Geschichten vom Weihnachtsmann

4. Der Tannenbaum

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(von Joachim Größer)

 

Schnee fällt und pudert die Tanne weiß. Mitten auf der großen Waldlichtung steht dieser imposante Baum. Hoch ist er gewachsen und breit laden seine Zweige aus. Und vor diesem Tannenbaum steht ein alter Mann und neben ihm ein kleiner Junge.

„Ist das der Baum, Opa?“, fragt der Junge.

„Ja, Andreas, das ist er – der Baum des Andreas Waldner. Es ist ein ganz besonderer Baum.“

„Erzähl Opa, erzähl bitte. Ich möchte die Geschichte hören.“

„Nun gut, ich erzähle sie so, wie sie mir mein Großvater erzählt hat.“

 

Einst, in einer längst vergangenen Zeit, als die Menschen noch mit Hexen, Feen und Zwergen sprachen, lebte der kleine Junge Andreas mit seinen Eltern am Rand eines riesengroßen Waldes. Arm waren die Leute, bitterarm und diese Armut sah man der Hütte am Waldrand auch an.

Am Morgen, kaum, dass das Himmelsrot den neuen Tag verkündete, schulterte der Vater seine Kiepe, in der die vielen geschnitzten Tannen, Tiere, Feen und Waldmännchen lagen. Sie wollte der Vater auf dem Markt in der großen Stadt verkaufen. Drei Tage war dann der Vater weg, denn er brauchte je einen Tag für die Hin- und Zurückreise und an einem Tag, dem Markttag, verkaufte er auf dem Marktplatz seine geschnitzte Ware.

Die Mutter überreichte dem Vater vor dem Haus das Brot für die Reise. Der Vater küsste die Mutter auf die Wange, ging drei Schritte in Richtung Wald, um sich noch einmal umzudrehen und um zu winken. Wusste doch der Vater, dass hinter dem Fenster sein siebenjähriger Sohn Andreas stand und dem Vater einen Gruß zurief: „Vater, grüß die Eisfee von mir und bitte sie um Kälte!“

Ja, es war schon ein sonderbarer Gruß und eine noch ausgefallenere Bitte, die Andreas da dem Vater hinterher rief.

War es doch die Eisfee, die die Menschen im kalten Winter frieren ließ. Sie brachte den strengen Frost, der den Boden knochenhart werden ließ. Der Waldteich bekam eine dicke Eisschicht, die Bäche schmückten ihre Ufer mit herrlich glänzenden Eiskristallen, und wenn der Nebel dem Frost Gesellschaft leistete, waren alle Bäume, Sträucher und Gräser in ein weißes Kleid gehüllt. Oft forderte die Eisfee ihre Schwester, die Frau Holle, auf: „Nun Schwester, meine Arbeit habe ich getan! Jetzt schüttele du deine Betten!“

Und die Frau Holle schüttelte und die Schneeflocken fielen, weißer Daunen gleich, langsam zu Boden.

Und all dies wünschte sich der kleine Andreas. Und er sah seinem Vater hinterher, und er hoffte, dass der Vater heute der Eisfee begegnen werde. Hatte doch der Vater schon vor vielen Tagen versprochen: „Andreas, wenn der Schnee fällt und auch nicht mehr wegtaut, dann ist Weihnachten nahe. Wir gehen in den Wald und schlagen die schönste Tanne. Der Herr hat schon sein Einverständnis gegeben!“

Und der „Herr“ war der wichtigste Mann weit und breit - es war der Vogt, der die Ländereien des Grafen verwaltet. Und auf dieser Tanne wollte dann Andreas seinen Vogel anbinden. Einen Vogel, den er selbst geschnitzt und mit vielen bunten Farben angemalt hatte. Ganz oben auf der Tannenspitze sollte sein Vogel sitzen. So wollte es Andreas und so hatte es ihm der Vater auch versprochen.

Aber Andreas hoffte nun schon lange umsonst auf den vielen Schnee. Auch der Tag ging vorbei und die Luft war noch immer so warm, dass man noch ohne wärmende Jacke im Wald spielen konnte. Spielen tat Andreas gern und zwar mit den Zwillingen. Die beiden Mädchen waren erst vier Jahre alt, und wenn Mutter viel Arbeit im Haus und im Stall hatte, dann nahm Andreas die Mädchen an die Hand und ging mit ihnen in den Wald. Er erzählte ihnen Geschichten – Geschichten, die ihm auch seine Mutter und der Vater erzählt hatten. Und so kannten die beiden Mädchen auch den Zwerg, der den seltsamen Namen „Ich tu nur Gutes!“ trug, sie kannten die Eisfee und ihre Schwester Frau Holle und natürlich auch die kleinen Waldmännchen, die Waldwichtel.

