"Mühlengespenster" Teil IV

Fortsetzung Teil 4:

 

... Noch zwei Schläge und ihr werdet mir 1000 Jahre dienen! Noch ei ...“

Weiter kam er nicht. Martin schoss auf den aufgeblasenen Gespensterfürsten zu, entriss ihm beim Vorbeisausen den Ring und steckte ihn sich an den Finger. „Drehen, Antoooon!“, schrie er und wachte schweißnass im Bett auf.

„Alles in Ordnung?“, fragte ihn sein Bruder.

„Mannomann, war das knapp!“, rief Martin so laut, dass seine Eltern erschrocken ins Kinderzimmer stürzten. Sie sahen ihre beiden Jungs aufrecht im Bett sitzen. „Was ist?“, fragte die Mutter. Anton antwortete für Martin: „Nichts ist! Martin hatte nur einen Albtraum.“

Kaum war die Tür hinter ihren Eltern wieder geschlossen, flüsterte Martin: „Was meinst du Anton, werden unsere Wünsche erfüllt?“

Und Anton hob seine Hand hoch, an der der Ring des Adalbert steckte und sprach leise: „Solange wir diese Ringe haben, muss unser Wunsch auch erfüllt werden.“

„Meinst du wirklich?“ Martin war sich der Bedeutung der Ringe nicht sicher. Doch Antons Antwort beruhigte ihn. Meinte doch sein älterer Bruder, dass es der Gespensterfürst nicht dulden dürfe, dass solch gewaltige Zauberringe in den Händen der Sterblichen bleiben können.

So warteten sie auf Martins Geburtstag und hofften, dass ihre Wünsche durch den „Allmächtigen“ doch erfüllt werden.

Zu Martins Geburtstag herrschte ein herrliches Winterwetter. In der Nacht hatte es kräftig geschneit, nun strahlte die Sonne auf den weißen, glitzernden Schnee. Sie leckte bereits wieder den Schnee an einigen Stellen weg. Kaum aber erreichte das Schmelzwasser den Schatten, gefror das Wasser zu Eis.

Kurz vor 15 Uhr bat Martin seine Geburtstagsgäste, sich ihre warmen Winterjacken anzuziehen. „Vergesst nicht die Mützen und Handschuhe!“, rief er ihnen freudig zu. „Es kann windig werden!“

„Martin, warum können wir nicht im Warmen bleiben?“, fragte ihn Hannah, die Jüngste seiner Geburtstagsgäste. „Der Meinung bin ich auch!“, kommentierte Yannick die Frage seiner Schwester.

„Also, mal alle herhören!“ Martin schrie in das Getümmel, um sich Gehör zu verschaffen. Seine Gäste hatten alle keine große Lust, die warme Stube zu verlassen. Der Bauch der Mädchen und Jungen war vom Genuss einer großen „Pumuckel-Torte“ gefüllt; der Magen verlangte sein Recht auf Verdauung und damit auf körperliche Untätigkeit. So maulten sie alle – je nach Temperament lauter oder leiser.

Martin holte sie mit seiner Ankündigung aus diesem Phlegma heraus. „Hört mir gut zu!“, brüllte er erneut. Endlich trat Ruhe ein. „Ich möchte mich bei euch für eure Geschenke herzlich bedanken. Ich habe auch ein Geschenk für euch - ein besonderes Geschenk, das ihr euer Leben lang nicht vergessen werdet! Das hoffe ich wenigstens.“

„Was willst du uns geben?“, fragte Lucas, Martins bester Freund.

„Also, Anton und ich hatten vor drei Tagen ein besonderes Erlebnis. Wir lernten sehr komische Gestalten kennen. Für Anton und mich war diese Begegnung ein aufregendes Abenteuer: Wir haben nämlich Gespenster getroffen. Diese ...“

Weiter kam Martin nicht. Das Kinderzimmer war mit herzlichem Lachen, lautem Wiehern und Rufen „Gespenster!?, Gespenster!?“ erfüllt.

