieren oder ihr habt Langeweile, so denkt einfach: „Ich möchte mit Hein ein bissel schwätzen. Und dann schwätzen wir ein bisschen.“

„Das Ding überträgt alles? Auch meine geheimsten Gedanken?“, rief erstaunt Hans.

„Wenn du das möchtest, Hans? Aber es gibt eine ganz einfache Sicherung. Sage beispielsweise: `Ich möchte Jakob sprechen. Übertrage nur die Gedanken, die ich ausspreche.´ Jetzt werden nur die Gedanken übertragen, die du leise oder laut aussprichst. Alles klar, Männer?“

Klar war eigentlich für die Drei gar nichts. Tino, als Ingenieur und Technikfreak, steckte das Kästchen in die Tasche und murmelte: „Das ist die Technik des 22.Jahrhunderts oder noch später.“ Jakob begann sofort, eine Verbindung zu Hans gedanklich herzustellen. Doch der hatte im Moment keine Lust zum Plauschen. Jakob hörte ihn antworten: „Später Jakob, diese Technik muss ich erst einmal verdauen.“

So setzte sich erst einmal der Hilfskonvoi zur Rettung der Unterirdischen mit schweigenden Fahrern in Bewegung. Bereits, nachdem sie die Radarkontrolle passiert hatten, konnte Jakob sein Informationsbedürfnis nicht mehr unterdrücken. In Hein fand er einen Gesprächspartner. Bald schalteten sich auch Tino und Hans dazu. Tino begann jetzt, Hein gezielt über die Technik auszufragen. Doch der antwortete ihm: „Das Wichtigste habe ich euch bereits gesagt. Alles andere schaut mit euren eigenen Augen und versucht, das zu begreifen. Ich muss nochmals ehrlich bekennen: Vieles überstieg meine Auffassungsgabe. Ich konnte es mit meinem Verstand nicht begreifen.“

Die Fahrt ging zügig vonstatten. Auch die Landstraße war gut im Konvoi zu befahren, sodass sie gemeinsam den letzten Parkplatz vor der Höhle der Unterirdischen erreichten. Hier ließen sie die Wohnwagen, das Wohnmobil und auch den Vierzigtonner stehen. Jakob hatte seinen Wohnanhänger abgehängt und mit seinem PKW fuhren die Vier in Richtung Höhle. Dr. Sorge nahm jetzt direkten Kontakt mit den Unterirdischen auf. Da die drei Freunde auf der langen Autofahrt sich genügende Kenntnisse im Umgang mit den Gedankenlesekästchen, so bezeichnete sie jedenfalls Jakob, erworben hatten, war es für sie jetzt ein Leichtes, das Gespräch zwischen Hein und einem Hohepriester Inot zu verfolgen.

Und ähnlich wie bei dem Bericht, den ihr Doktor gestern in der Kneipe über seinen Besuch bei den Unterirdischen gegeben hatte, schuf dieses Gespräch wieder ein neues Fenster in eine völlig andere, unbekannte, geheimnisvolle und gefährliche Welt.

„Inot! Inot!“, sprach Hein, „Wir sind auf dem Wege zu euch. Bitte helft uns, einen günstigen Platz zum Beladen zu finden.“

„Hein“, antwortete eine feine Stimme, die dem Priester Inot gehören musste, „wir verfolgen euren Weg seit ihr den Parkplatz `Am Holze´ verlassen habt. Folgt den Anweisungen des denkenden Kastens.“

„Werden wir machen, Inot. Gibt es bei euch etwas Neues?“

„Seit deinem Verlassen gibt es wieder einen offenen Krieg. Den denkenden Maschinen ist es gelungen, eine von unseren wenigen Maschinen, die wir noch besitzen, zum Spionieren gegen uns zu bringen. Sie hat unser Gespräch mit dir dem Anführer der denkenden Maschinen mitgeteilt. Wir konnten sie allerdings noch zerstören, bevor sie ausplaudern konnte, welche Absicht wir hegen, um uns von den denkenden Maschinen zu befreien.“

„Gab es denn wieder Tote bei euch?“

„Leider, auch mein ältester Sohn ist im Kampf gefallen. Jetzt beherrschen wir wieder unser Territorium. Euch droht keine Gefahr!“

Jetzt erst wurde den drei Freunden so richtig bewusst, welcher Gefahr sie sich aussetzen wollten. Die Übertragungstechnik der Unterirdischen nicht einkalkulierend, sandten die Drei ihre Gedanken dem Hohepriester Inot über das denkende Kästchen. Es war beruhigend, Inots Stimme zu hören: „Euch Menschen droht keine Gefahr. Wir werden euch gut beschützen.“ Inot sprach dies ruhig und überzeugend. Waren es diese Worte oder sandte ihnen Inot auch über das denkende Kästchen Gefühle, die ihnen unbewusst die Angst nehmen sollte? Egal, was die Ursache war, jeder spürte in sich ein Gefühl der Ruhe und Geborgenheit.