So verging der erste Tag, an dem der Vater nicht zu Hause war. Am Abend hob die Mutter sorgenvoll das Gesicht zum grau verhangenen Himmel, an dem kein Mond und keine Sterne funkelten.

„Es wird kalt, Andreas“, sagte die Mutter zu Andreas. Und dann ergänzte sie: „Es wird Schnee geben. Hoffentlich ist Vater bald daheim!“

Sorgenvoll hatte das die Mutter gesagt. Doch Andreas hörte ihre Sorgen nicht in den Worten. Er hörte nur: „Es wird Schnee geben!“

Und diesen Schnee hatte er sich doch schon so lange gewünscht. Viel Schnee! Dann konnte er mit dem Vater in den Wald gehen und dort die große Tanne fällen. Sie würden den Baum in die warme Stube stellen und dann …, dann käme der große Augenblick: Der Vater wird ihn zur Tannenspitze hinaufheben und Andreas kann seinen bunten Vogel auf die Spitze der Tanne festbinden.

Mit diesem Gedanken schlief Andreas ein und mit diesem Gedanken wachte er am Morgen auf.  Huch war die Schlafkammer kalt. Eigenartig war das Licht, das durch das kleine fast blinde Fenster in die Kammer fiel.

Andreas stürzte zum Fenster und blickte hinaus auf den Wald, der jetzt gar nicht mehr dunkel war. Weiß - nur weiß war der Wald.

So schnell hatte sich Andreas schon lange nicht mehr angezogen. Er stürzte die Stiege hinunter, an der Mutter, die am Feuer hantierte, vorbei und schrie im Vorbeirennen seine Freude hinaus: „Es hat geschneit! Geschneit! Jetzt ist Weihnachten!“

„Nein, mein Andreas!“ erwiderte die Mutter. „Weihnachten ist erst in zwei Tagen. Wenn Vater zu Hause ist, dann ist Weihnachten.“

Und leise fügte die Mutter hinzu: „Hoffentlich hört es bald zu schneien auf!“

Dass es aufhören sollte zu schneien, dies wollte Andreas nicht, und so fragte er: „Warum soll es denn nicht schneien?“

„Vater muss über die hohen Berge gehen. Und wenn es weiter so schneit, so ist der Weg nicht mehr begehbar. Und …“

Jetzt schluchzte die Mutter leise und Andreas sah die Tränen in den Augen der Mutter.

Andreas wurde traurig und seine Traurigkeit merkten auch die Zwillinge, die mit ihm spielen wollten.

Jetzt wünschte sich Andreas keinen Schnee. Jetzt schaute er genauso sorgenvoll in den Himmel, wie es auch die Mutter tat.

Und es schneite und schneite. So oft Andreas vor die Tür trat, so oft bat er die Frau Holle, sie möge doch das Bettenschütteln sein lassen. Auch die Eisfee bat er, keinen Frost mehr zu schicken. Aber seine Bitten wurden nicht erhört – es schneite und schneite! Auch am dritten Tag, an diesem Tag wollte der Vater zurück sein, schneite es. Kniehoch lag der Schnee bereits und Andreas schrie seine Angst in den Himmel: „Frau Holle! Frau Holle! Bitte, hört auf mit dem Bettenschütteln! Vater kommt sonst nicht über die hohen Berge!“

Mehrmals schrie Andreas seine Bitte in den grauen Himmel und dann, es begann schon zu dämmern, schien Frau Holle seine Bitte gehört zu haben.

Andreas stürzte in die Küche und rief der Mutter zu: „Es hat aufgehört zu schneien, Mutter! Jetzt kommt Vater nach Hause!“

Und die Mutter schaute Andreas sorgenvoll an, strich ihm übers Haar und flüsterte: „Bestimmt, bestimmt.“

Andreas rannte vor die Tür und schaute zu den hohen Bergen, die aber in der Dunkelheit des Abends nicht mehr zu sehen war. Aber da …! Da war doch ein Licht?! Ein Licht, das weit entfernt war. Und wer hat in der dunklen Nacht ein solches Licht?