In einer kurzen Verschnaufpause, denn auch Lachen kann sehr anstrengend sein, erklärte Anton sehr ernst und sehr ruhig: „Martin veralbert euch nicht! Sein Geschenk für euch ist: Gespenster kennenlernen! Jetzt und sofort! Deshalb zieht euch schnell an. In fünf Minuten müssen wir auf der alten Eisenbahnstrecke stehen. Wenn ihr in fünf Minuten immer noch glaubt, Martin veräppelt euch, so darf jeder von euch sich etwas von uns wünschen! Klar?“

Ohne weitere Kommentare abzuwarten, ging Anton zur Flurtür. „Los, Martin! Wir müssen auf jeden Fall pünktlich sein!“, sagte er zu seinem kleineren Bruder. Martin setzte schnell seine Mütze auf und eilte Anton hinterher, seine Geburtstagsgäste sich selbst überlassen. Doch die lachten, grölten und witzelten nun auch nicht mehr, sondern zogen sich in Windeseile an und stürzten den Brüdern hinterher. Dann ging es fast im Dauerlauf die Wiese hinauf zur alten Eisenbahnstrecke. Seit drei Jahrzehnten fuhr hier keine Eisenbahn mehr. Teilweise war die Strecke von Gehölzen fast zugewachsen. Auch lag in Sichtweite ein umgefallener Baum über den Gleisen.

Völlig außer Atem keuchte Johanna: „Martin ...! Martin, stimmt das wirklich – das mit den Gespenstern?“

„In zwei Minuten müssten wir sie sehen. Ich weiß nur nicht, aus welcher Richtung sie kommen.“

„Martin, du spinnst!“ Yannick stand vor ihm und feixte über das ganze Gesicht. „Ich erhebe Anspruch auf deinen Bio-Shocker, Anton! Du hast das doch ehrlich gemeint, mit dem Wunsch, Anton?“

„Er gehört dir, wenn sie nicht kommen, Yannick! Aber die Gespenster kommen!“

„Und ich bekomme deinen Rebound!“ Auch Lucas beteiligte sich an diesem neuen Spiel – so dachte er nämlich. Irgendwie waren sich alle Geburtstagsgäste darin einig, dass Martin und Anton sie furchtbar „auf die Schippe“ nehmen wollten.

Martin starrte auf seine Armbanduhr. „Noch eine Minute“, murmelte er. Er war mächtig aufgeregt. In Gedanken überlegte er schon, was er seinen Freunden erzählen könnte, wenn der `Allmächtige´ sein Wort nicht hält und ihre Wünsche nicht erfüllt werden.

„Sie kommen! Sie kommen!“, flüsterte er, als könnte er die Gespenster damit herbeischwören.

„Sie kommen!“ Anton schrie die Botschaft in den kalten Wintertag. „Sie kommen!“, seufzte Martin erleichtert. Und wie sie kamen - die Gespenster vom Mühlental. Eine Dampflokomotive, uralt - der legendären „Adler“ von Stephenson aus dem Jahre 1835 nachgebildet - zischte und dampfte heran. Es war eine Freude, diesem Dampfspektakel zuzusehen. Hinter der „Adler“ waren zwei Wagen gehängt, einer offen, der andere mit Überdach. Da behinderte der mächtige Baumstamm die Weiterfahrt der „Adler“. Jetzt sahen die Kinder, wie ein mächtiger Mann in prächtiger Uniform aus dem ersten Wagen schwebte, den mächtigen Baumstamm emporhob. Er vergrößerte sich gewaltig und erreichte eine solche Größe, dass die Eisenbahn zwischen seinen Beinen hindurchfahren konnte. Dann stellte er den Baumstamm senkrecht, richtiger wäre zu sagen: Er stampfte ihn in den Boden. Dann schwebte er in seiner eigentlichen Größe zur Lokomotive und winkte den Kindern erhaben zu.

„Glaubt ihr nun dem Martin, dass es Gespenster gibt?“, fragte Anton Martins Geburtstagsgäste. Doch die dachten gar nicht daran, zu antworten. Sie standen da mit offenen Mündern und stierten auf dieses Schauspiel.