Der letzte Teil des Weges wurde von den Unterirdischen bestimmt. Zwar fuhren sie etliche Umwege, aber sie benutzten Wege, die auch der Vierzigtonner gefahrlos fahren konnte. Auf einer einsamen Landstraße, weit ab vom nächsten Dorf und inmitten eines größeren Waldgebietes gelegen, hielten sie auf einem Platz, der den Anschein eines Holzumschlagplatzes machte.

„Hier könnt ihr eure großen Autos abstellen“, hörten sie Inot sagen. „Mit dem kleinen Auto könnt ihr aber weiter fahren.“

Und sie fuhren noch etwa 100 Meter. „Halt, ihr seid bei uns!“ Jakob stellte den PKW am Straßenrand ab. Heinrich Sorge schaute sich um. Dann schüttelte er den Kopf: „Das ist für mich eine völlig andere Umgebung. Hier war ich noch nie!“

„Das ist richtig Heinrich“, sagte Inot mit seiner feinen Stimme. „Dieser Zugang zu unserem unterirdischen Reich ist für euch und letztendlich auch für uns der sicherste. Die aufständischen Maschinen haben keine Zugriffsmöglichkeiten auf diesen Teil unseres Reiches. Folgt bitte dem Wildwechsel in südlicher Richtung. Nach 20 Metern empfange ich euch.“

Die 20 Meter waren schnell bewältigt und dann sahen die Vier den Hohepriester Inot, der in seinem hellen Priestergewand die Menschen empfing.

Er verneigte sich leicht vor den Menschen, die diesen Gruß erwiderten. Dann bat er die Menschen, ihm zu folgen. Er verschwand in einer kleinen Spalte, die aber doch so groß war, dass die Menschen gebückt gehend in das unterirdische Reich eintreten konnten. Nach etlichen Metern erreichten sie eine Tür aus Fels. Inot öffnete sie durch die Berührung mit seiner Hand. Jetzt waren sie im Wohnbereich der Unterirdischen. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an dieses einzigartig fluoreszierende Licht, von dem bereits Heinrich Sorge berichtet hatte. Obwohl Jakob, Tino und Hans durch die Berichte des Doktors eine gute Vorstellung über die Unterirdischen bereits besaßen, so staunten sie jetzt doch. Empfangen wurden sie in einem großen Saal. Einige Hundert Unterirdische, Männer, Frauen, Kinder – es war wohl das gesamte kleine Volk versammelt – begrüßten sie: „Seid willkommen, ihr Retter der Unterirdischen!“. Jeder der kleinen Menschen, gekleidet in verschiedenfarbigen Umhängen, die mit goldenen und silbernen Symbolen bestickt waren, verbeugte sich leicht. Die vier Menschen taten es ihnen gleich. Jakob erfuhr später, dass diese Begrüßungszeremonie der Ausdruck der höchsten Ehrerbietung sei. Er erfuhr auch, dass die Unterirdischen die uralten Titel, wie z. B. Hohepriester, weiterhin benutzten, obwohl sie schon seit mehreren Tausend Jahren keinem Götterglauben mehr frönten und der Titel „Hohepriester“ aber ihrem gewählten Führer zustand. Auch die Kleidung, die immer zu besonderen Anlässen getragen wurde, ist ihrer Vergangenheit gewidmet.