Andreas rannte in die Küche und vor Aufregung stammelte er: „Ein Licht … auf dem Berg ein Licht … Vater ist das! Das ist Vater!“

Die Mutter rannte jetzt auch vor die Tür und hinter ihr drängten Andreas und die Mädchen ins Freie.

„Da Mutter, da!“ Andreas zeigte auf einen winzigen kleinen hellen Punkt.

„Das ist doch der Vater?“, fragte Andreas ängstlich, da seine Mutter auf Andreas Ruf nicht geantwortet hatte.

„Andreas, ich weiß nicht … Es könnte ein Licht sein … Warten wir, ob es näher kommt.“

Die Mutter und die Kinder starrten auf dieses kleine helle Licht.

„Mutter, das Licht ist näher gekommen! Wirklich!“ Und auch die Zwillinge meinten, dass das Licht jetzt viel näher sei.

Nur die Mutter zögerte mit der Bestätigung. Andreas rannte in die Wohnstube und trat mit dem Laternenlicht wieder vor die Tür. „Mutter, ich geh dem Vater entgegen!“ Und Andreas rannte auch schon los.

Der Mutter konnte nur noch hinterherrufen: „Sei vorsichtig und bleib auf dem Weg!“

Der Weg war ein schmaler Pfad, der sich in Richtung Berge durch den Wald schlängelte. Das Licht war jetzt nicht mehr zu sehen, die hohen Bäume versperrten den Blick auf die Berge. Zum Glück für Andreas kannte er diesen Weg genau, führte er doch zu der großen Lichtung und auf dieser Lichtung stand der Baum, den Andreas mit seinem Vater zum Weihnachtsfest schlagen wollte. Und da diese Lichtung auf einem Hügel war, war dann auch wieder der Blick auf die hohen Berge möglich.

So stapfte Andreas durch den tiefen Schnee. Bald kam er ins Schwitzen und blieb erschöpft stehen. Doch dann begann er zu laufen, so schnell, wie es der tiefe Schnee erlaubte. Hatte doch Andreas jetzt ein Licht gesehen – ganz nah und nicht auf dem Berg. Hell leuchtete es! Aber wer sollte hier im Wald ein Licht bei sich führen, wenn es nicht der Vater war?

Keuchend trat Andreas auf die Lichtung. Hell leuchtete ein Licht auf der Spitze der Tanne. Und diese Tanne stand mitten auf der Lichtung. Es war die Tanne, die Andreas mit dem Vater zum Weihnachtsfest schlagen wollte.

„Oooh!“, staunte Andreas, als er das Licht sah. So hell, so klar, so hatte er noch kein Licht gesehen, denn Kerzen und Öllampen, die im Haus benutzt werden, geben nur ein trübes Licht.

Aber noch sonderbarer als das helle Licht waren die Gestalten, die erschrocken verharrten, als Andreas auf die Lichtung trat. Sie schauten zu Andreas und Andreas zu ihnen und keiner traute sich zu regen. Dann endlich eilte ein kleiner Mann mit Zipfelmütze und langem weißem Bart zu Andreas. Er stellte sich vor Andreas auf, und obwohl Andreas erst sieben Jahre alt war, überragte er diesen kleinen Mann fast um zwei Köpfe.

„Ich heiße ‚Ich tu nur Gutes!‘ Und wie heißt du?“, fragte er Andreas. Andreas war so überrascht, dass der kleine Mann, der vor ihm stand, der Zwerg ‚Ich tu nur Gutes!‘ war, dass er stammelte: „Ich, äh ich … ‚Ich tu nur Gutes!‘???“

Der Zwerg lächelte jetzt: „Du kannst nicht so heißen. Das ist mein Name. Wie heißt du, Junge?“

„Andreas“, flüsterte Andreas und fühlte sich gar nicht mehr gut. Ja – er überlegte, ob er nicht schnell wegrennen sollte – nach Hause zu Mutter.

Doch der Zwerg erkannte die Angst in Andreas Augen und sprach: „Hab keine Angst, Andreas. Ich tu nur Gutes. Und alle hier Versammelten freuen sich über deinen Besuch. Nicht oft bekommen wir Besuch aus dem Menschenreich. Also nur Mut und keine Angst. Heute ist der Weihnachtsabend und wir erwarten noch hohen Besuch.“ Und der Zwerg streckte sich, zog Andreas nach unten und flüsterte ihm dann ins Ohr: „Wir erwarten den Weihnachtsmann. Er kommt immer zuerst zu uns und dann begibt er sich auf die große Reise zu den Menschen.“

Der Zwerg fasste Andreas Hand und Andreas stapfte mit dem Zwerg durch den hohen Schnee zur Tanne.