Zischend hielt der Lokomotivführer die Lok direkt vor Martin an. Der dicke Mann in der prächtigen Uniform, es war der „Allmächtige“ persönlich, verneigte sich galant vor Martin und säuselte in höchsten Tönen: „Jung-Martin, von und zu der Hemgesbergburg! Junger Freund und Bewahrer unserer Macht! Wir sind deinem Wunsche entsprechend zu dir geeilt! Befiehl uns – wir werden dir gehorchen!“ Wieder und wieder verbeugte er ich vor Martin. Dann drehte er sich zu Anton um und begann erneut zu säuseln: „Ritter Anton, Herr des Adlersteines und Herrscher über den goldenen Drachen! Auch dir ein Willkommen! Willkommen im Namen aller Gespenster und Geister des Mühlentales! Auch dein Wunsch, oh gestrenger Freund und Beschützer der Gespenster, auch dein Wunsch wird heute erfüllt!“

Martin und Anton beantworteten diese überaus freundliche Begrüßung mit galanten Verbeugungen. Die anderen Kinder standen und starrten und verstanden die Welt nicht mehr. Vor ihnen stand originalgetreu eine Lokomotive, wie sie 1835 zum ersten Mal in Deutschland fuhr. Die Gespenster waren in Kostümen erschienen, wie sie um 1835, also in der Zeit des Biedermeiers, getragen wurden. Und dann erst diese komischen Reden des Obergespenstes und wie ihre Freunde Martin und Anton auf diese komischen Reden mit genauso komischen Verbeugungen antworteten. Hannah rieb sich die Augen und murmelte: „Das gibt es nicht! Ich glaube, ich träume!“ Dann schrie sie plötzlich laut auf. Ihr Bruder Yannick hatte sie in den Hintern gekniffen. „Du träumst nicht“, feixte er und wandte sich an Martin: „Das sind richtige Gespenster! Das ist wirklich eine tolle Überraschung! Können wir da mitfahren?“

„Ich habe sie für uns bestellt“, antwortete lächelnd Martin. „Meine lieben Gespensterfreunde werden uns bedienen!“ Er drehte sich zum „Allmächtigen“ um und fragte ihn scheinheilig: „So ist es doch `Allmächtiger Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle´, Herrscher über alle Gespenster des Mühlentales?“

Und der Gespensterfürst säuselte: „So ist es, mein lieber Jung-Martin! So ist es!“

Anton übernahm die Regie: „Jetzt können wir einsteigen! Auf geht’s! Jeder sucht sich ein Plätzchen!“

Yannick wollte als Erster den Waggon besteigen, doch sobald er den Fuß auf das Trittbrett stellte, sauste der Fuß durch das Brett hindurch. „Na, das ist ja ein toller Gespensterzug!“, knurrte er.

Der „Allmächtige“ eilte herbei. „Contenance! Contenance!“, fuhr er Yannick an. Sich an Anton wendend, säuselte er: „Wir müssen doch die Etikette einhalten, mein lieber junger Burgherr. Stellt uns doch eure hochwohlgeborenen Freunde vor.“

Anton antwortete: „Gern, mein lieber Fürst, sehr gern. Unsere Gäste sind eure Gäste. Sie sind vom höchsten Rang, hochgebildet und fein im Anstand und Sitte! Sie werden eurem Hause alle Ehre machen. So empfangt sie, `Allmächtiger Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle´!“

Anton verbeugte sich vor dem Gespensterfürsten. Dann zeigte er auf Hannah und schrie: „Edle Freifrau Hannah, Herrscherin über riesige Ländereien, Besitzerin der Schlangenburg!“

Hannah schubste er dann mit den Worten „Verbeuge dich vor dem `Allmächtigen´ und besteige dann den Wagen!“ Und Hannah tat, wie ihr Anton aufgetragen. Kaum hatte sie sich vor dem Obergespenst verbeugt, eilte Fridolin herbei, nahm mit einer tiefen Verbeugung ihre Hand und half ihr galant auf den Tritt, der sich diesmal nicht in gespenstisches Nichts auflöste.

