Kinderseite Nr. 2: "Der goldene Becher"

"Der goldene Becher" Teil II

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von Joachim Größer


Wie sollte Martin der Hexe diese Frage beantworten? Also stand er und starrte. Die Hexe lächelte und formulierte die dritte Prüfung: „Was kann man nie und nimmer gefangen nehmen, Martin?“

Martins Gedanken rasten nur so. In Sekundenschnelle prüfte er seine möglichen Antworten, aber alle verwarf er. So stand er eingesperrt in seiner Starrheit und konnte nur noch denken.

Dann durchzuckte ihn ein Geistesblitz. Anton merkte dies an den Augen seines Bruders. Nicht, dass sie sich bewegten, nein, sie „sprachen“. Und diese Sprache verstanden die Hexe und ihr Bruder. „Hervorragend!“, rief die Hexe und erlöste Martin aus seiner Starre. „Du bist ein kluger Junge!“, kommentierte auch der Teufel Martins Antwort.

Die Hexe löste die Starre auf. Martin schüttelte sich und fragte sofort: „War denn die Antwort `Gedanken kann man nicht gefangen nehmen´ richtig?“

„Aber ja“, antwortete ihm lächelnd die Hexe, „sonst hätte ich die Starre nicht so einfach aufheben können. Auch in unserer Welt gibt es viele Gesetze und Bestimmungen.“

„Das hast du prima gemacht!“, meinte auch der Teufel, der jetzt gar nicht mehr wie ein Teufel aussah. Er schlug dem Martin voller Anerkennung mit seiner Hand, die eine richtige Pranke war, kräftig auf die Schulter. Martin rutschte in sich zusammen.

„Du Grobian! Du Teufel! Kannst du nicht besser aufpassen! Musst du dem kleinen Martin so weh tun!“, schrie die Hexe ihren Bruder an. Und ihre Wut steigerte sich noch, als sie sah, dass Anton den fast bewusstlosen Martin aufhob. Sie knallte dem Teufel ihre Hände, und es waren garantiert nicht nur zwei, in einem solchen Tempo um die Ohren, dass der Teufel wimmerte: „Aufhören, liebste Schwester! Ich werde alles tun, um dies ungeschehen zu machen! Teufels Ehrenwort!“

„Ach, du Teufel! Du Nichtsnutz! Du Dummbart!“, fauchte die Hexe schon etwas versöhnt. Dann eilte sie zu Martin, strich mit der Hand über sein Gesicht und Martin schlug die Augen auf. „Hat dich dieser verflixte Teufel grob behandelt“, brabbelte sie und nahm Martin in die Arme. Dem war das gar nicht recht. Er sträubte sich gegen ihre Umarmung. „Ist schon gut“, antwortete er, „ich hab´ s ja überlebt!“

„Aber etwas Gutes hat es auch“, flüsterte die Hexe ihm zu. „Weißt du, Martin, der Teufel muss dir jetzt dienen!“ Sie strahlte über das ganze Gesicht. „Und das behagt ihm gar nicht, diesem Nichtsnutz, diesem großen dummen Teufel!“

Anton, der dies alles nur als Beobachter registrierte, brachte sich jetzt in Erinnerung. „Bekommt Martin jetzt das `Sehende Auge´?“

„Ja, natürlich!“, erwiderte die Hexe und winkte dem Bruder. Der Teufel eilte in die Hütte und trug sehr vorsichtig in beiden Händen das `Sehende Auge´.

„Lege es dem Martin in den Schoß“, flüsterte die Hexe. Zu den Jungs gewandt, sagte sie: „Man soll das `Sehende Auge´ auf keinen Fall grob behandeln, man darf nicht lügen und der Fragende muss sehr klug sein. Nur dann wird das `Auge´ auch die Fragen richtig beantworten.“

Martin übernahm äußerst behutsam das `Auge´. Er und Anton betrachteten dieses geheimnisvolle `Auge´. Es war ein Stein, in Form und Aussehen dem menschlichen Auge ähnlich. Dieser Stein strahlte - es war, als würde er mit dieser Strahlung etwas mitteilen wollen. So jedenfalls empfand das Martin. Er schaute die Hexe fragend an. „Frage“, sagte diese, „Frage und das `Auge´ wird dir die Antwort geben.“

Doch Martin wandte sich zuerst an seinen Bruder: „Anton, ist dir aufgefallen, dass meine Erzählung ganz anders war. Seit wir den Berg bestiegen haben, erleben wir eine neue Geschichte.“

„Das stimmt, Martin!“, antwortete Anton und fragte jetzt die Hexe: „Hat das etwas zu bedeuten?“

„Gut ist das nicht, aber was es zu bedeuten hat, das kann ich nicht beantworten.“

„Wer kann es denn?“, fragte Martin. Dabei betrachtete er in seiner Hand das `Auge´. Doch jetzt sandte der Stein keine geheimnisvollen Strahlen aus. Er lag kalt in Martins Hand.