„Kommt und begrüßt unseren Gast! Kommt ihr Wichtel, ihr Elfen, kommt ihr Gnome und Kobolde, kommt alle und begrüßt den Andreas, der mit uns das Weihnachtsfest feiern wird. Kommt nur, kommt!“

Und all die Wichtel und Elfen, die Gnome und Kobolde kamen zu Andreas und begrüßten ihn: „Sei willkommen, Andreas! Wir freuen uns, dass du mit uns das große Fest feiern willst!“

Kaum hatte der kleinste Wichtel den Andreas begrüßt, rauschte es durch die alten Tannen und ein Schlitten, der von keinem Pferd, von keinem Tier gezogen wurde, fuhr auf die Lichtung. Im Schlitten saßen zwei Frauen in silbern glänzenden Kleidern. Als die Frauen die vielen Gestalten sahen, fragte die Ältere der beiden aufgeregt: „Ja, ist das Fest schon vorbei? War der Weihnachtsmann schon da?!“

„Nein, nein – gute Frau Holle. Unser Weihnachtsmann ist noch nicht erschienen. Aber …“ Und hier machte der Zwerg „Ich tu nur Gutes!“ eine lange Pause. „… aber einen anderen Gast haben wir soeben begrüßt. Er heißt Andreas, ist ein Menschenkind und wird mit uns das Weihnachtsfest feiern.“ Und der Zwerg „Ich tu nur Gutes!“ schubste Andreas, sodass der einen Schritt nach vorn tat und nun von den beiden Frauen erstaunt gemustert wurde.

„Andreas? Andreas? Der Name kommt mir so bekannt vor. Ich habe eine Stimme gehört, die mich zuerst bat, viel Schnee auf die Erde zu schütteln und dann – ich war sehr verwundert – bat dieselbe Stimme, dass ich keinen Schnee mehr aus meinen Betten schütteln sollte. Eigenartig?! Und du bist dieser Andreas?“

Andreas stand ganz blass und starr und konnte vor Aufregung nicht antworten. Dafür erhob sich die andere Frau in dem Schlitten und sprach: „Schwester, auch ich kenne diesen Andreas. Auch mich bat er zuerst um die große Kälte, und als ich meine Herrschaft über das weite Land angetreten hatte, bat er doch, es möge wieder warm werden. So war es doch, Andreas?“

Jetzt war Andreas nicht mehr blass und starr, jetzt war sein Gesicht ganz rot vor Aufregung und er brachte auch vor Aufregung keine Antwort heraus.

Der Zwerg „Ich tu nur Gutes!“ half ihm. „Antworte, Andreas! Hab keine Angst vor der Frau Holle und der Eisfee. Sie sind den Menschen sehr wohlgesonnen.“

Andreas gab sich einen innerlichen Ruck und nickte kräftig mit dem Kopf. Dann flüsterte er: „Ja, das bin ich.“

Nun wollten nicht nur die Eisfee und die Frau Holle wissen, warum Andreas seine Wünsche verändert hatte. Und Andreas begann zu erzählen - von der großen Tanne, die er mit dem Vater zu Weihnachten schlagen wollte, von des Vaters Reise in die große Stadt und dass der Vater längst zu Hause sein müsste. Er erzählte von Mutters Sorge, dass der viele Schnee den Vater nicht über die Berge kommen lassen wird und dass doch heute Weihnachten sei und dass doch er, Andreas, den selbst geschnitzten bunten Vogel auf die Spitze der Weihnachtstanne binden wollte. Und dass die Zwillinge mit der Mutter zu Hause auf Vater warten und dass er losgerannt sei, dem Vater mit seiner Laterne den Weg nach Hause zu zeigen.