Kaum hatte Hannah den Waggon betreten, trug sie vornehme Kleidung der Biedermeierzeit. Warme Pelze, verziert mit bunten Rüschen und Bändern, ein wärmender Muff für die Hände – Hannah sah hübsch in dieser Maskerade aus. Ihr folgte „Johanna, Princess of Engelland“. Die Verbeugung des Fridolin fiel besonders tief aus, als er der neu gebackenen Prinzessin in den Waggon half.

Anton stellte nun jeden Jungen vor. Yannick wurde „Edler Freiherr Yannick, Hauptmann der kaiserlichen Ehrengarde und Herr der Schwalbennestburg“. Lucas hieß nun „Baron Lucas, von und zu des Lichtensteines, Edler von Heppburg und der Auerburg“. „Ritter Marius, Edler vom Schnellert und Besitzer der Winburg“ – so hieß jetzt der zurückhaltende Marius.

An der Seite stand ganz gerührt der Gespensterfürst und brabbelte: „Ach, was für vornehme Gäste! So jung! So schön! So reich! Alles Burgfräuleins und Burgherren! Ach, was ist das doch für ein schöner Tag!“

Als Letzter der Geburtstagsgäste wurde „Paul, der Große – Herrscher des Dies- und des Jenseits, Befehlshaber des mächtigen Paulusschwadrons und Besitzer des Luftschlosses“ besonders ehrerbietend vom „Allmächtigen“ sogar mir einem Gespensterhandkuss als Zeichen besonderer Ehre begrüßt.

Als Martin einstieg, rief Anton: „Jung-Martin, von und zu der Hemgesbergburg! Anlässlich seines 11. Wiegenfestes wurde er in den `Großorden des Heiligen Martinius´ aufgenommen und ihm wurde der Orden `Heiliger Bimbam mit Ehrenband´ verliehen. Verneigt euch vor diesem mächtigen Ritter der Ehrenlegion!“ Er selbst tat dies und alle machten es ihm nach. Martin stolzierte wie ein Pfau zum Waggon, lächelte huldvoll – wenigstens glaubte er es – und bestieg mit grinsendem Gesicht den Wagen. Kaum hatte er den Waggon betreten, wurde auch er, wie zuvor alle anderen, festlich in der Mode der Biedermeierzeit gekleidet.

Anton, heute besonders galant, begleitete den „Allmächtigen“, der vor Rührung über so viel vornehme Gäste immerzu „Ach was sind das für vornehme Damen und Herren!“ säuselte.

Kaum war der „Allmächtige“ in den Waggon geschwebt, setzte sich der Zug in Bewegung. Da er aber in die andere Richtung fahren musste, vollführte der Lokführer – es war kein anderer als der Junker Rodenstein – eine große Schleife. Auch wenn er ohne Schienen fuhr, der Gespensterzug dampfte, qualmte, ratterte und pfiff zurück in Richtung Wasserschloss. Wieder auf den Gleisen erhöhte der Rodensteiner die Geschwindigkeit. So strich der Fahrtwind den jungen Gästen, die zuerst im offenen Wagen Platz genommen hatten, ganz gewaltig um die Ohren. Aber von diesem Platz konnte man am besten den Zug bewundern. Aus dem überlangen Schornstein der Dampflokomotive quoll schwarzer Rauch, kringelte sich in der Luft, nahm dabei die Gestalt des Hermännchens an. Heizer des Gespensterzuges war niemand anders als des Rodensteiners Rüstung. Die Rüstung schaufelte Kohle oder Holzkohle oder irgendetwas anderes Schwarzes in die Öffnung der Feuerung. Dort brannte hell das Feuer, das aber dem Martin sehr wunderlich vorkam. „Anton, schau mal in das Feuer! Ist das nicht unser Giftzwerg, der Adalbert?“, fragte er seinen Bruder. Und Adalbert war es wirklich. Er war das Feuer und zeigte sich in seiner Gespenstergestalt immer dann, wenn er sich besonders „aufglühte“.

Noch weitere bekannte Gespenster entdeckten die Brüder. Die Wassernixe und ihr Ehemann, das Wassergeistlein sowie der Bachgeist befanden sich im großen Wassertank. Ab und zu öffneten sie die Klappe und krochen als gespenstische Dampfwolke aus der Öffnung, in die sonst das Wasser nachgefüllt wurde. Die Wassernixe machte sich auch den Spaß und zischte aus der Dampfpfeife in einem ohrenbetäubenden Lärm.