Die Menschen wurden von Inot in einen anderen Raum geführt. Die Unterirdischen bildeten eine Gasse durch die die Vier jetzt gingen. „Danke für eure Hilfe, ihr Menschen!“ und „Wir werden euch für eure Hilfe reich belohnen!“ – diese Sätze und noch weitere Danksagungen hörten die Menschen, die in leicht gebückter Haltung dem Hohepriester folgten. Im Nachbarraum erlebten sie eine neue Überraschung. Auf einem Steintisch waren Speisen und Getränke in solch großer Auswahl angehäuft, dass Jakob verwundert ausrief: „Wo zum Teufel nehmt ihr nur tief unter der Erde diese Speisen und Getränke her?!“

Statt einer Antwort winkte der Hohepriester einem jungen Mann, der sich im hinteren Teil des Raumes aufgehalten hatte. „Hook ist mein Name“, sagte er mit einer ebenso feinen Stimme, wie sie alle Unterirdischen haben. „Ich bin der Herr über die Küche. Mir unterstehen fünf Helfer, die so wie ich Bio-Roboter sind. Wir bereiten die Speisen zu. Hergestellt werden diese Nahrungsmittel in den großen Laboren. Die Leiterin ist Eimech. Sie ist Herrin über 20 Helfer!“

„Wie, Bio-Roboter? Sind das keine Unterirdischen?“, fragte Tino verwundert. „Ja“, antwortete ihm Inot, „wir nennen unsere Bio-Roboter Biorob. Wir haben sie nach unserem Ebenbild geschaffen. Sie schaffen unermüdlich für das Wohl der Unterirdischen.“

„Waren denn die Unterirdischen, die uns im großen Saal begrüßt haben, auch Biorobs?“ Hans mischte sich in das Zwiegespräch ein. „Nein, Hans, das waren alle Angehörige meines Volkes. Allerdings muss ich bekennen, dass unsere Biorobs uns so ähnlich sind, dass wir uns schon Gedanken gemacht haben, wie wir sie in unserem Volk integrieren könnten. Doch dann kam es dann zu dem Aufstand der denkenden Maschinen.“

„Sind das denn auch Bio-Roboter?“, fragte Jakob. „Nein, nein!“, antwortete Inot schnell. „Diese aufständischen Maschinen sind uns gar nicht nachempfunden. Es sind nur denkende Maschinen. Die Biorobs sind die Symbiose von menschlichen Zellen und hochsensibler Elektronik. So würdet ihr dies bezeichnen. Unsere Biorobs kennen auch Gefühle.“ Leise fügte er hinzu: „Wenn ich an den Hass denke, mit dem die denkenden Maschinen mit uns Krieg führen, bin ich im Zweifel, ob es noch gefühlslose Maschinen sind. Ihr müsst wissen, dass unsere Maschinen so konstruiert sind, dass sie sich selbst vervollkommnen und neu erschaffen können.“

„Habe ich das richtig verstanden, Inot: Eure Maschinen produzieren sich selbst?! Sie entwickeln sich so, dass sie auch neue, nur dem Menschen vorbehaltene Eigenschaften schaffen?!“

„Ja, Jakob. So ist es.“ Jetzt unterbrach Hook: „Vielleicht kennen sie Hass, aber nicht die Liebe und Zuneigung!“ „Du liebst?“ Jakob fragte für alle Menschen.

Verlegen nickte Hook. „Ja, Eimech“, hauchte er heftig errötend, „aber sie erhört mich nicht.“

„O je! O je! Was sagt ein Naturwissenschaftler zum Thema Gefühle: bio-chemische Prozesse, Steuerungsprozesse im Gehirn, Ursache- und Wirkungprinzip. Wenn ich dann daran denke, dass wir im Gegensatz zu den Unterirdischen sehr wenig wissen, dann denke ich ...“ Das, was Dr. Sorge dann dachte, blieb sein Geheimnis. Zu den Menschen eilte jetzt eine hübsche junge Unterirdische. Sie verneigte sich leicht, als sie sprach: „Mein Name wurde genannt. Gibt es Beanstandungen an den Speisen?“

„Nein, nein Eimech“, sagte Inot lächelnd, „unseren Menschengästen scheint das Essen sehr zu munden. Nur Hook hat da ein kleines Problem.“

„Ich weiß“, flüsterte Eimech heftig errötend und strahlte dabei den Chefkoch an. „Ich weiß!“

„Habe ich es nicht gesagt“, flüsterte Hein seinem Nachbarn, Hans, zu, „wir sind in einer ganz anderen Welt.“ Hans nickte: „Du hattest recht, Hein! Diese Welt will mein Verstand noch nicht begreifen.“ „Warte, wenn sie uns ihre Labors und ihre revoltierenden Maschinen zeigen. Dann wirst du noch einmal ins Grübeln kommen und dich fragen: Sind wir auf der Erde oder in einer anderen Welt im Universum.“