Schweigend hatten alle zugehört. Der Zwerg „Ich tu nur Gutes!“ sprach für alle: „O ja, Andreas! Wir verstehen deine Sorgen und Ängste. Sagt Freunde, können wir dem Andreas helfen?“

Und ehe irgendjemand antworten konnte, erhob sich die Eisfee und rief in die bitterkalte Nacht: „He, he! Nordwind! Freund und Helfer! Eile und suche Andreas Vater! Spute dich, Nordwind! Spute dich!“

Und es erhob sich ein furchtbarer Sturm, der den Schnee aufwirbelte und alle Geschöpfe auf der Lichtung über und über mit Schnee bedeckte. Noch hatten die Elfen, Gnome, Kobolde und alle anderen sich noch nicht vom Schnee gesäubert, als auch schon erneut ein Schneegestöber die Ankunft des Nordwindes ankündigte.

„Hört! Hört! Auf dem Weg zwischen den beiden hohen Bergen liegt ein Mann erschöpft im Schnee. Eine Kiepe liegt neben ihm! Ist dies Andreas Vater?!“

„Ja, ja! Das ist Vater! In der Kiepe hatte er die vielen geschnitzten Sachen, die er in der großen Stadt verkaufen wollte!“ Freudig schrie Andreas die Antwort. „Vater, ich komme!“

Und Andreas wollte loslaufen, doch im tiefen Schnee fiel ihm schon das langsame Gehen schwer.

„Warte, Andreas. Wir werden deinen Vater zu uns holen!“ Frau Holle sprach dies. Dann verließen die beiden Schwestern den Schlitten. Der, kaum dass die beiden Frauen ausgestiegen waren, brauste davon – in Richtung der hohen Berge.

Andreas konnte nur noch staunen. Und noch mehr staunte er, als nach kurzer Zeit der Schlitten wieder auf die Lichtung fuhr. Und in dem Schlitten saß mit blassem Gesicht und rot gefrorener Nase der Vater.

„Vater! Vater!“ Jetzt war Andres nicht mehr zu halten. Er stapfte durch den tiefen Schnee zum Schlitten, zog sich auf den Sitz hinauf, um dann seinen Vater in die Arme zu schließen.

„Andreas“, flüsterte der Vater. „Jetzt bin ich zu Hause!“

Und die Geschöpfe auf der Lichtung klatschten vor Freude in die Hände und wünschten Andreas und seinem Vater ein frohes Weihnachtsfest.  

Als der Vater das Wort „Weihnachtsfest“ hörte, fasste er nach hinten in den Schlitten. „O weh, meine Kiepe! Sie liegt noch im tiefen Schnee!“, rief er erschrocken aus.

Schon wollte Frau Holle den Schlitten erneut losschicken, die Kiepe zu holen, als ein alter, weißbärtiger Mann in einem dicken roten Mantel, der einen Esel führte, auf die Lichtung trat.

„Lasst ab, Frau Holle!“, sprach der alte Mann. „Die Kiepe fand ich auf meinem Weg zu euch. Ich dacht schon, es kann sich nur um einen Unfall handeln. So bracht ich sie mit!“

Der Alte trat zum Schlitten und reichte dem Vater seine Kiepe. „Nimm Jakob Waldner“, sagte der Alte zu Andreas Vater, „nimm und feiere mit den Deinigen das Weihnachtsfest. Ich weiß, dass du mit deinem Sohn zum Fest diese Tanne schlagen wolltest. Nun bitt ich dich, lass ab von dieser Tanne. Sie soll auch weiter auf dieser Lichtung stehen und allen hier zum Feste leuchten.“ Und der Alte schaute hinauf zur Tanne und das Licht auf der Tannenspitze leuchtete hell und klar - ein Licht, wie Andreas Vater solch Licht noch nie gesehen hatte.

Sich zu Andres wendend, sagte der Alte mit zwinkerndem Auge: „Dies ist eine besondere Tanne! Wenn du dir etwas von Herzen wünscht, so komm und sprich hier den Wunsch aus – aber nur leise, keiner soll ihn hören. Bestimmt wird er erfüllt werden.“

Nun fragte der Alte die Frau Holle: „Kann dein Schlitten unsere Gäste nach Hause bringen?“

„Aber ja, lieber Weihnachtsmann! Das kann er und ich gebe noch ein Geschenk mit!“ Und Frau Holle klatschte in die Hände und ein kleines Päckchen flog in des Vaters Kiepe. Jetzt klatschten auch die Eisfee, der Zwerg „Ich tu nur Gutes!“, die Elfen und Wichtel und alle anderen in die Hände und viele Geschenke landeten in der Kiepe. Und da es so viele waren, saßen bald Andreas und sein Vater in einem Schlitten voller Päckchen. „Frohe Weihnachten!“, riefen sie und winkten den beiden Menschen zu. Schon ruckte der Schlitten, doch der weißbärtige Alte hielt den Schlitten mit der einen Hand fest, mit der anderen Hand reichte er Andreas ein kleines Tannenbäumchen. „Frohes Fest, Andreas!“