„Zu Tisch, meine lieben Burgfrauen und Burgherren!“, säuselte der „Allmächtige“. In seiner prachtvollen Schaffneruniform schien er sich selbst äußerst zu gefallen. Er schwebte so elegant und gekonnt zwischen den Gästen, dass man wirklich seine anmutigen Bewegungen, trotz seiner gewaltigen Leibesfülle, bestaunen musste.

Im zweiten überdachten Waggon war eine festliche Tafel gedeckt. Die beiden Elfen, Lucia, blutiges Tautröpfelein und Elfi, stachliger Sonnentau, schwirrten graziös durch den Waggon, nur darauf wartend, die Mädchen und Jungen zu bedienen.

Jeder fand sehr schnell seinen Platz, denn riesige Tischkarten mit vollem Titel, so wie sie Anton beim Einsteigen hinausgebrüllt hatte, schwebten über dem Sitzplatz. Den Ehrenplatz erhielt Martin. Seine Tischkarte war über und über mit Goldstaub bedeckt. Als er sie näher betrachten wollte und sie anfasste, zerfiel sie zu Staub. Auch das Essen, das dann verabreicht wurde, war außergewöhnlich. Jeder wurde aufgefordert, sein Wunschessen zu denken. In gespenstischer Eile wurde es von den beiden Elfen serviert. Martin stellte sich eine riesige Eisbombe vor und prompt stand sie vor ihm. Er nahm den Löffel und schob sich eine Riesenportion in den Mund und aß ... Nichts! Das machte zwar nicht satt, aber Spaß machte dieses Bankett doch. Die Kinder bestellten gedanklich alles, was ihnen einfiel und prompt lieferten es die Elfen. Immer war es „Luft“, was sie in den Mund nahmen.

Ein Zwischenfall unterbrach das Festessen.

„Da! Ein großer LKW fährt gleich über die Schienen!“, schrie ängstlich der Paul. Und wirklich fuhr ein Vierzigtonner auf die Schienen zu. Obwohl der Rodensteiner in seiner Funktion als Lokomotivführer Signale gab und die Wassernixe immer und immer wieder aus der Pfeife mit großem Lärm zischte, der LKW-Fahrer schien taub zu sein. Ein Zusammenstoß war unausbleiblich.

Die Kinder krümmten sich zusammen, Marius umklammerte Anton, Hannah kroch fast ihrem Bruder auf den Schoß - jeder glaubte, sein letztes Stündlein hätte geschlagen. Doch wie wunderbar, der Zug fuhr durch den LKW hindurch – einfach so: Er fuhr durch den LKW!

Niemand der Kinder merkte etwas, niemand war verletzt. Verstört schauten sich die Geburtstagsgäste und ihre Gastgeber an. Was war mit ihnen geschehen? Dann sprach Anton das Unfassbare aus: „Wir sind alle auch Gespenster!“

„Gespenster?“ kreischte Johanna und ergriff den Arm ihres Nachbars und griff durch ihn hindurch. Martin versuchte sie zu beruhigen: „Johanna, wenn wir den Zug verlassen, sind wir wieder Menschen. Glaube es mir!“

In diesem Moment stieg eine gewaltige Rauchwolke aus dem Schornstein und wehte in den Waggon hinein, vorbei an Martins Gesicht. Und der hörte seinen kleinen Gespensterfreund Hermann: „Vorsicht, mein lieber Martin! Vorsicht! Der `Allmächtige´ will euch als Gespenster behalten. Vorsicht!“

Auch Anton erhielt eine Alarmmeldung. Fridolin war wieder als Mücke aktiv und mit feinem Stimmchen warnte er Anton: „Du musst den `Allmächtigen´ zwingen, euch als Menschen freizulassen! Du hast die Kraft, denn du wirst die Silberglocken sehen und damit wirst du übergroße Macht haben, auch über den `Allmächtigen´. Denke daran: Wer die Glocken besitzt, ist Herrscher über das Mühlental!“

Also darin waren sich Anton und Martin einig: Fridolin und Hermännchen waren echt gute Gespenster. Sie hatten sich kurz durch Flüstern verständigt, immer auf der Hut, dass sie der „Allmächtige“ nicht belauschen kann.