Ihr leises Zwiegespräch wurde jetzt von Inot beendet. „Habt ihr Interesse, unsere Labors zu sehen? Eimech wird euch alle gewünschten Erklärungen geben.“ Die Menschen nickten zustimmend und Inot führte sie durch Gänge, die die Vier nur in gebückter Haltung benutzen konnten. An einer kleinen Tür hielt Inot an. „Hier haben wir unsere Toten aufbewahrt. Wir werden sie mit in unsere neue Heimat nehmen. Dort werden sie wieder geboren.“

„Aber das ist doch unmöglich!“ Fast schrie Jakob. „Das glaube ich nicht! Das glaube ich nicht!“

„Ein Unterirdischer lebt immer zwei Leben. Wird sein natürliches Leben durch den Tod beendet, wird sein Körper die Grundlage für unsere Biorobs. Wir bemühen uns, auch die Gesichtszüge der Verstorbenen dem Biorobs zu geben.“

„Zellen altern, werden krank, sterben ab. Wie gewinnt ihr neue Substanzen?“, fragte Dr. Sorge.

„Wir kennen die Bausteine des Lebens. Wir zerlegen diese Bausteine und setzen sie neu zusammen. Gelingt es uns, sich selbst regenerierende Nervenbahnen zu züchten, schaffen wir so den neuen Unterirdischen. Aber das ist noch ein weiter Weg. Das dauert noch ein paar Jahre.“ Inot ging weiter – die Menschen folgten ihm schweigend.

Der Rundgang durch die Labors verlief fast schweigend. Nur Eimechs helles Stimmchen war zu hören. Die Menschen sahen und hörten, ein bewusstes Verarbeiten dieser Eindrücke war noch nicht möglich. Wie sollte man auch begreifen, dass unbekannte Pflanzen von oben nach unten wuchsen, Tiere in sogenannten Geburtszellen gezüchtet wurden, Gegenstände scheinbar durch die Luft schwebten und jedem Hindernis auswichen. Überall standen diensteifrig männliche und weibliche Biorobs bereit, jede Frage der Menschen zu beantworten. Aber die hatten keine Fragen!

So führte sie Inot zu den denkenden Maschinen. Sie waren nicht größer als die Unterirdischen. Einige sahen wie quadratische Kästen aus, andere hatten, gleich Auswüchsen, hunderte Tentakeln. Sie standen in Reih und Glied aufgereiht.

„Das sind die letzten Getreuen“, sagte Inot. „Hier hinter dieser Tür stehen die Abtrünnigen. Kommt und seht!“

Die Menschen schritten gebeugten Hauptes zu einer durchsichtigen Wand. Sie sah aus wie Panzerglas, war aber bestimmt von noch besserer Qualität. Inot betätigte einen kleinen Schalter. „Hier können wir ihre Unterhaltungen abhören. So konnten wir bisher alle Angriffe rechtzeitig abwehren.“ Die Menschen lauschten, hörten aber nichts. Heinrich Sorge trat direkt bis zur durchsichtigen Wand und legte die Hände auf das kühle Material. Sofort wurde eine Flut von Aussagen in die Gehirne der Menschen gelenkt. Die Wichtigsten waren: „Das ist ein Mensch. Auch er ist ein Feind. Die Kleinen wollen die Großen benutzen. Wir müssen die Kleinen und die Großen zerstören. Wir sind klüger als sie.“

Schlagartig verstummten die übertragenen Mitteilungen. Dafür seufzte Inot erleichtert: „Zum Glück wissen sie noch nichts von unserem Vorhaben – zum Glück!“

Und als wäre dies eine Unterstreichung der Worte, wurde durch einen schwach glimmenden Strahl, den eine Maschine abgesendet haben musste, die durchsichtige Wand undurchsichtig. Sie strahlte jetzt eine ungeheure Hitze ab. Dr. Sorge schrie vor Schmerzen auf. Seine linke Hand war verbrannt. „Schnell, komm Heinrich!“, schrie Inot aufgeregt. So schnell ihn seine kleinen Füße trugen, eilte er zurück zu den Laboren. Dort erwarteten ihn schon mehrere Biorobs. Einer schnitt Heinrichs Hemd- und Jackenärmel auf. Zwei Biorobs brachten ein Gefäß mit Flüssigkeit. „Lege die Hand hinein! Hinein! Hinein!“, schrie ihn Eimech an. Kaum hatte Dr. Sorge seine Hand in die Flüssigkeit gelegt, wich der Schmerz. Aufatmend stöhnte er: „Diese Maschinenhalunken. Schon bei meinem letzten Besuch, griffen sie mich an. Warum haben sie es auf mich abgesehen, Inot?“