Kaum dass der Weihnachtsmann seine Hand vom Schlitten nahm, da brauste der auch schon davon. Andreas und sein Vater hatten noch nicht einmal Zeit, sich bei dem Weihnachtsmann, der Frau Holle, der Eisfee, dem Zwerg „Ich tu nur Gutes!“ und all den anderen Geschöpfen des Waldes zu bedanken.

Hui, das war eine Fahrt! Der Wind wehte dem Andreas so heftig ins Gesicht, dass er Wangen und Nase rötete und die Augen tränen ließ. Und ehe Andreas sich versah, hielt der Schlitten vor der Hütte – direkt vor der Mutter und den Zwillingen. Und die haben gestaunt und große Augen gemacht, als der Vater mit seiner Kiepe aus dem Schlitten stieg und als Andreas die vielen Geschenkpäckchen aus dem Schlitten holte. Als kein Päckchen mehr im Schlitten war, nahm Andreas sein Tannenbäumchen und bedankte sich beim Schlitten: „Hab Dank, lieber Schlitten für die die wunderschöne Fahrt! Und Grüße alle von mir und sage ihnen meinen Dank!“

Kaum war das letzte Wort verklungen, brauste auch schon der Schlitten davon. Inzwischen war die Mutter mit dem Vater ins Haus gegangen. Die Zwillinge trugen die Päckchen hinein und Andreas stellte das Geschenk des Weihnachtsmannes mitten in die gute Stube. Kaum dass das Tannenbäumchen auf dem Boden stand, da wuchs und wuchs es und es wurde so groß, dass die Spitze fast die Zimmerdecke berührte. Wie staunte da die ganze Familie Waldner. Den Kindern blieb der Mund vor Staunen offen, der Vater schüttelte nur verwundert den Kopf und die Mutter flüsterte: „Was für ein wunderschöner Weihnachtsbaum!“

Der Vater sprach: „Andreas, nun setzen wir deinen Vogel auf die Spitze der Tanne!“ Und Andreas rannte los, seinen selbstgeschnitzten und bunt bemalten Vogel zu holen.

Der Vater hob ihn empor – hoch hinauf bis zur Tannenspitze und dort befestigte Andreas seinen bunten Vogel.

Es war ein wunderschönes Weihnachtsfest – ein Fest, wie es die Familie nie vergessen wird. Die Päckchen, die ihnen Frau Holle, die Eisfee und alle anderen Geschöpfe geschenkt hatten, enthielten all die nie ausgesprochenen großen und kleinen Wünsche. So bekamen die Zwillinge Puppen, die sie an- und ausziehen konnten, die Mutter ein neues Sonntagskleid, der Vater neues Schnitzwerkzeug und Andreas ein dickes Bilderbuch. Aber noch schöner als dieses Bilderbuch war für Andreas die Weihnachtstanne, die mitten im Zimmer stand. Und hoch oben auf der Spitze saß der bunte Vogel!

 

„So hat sich damals alles zugetragen. Inzwischen ist die Tanne zwar zu einem mächtigen Baum herangewachsen, aber alles das, wovon ich dir erzählt habe, ist auf dieser Wiese geschehen. So hat es mir mein Großvater erzählt und so erzähle ich es dir, Andreas. Und ich kann nur sagen, alles ist wahr. Dieser Junge Andreas war dein Ur-, Ur-, Urahn. Und so wie dieser Junge hieß, Andreas Waldner, so heißt du auch.“

„Du aber auch Großvater!“, rief der kleine Junge an der Hand des alten Mannes.

„Ja, und wenn du groß bist und selbst eine Familie hast, dann wird dein Ältester auch Andreas heißen – so wie alle Erstgeborenen der Waldners. Und du wirst mit ihm zu dieser Lichtung gehen und wirst ihm die Weihnachtstanne zeigen, die die geheimen Wünsche der Menschen erfüllen kann.“

„Großvater, ich wünsche mir …!“

„Pst, Andreas!“, flüsterte der Großvater. „Die Tanne erfüllt doch nur geheime Wünsche, nur geheime!“