Der Gespensterzug dampfte unterdessen unverdrossen ins Mühlental hinab. Die Endstation war der alte Bahnhof, nahe dem Wasserschloss. Nur den Kindern machte dieser Ausflug nun überhaupt keinen Spaß mehr. Johanna war nahe dem Heulen, Hannah versuchte sich krampfhaft am Arm ihres Bruders festzukrallen und griff doch nur ins gespenstische Leere. Auch Paul, Marius, Lucas und Yannick saßen blass und ängstlich schauend. So sehr Anton und Martin auch versuchten, sie davon zu überzeugen, dass sie bald wieder Menschen seien – sie glaubten ihnen nicht. Der „Allmächtige“ genoss diese Anspannung seiner Menschengäste. Er strahlte förmlich vor Vorfreude. Da Anton wusste, warum er sich so amüsierte, schmiedete er in Gedanken seinen „Schlachtplan“.

Mit lautem Pfeifen, Zischen und Quietschen fuhr der Zug in den alten Bahnhof ein. Galant wurden die Mädchen aus dem Waggon geleitet. Der dicke „Allmächtige“ ließ es sich nicht nehmen, sie persönlich zu geleiten. Martin sah, wie Johanna genau so wie die Gespenster dicht über den Boden schritt. Er selbst sprang vom Trittbrett auf den Bahnsteig und merkte, dass er keinen Boden berührte. Ihm war jetzt auch mulmig zumute, vertraute aber auf Anton, der ihm zuflüsterte: „Aufpassen, Martin! Lasse dich auf keinen Handel mit dem `Allmächtigen´ ein. Auch wenn er noch so vorkommend ist und uns alles verspricht, keinen Handel! Überlasse alles Verhandeln mir!“ Martin nickte. Und Anton startete seinen Angriff.

„Allmächtiger Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle“, flötete er so liebenswert er konnte, obwohl er am liebsten dieses unverschämte Obergespenst verhauen hätte. „Fürst der Gespenster! Beherrscher des Mühlentales! Der Wunsch meines Bruders ist erfüllt! Nun erfülle meinen Wunsch: Zeige mir die drei silbernen Glocken!“

„Oh, mein lieber junger Burgherr! Leider ist dieses heute nicht möglich, denn kein Mensch kann diese Glocken sehen. Seid ihr echte Gespenster – ja, dann ...!“ Er strahlte über sein feistes Gesicht. Dann schwatzte er fröhlich weiter. Man konnte annehmen, dass er sich seiner Sache ziemlich sicher war. „Ich mache euch zu echten Gespenstern und dann seht ihr die herrlichen Silberglocken, Glocken, die kein Mensch mehr seit 600 Jahren erblickt hat. Du wirst sie dann auch sehen, mein lieber junger Freund!“

 „Gut, gut!“, antwortete ihm Anton. „Nur - ich will sie sehen, die Silberglocken. Nur ich hatte diesen Wunsch! Also erfülle auch nur mir meinen Wunsch, edler Fürst und Herrscher!“

Der „Allmächtige“ überlegte. Man konnte an seinem aufgeblasenen Gesicht erkennen, welche Gedanken ihm durch seinen Gespensterkopf gingen.

Anton hörte wieder Fridolins feines Stimmchen: „Gut gemacht, mein lieber Anton. Verlange, dass alle anderen sofort zu Menschen werden und wieder bei euch im Menschenreich sind. Ich werde dir auch weiterhin mit meinem Rat helfen. Vertrau mir!“ Und Anton vertraute ihm.

„Einverstanden, mächtiger Fürst!“, sprach Anton sehr betont. „Mach mich zum richtigen, echten Gespenst! Alle anderen schicke zurück ins Menschenreich. Sie sollen mit Martin weiterhin seinen Geburtstag feiern. Erfülle dies und ich werde ein Gespenst!“

Der „Allmächtige“ überlegte ...

 

Fortsetzung hier!