„Sie registrieren ‚Lebewesen’ und ‚großer Mensch’. Und damit bist du ihr Feind, Heinrich.“

Heinrich wollte die Hand aus dem Gefäß nehmen. Doch ein barsches „Drin lassen!“ von Eimech verhinderte das. Freundlicher sagte sie lächelnd: „Deine Hand soll doch wieder wie neu aussehen. Oder willst du eine Knochenhand zum Erschrecken der kleinen Kinder haben?“

Verwundert schaute der Doktor in das Gefäß. Wirklich – seine Hand bestand nur noch aus Knochen. Fleisch, Sehnen, Muskeln und Haut fehlten.

„Noch zehn Minuten und deine Hand ist neu gewachsen!“, sagte Inot. Zu Eimech sprach er: „Ich muss Vorsorge treffen. Erkläre bitte unseren Gästen die neue Entwicklung, Eimech.“

Der alte ehrwürdige Hohepriester rannte fast hinaus. Eimech gab jetzt den Menschen die geforderte Erklärung. „Dieser Angriff auf Heinrich ist mit einer von den denkenden Maschinen neu entwickelten Waffe ausgeführt worden. Inot kontrolliert persönlich die Arbeiten an der Scheibe. Er lässt euch durch mich mitteilen, dass der Umzug noch heute vor Mitternacht abgeschlossen sein muss. Durch unsere Umzugsvorbereitungen können wir keine Gegenwaffen mehr entwickeln. Inot drängt alle zur Eile. Kein Unterirdischer und kein Biorobs hat die letzten 50 Stunden geschlafen. Wir müssen heute noch die denkenden Maschinen zerstören!“

Zu weiteren Erklärungen oder Besichtigungen war nun keine Zeit mehr. Als Heinrich seine Hand aus der Flüssigkeit nehmen durfte und sie argwöhnisch begutachtete, murmelte er: „Ist schon eine verrückte Welt. Man kann Hände wachsen lassen – ohne Schmerzen – nur wachsen – und sie wachsen!“

Jakob, Tino und Hans starrten auf die Hand. Heinrich bewegte die Finger, drehte das Handgelenk und probierte alle möglichen Verrenkungen aus. Nichts aber auch gar nichts deutete darauf hin, dass noch vor wenigen Minuten diese Hand bis zum Handgelenk nur aus Knochen bestand. Eimech drängte jetzt zur Eile: „Bitte holt eure Fahrzeuge! Auf der Erde ist bereits Nacht! Wartet auf dem Platz! Alles andere machen unsere Spezialisten.“

„Aber, wir müssen uns doch beraten, wo was geladen wird?“ Jakob versuchte diesen Einwand. Doch Eimech lächelte nur. „Wir haben eure Wagen innen und außen vermessen. Alles ist vorbereitet. Es wird alles gut!“

Und darauf konnten sich die Vier verlassen. Kaum hatten sie die Wohnanhänger, das Wohnmobil und Heinrich den Vierzig-Tonner geparkt, als sich die Türen der Fahrzeuge selbstständig öffneten und die ersten Maschinen, Geräte, Metallkisten und eine Vielzahl an sackähnlichen Gebilden sich von selbst in den Vierzigtonner verpackten. In weniger als einer halben Stunde war der Wagen bis zum Rand gefüllt.

„Heinrich, wir haben das zulässige Gesamtgewicht eingehalten. Du wirst keinerlei Probleme beim Fahren haben“, sagte ein Biorob, der diese Aktion geleitet haben musste. „Jetzt kommen die Unterirdischen. Leider wird es sehr eng in den Wagen. Wir haben vorgesehen, noch Zwischendecken einzuziehen. So können die Unterirdischen liegend die Fahrt überstehen.“

„Du redest immer nur von den Unterirdischen. Kommen die Biorobs nicht mit?“, fragte Tino. „Doch, doch!“, kam die Antwort fast fröhlich. „Auch wir reisen mit euch. Da wir aber robuster sind, nehmen wir die unbequemen Plätze ein und schalten uns ab. Ihr transportiert dann scheinbar nur totes Material.“

Irgendwie hatte keiner der Menschen Lust, nachzufragen, wie sich das der Biorob vorstellte – das mit dem scheinbar toten Material. In einer ungeheuren Geschwindigkeit wurden nämlich in den Wohnanhänger und im Wohnmobil Zwischendecken von mehreren Biorobs eingebaut. Jeder Handgriff saß, das Material, das zum Einsatz kam, war auf den Millimeter passgerecht vorbereitet. Kaum war Jakobs Wohnanhänger so präpariert als auch schon die ersten Unterirdischen auf diesem unsichtbaren Transportmittel, Tino vermutete vom Magnetfeld erzeugten Transportband, zu den Fahrzeugen gelangten. Sie wurden, wie zuvor die Maschinen, Geräte und Kästen, in die Fahrzeuge geschoben, lagen dicht an dicht auf dem Rücken und fielen sofort in einen tiefen Schlaf.

Jakob stand staunend und schüttelte nur den Kopf. „Ich glaube, wir haben von der Technik der Unterirdischen nur einen winzigen Teil gesehen“, hörte er neben sich Tino flüstern. „Ich möchte gar nicht mehr sehen“, gab Jakob zur Antwort. „Ich verstehe sowieso nichts davon.“

Inot schritt jetzt langsam zu den Menschen. Ihm folgten mindestens dreißig Biorobs. Sie gingen im Gänsemarsch den Trampelpfad zu den Fahrzeugen.

„So, liebe Freunde“, sagte Inot zu den Menschen, „Material und Unterirdische sind in euren Fahrzeugen. Jetzt werden die Biorobs ihre Lager aufsuchen.“ Er gab ein Handzeichen, die Kofferraumdeckel öffneten sich und die Biorobs kletterten behände hinein. War ein Kofferraum gefüllt, legten sich die Biorobs auf den Rücksitz bzw. auf den Boden des Autos. Jetzt waren nur noch die Fahrer- und Beifahrersitze frei. „Dann können wir wohl starten!“, meinte Hans und wollte zum Auto eilen. „Nein, es dauert noch einen kleinen Moment“, erwiderte Inot freundlich. „Wir haben noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen.“

In diesem Moment rannten drei kleine Gestalten auf dem Pfad. Es waren Eimech, Hook und der Biorob, der die Verladung überwacht hatte. An ihn wandte sich jetzt Inot: „Boro, ist alles vorbereitet?“

„Wir sind bereit, Priester“, antwortete Boro. Inot nickte und übernahm von Eimech ein kleines unscheinbares Kästchen. Mit wehmütigem Gesicht sprach er leise: „So zerstöre ich jetzt unsere Heimat. Hoffen wir, dass unsere neue Wohnstätte uns mehr Freuden bringt.“

Er nickte den drei Biorobs zu. Jeder zog ein ähnliches Kästchen aus ihrem Umhang und nacheinander waren vier leichte Erschütterungen zu spüren. Fast erleichtert murmelte Inot: „Wir haben es geschafft. Das Unheil ist abgewendet.“

„Das war die gesamte Zerstörung?“, fragte Jakob neugierig. „Diese kleinen Bums? Ich hatte eine gewaltige Explosion erwartet!“

„Ja, das war alles! Unsere selbst erschaffenen Feinde sind in der `kleinen Sonne´ verglüht. Alle Labors, Wohnräume und Werkstätten sind zu dem geworden, was ihre Umgebung ist – zu Stein. Zwar flüssig, aber jetzt dürfte der Erstarrungsprozess schon begonnen haben. Den Menschen drohte keine Gefahr. Es dringt keine gefährliche Strahlung an die Oberfläche, es sind durch die vier Erdstöße keine Schäden an Gebäuden, Straßen, Brücken oder anderen Einrichtungen entstanden. Unsere Techniker haben gute Arbeit geleistet.“

Die Erleichterung sahen die Menschen dem Hohepriester an. Fast freudig hüpfte Inot zu den Autos. „Heinrich, kann ich mit dem großen Wagen fahren?, fragte er. Und erklärend für diesen Wunsch fügte er hinzu: „Das wird für mich ein ganz neues Erlebnis sein.“

Jeder Biorob nahm auf einem der Beifahrersitze Platz. Sie hielten Kästchen in der Hand, welche den Navigationskästchens glichen. Jakob fragte sogleich auch Hook, ob die Technik identisch mit ihren Kästchen sei. Die Antwort allerdings brachte Jakob wieder ins Grübeln – über die Rückständigkeit und Primitivität der menschlichen Technik. Hook erklärte ihm nämlich, dass die Kästchen, die die Menschen erhalten hätten, mehrere hunderte Jahre alt seien. Sein Gerät sei moderner und erst vor zwanzig Jahren entwickelt worden. Das neueste Gerät hält Inot in den Händen. Mit seinem Gerät wäre es möglich, menschliche Gedanken für eine kurze Zeit zu manipulieren. Inot würde bei dieser Fahrt dieses Gerät verwenden, um ungestört von Polizeikontrollen oder anderen störenden Momenten die Fahrt zu der neuen Heimat zu bewältigen.

„Dann habt ihr uns wohl auch manipuliert?!“ Erschrocken rief dies Jakob aus. Aber nicht Hook sondern Inot antwortete ihm: „Nur der Hohepriester darf dies Gerät benutzen! Euch habe ich nicht manipuliert. Uns zu helfen war eure freie Entscheidung. Wir mischen uns nicht in die Belange der Menschen ein. Wir sind für sie ja auch nicht vorhanden. Diese Unkenntnis der Menschen ist der beste Schutz für uns.“ Sehr leise fügte er hinzu: „So soll es auch zukünftig bleiben!“

Jakob und seine Freunde hörten jetzt Heinrich sagen: „Aber wir vier wissen doch von euch. Wir könnten euch verraten. Das könnte euch doch gefährlich werden.“

„Ich kenne dich und deine Freunde - besser als ihr euch selbst kennt. Wäre ich mir nicht sicher, hätte ich euch nicht um Hilfe gebeten. Keiner von euch wird sein Geheimnis verraten.“ Selbstbewusst und ruhig hatte Inot gesprochen.

Lachend mischte sich jetzt Eimech ein: „Inot kann euch auch die Erinnerung nehmen. Wünscht es euch und unser Hohepriester macht es möglich.“

„Nein! Nein, das ist nicht notwendig. Ich weiß es!“ Mit diesem „Ich weiß es!“ war damit für Inot die Diskussion abgeschlossen.

Vier Stunden ungestörte nächtliche Autobahnfahrt und Inot führte jetzt den Konvoi über einsame Landstraßen und Schotterwege die letzten fünf Kilometer auf „Schleichwegen“ zum Ziel. Im Dunkel der Nacht türmte sich aus der Ebene Felsenberge, die scheinbar zum Himmel wuchsen.

„Wir übernehmen `Alberichs Reich´!“, sagte Inot lächelnd. Behände kletterte er scheinbar mühelos aus dem Führerhaus. Kaum hatte er den Boden berührt, öffneten sich die Autotüren und die Biorobs kletterten heraus. Wortlos begannen sie mit ihrer Arbeit. Bereits zwei Minuten nach dem Halt auf der Waldlichtung schwebten Maschinen, Geräte und alle anderen Utensilien der Unterirdischen geräuschlos in die dunkle Nacht. Als der Vierzigtonner entladen war, erwachten die Unterirdischen aus ihrem Schlaf. Sie stellten sich im Kreis um die Menschen auf, verbeugten sich tief. Inot trat drei Schritte auf die Freunde zu, verbeugte sich dreimal vor ihnen. „Danke für eure Hilfe! Das werden wir euch nicht vergessen! Ich kenne eure geheimsten Wünsche und wir werden uns bemühen, sie euch zu erfüllen. Behaltet die kleinen Kästchen. Sie geleiten euch sicher nach Hause. Seid ihr am Wohnort, werden sie deaktiviert. Behaltet sie trotzdem, denn in 10 Jahren werden wir euch einladen, mit uns das `Sonnenfest´ zu feiern. Dann rufen euch die Kästchen zu uns!“

Inot trat zurück in den Kreis der Unterirdischen. Er und alle anderen verbeugten sich tief und ein Chor feiner heller Stimmchen rief in die Nacht: „Dank euch, ihr Menschen! Wir werden euch nie vergessen!“

Die kleinen Menschen trippelten, angeführt vom Hohepriester Inot, auf dem schmalen Wildwechselpfad in die dunkle Nacht einer neuen Heimat entgegen.