„Nur der Märchenerzähler, vielleicht noch unser König“, antwortete die Hexe. Sie blickte zu ihrem Bruder. „Teufel noch mal, jetzt kannst du deine Schandtat von vorhin wieder gut machen. Eile und frage den Märchenerzähler!“

Der Teufel strahlte übers ganze Gesicht, drehte sich dreimal um sich selbst und hast du nicht gesehen, in seinem Teufelsaussehen brauste er mit einer teuflischen Geschwindigkeit durch die Luft. Auf dem Hexenberg lud die Hexe die Jungs zum Essen ein. In der Hütte brodelte der große Topf über dem offenen Feuer. Es roch herrlich nach Sonntagsbraten, Weihnachten und Geburtstagskuchen. Es war, als krochen sämtliche Gerüche den beiden Jungs in die Nase und von dort zum Magen, der vor Freude zu knurren begann.

 Anton saß bereits am Tisch, während Martin mit beiden Händen das `Sehende Auge´ umschließend, vor dem Stuhl stehen blieb. „Wo kann ich das Auge hinlegen?“, fragte er zaghaft.

„Hm“, meinte die Hexe nachdenklich. „es müsste seiner Bedeutung angemessen und sicher sein. Du musst es ja auch auf deiner langen Reise sicher bewahren können. Was könnte es denn sein?“ Nachdenklich rührte die Hexe den Inhalt des Topfes um.

„Wäre der goldene Becher, den Martin vom Märchenerzähler erhalten hat, das Richtige?“

„Ja, Anton“, antwortete die Hexe freudig, „ein edleres Gefäß können wir nicht finden. Wo ist er, dieser goldene Becher?“

Anton hatte ihn in seiner tiefen Hosentasche sicher verwahrt. Die Hexe nahm ihn, strich dreimal über den Rand des Bechers und weiches, frisches Moos schwebte durch die offene Tür direkt in den Becher. Mit ihren langen Fingern formte sie das Moos so, dass das „Auge“ hineingelegt werden konnte. Sie forderte Martin auf, dieses zu tun. Vorsichtig legte Martin das „Sehende Auge“ hinein und die Hexe verschloss den Becher mit einem Deckel aus Birkenrinde.

„Willst du das `Auge´ befragen, so öffne nur den Deckel“, sagte sie zu Martin.

Sie stellte den Becher auf den Tisch und forderte Martin auf, Platz zu nehmen. „Kommt nun und probiert meine Kochkunst. Sie ist weit und breit berühmt. Selbst die Königsfamilie holt mich zu ihren Festen ins Schloss. Dann bin ich dort der Küchenmeister.“

Sie schnipste mit den Fingern und hölzerne große Schüsseln schwebten aus dem Wandschrank zum Tisch. Ein zweiter Schnips und die Kelle füllte jedem Jungen die Schüssel.

Der Duft war betörend. Essen wollten die Jungs - ja, aber wie diese köstliche Suppe löffeln. Ein neuer Fingerschnips löste das kleine Problem und dann war in den nächsten Minuten außer „Das ist köstlich!“ und „Das schmeckt!“ nichts mehr zu hören. Die Köchin strahlte übers ganze Gesicht. „Esst! Esst!“, forderte sie ihre Gäste auf. Kaum waren die Schüsseln geleert, als mit einem neuen Fingerschnips ein Braten aus dem Topf in die Schüsseln schwebte. Dem Braten hinterher folgten zweizinkige Gabeln und zwei mächtige Messer. Und der Braten schmeckte noch besser als die Suppe. Der unerschöpfliche Topf lieferte dann auch noch einen köstlichen Kuchen, der einfach „göttlich“ schmeckte. So jedenfalls meinte es Anton und Martin nickte mit vollem Mund zustimmend.

Kaum hatten die Jungs den letzten Bissen hinunter geschluckt, als es nach Pech und Schwefel roch. „Ach, mein Brüderchen kommt zurück“, sagte die Hexe und schaute zur Tür. Dort erschien der Teufel, aber bereits in menschlicher Gestalt als junger Mann.

„Ich bringe Botschaft vom Märchenerzähler und einen Befehl des Königs!“, rief er laut.

„Nun sprich, was ist die Botschaft!“, forderte die Hexe ungeduldig.

Und der Teufel erzählte, was ihm der Märchenerzähler berichtet hatte. „Der Zauberer Rebuaz hat durch seine Spione Kunde von zwei Menschenkindern erhalten. Er weiß, dass Martin ihn besiegen kann. Durch dieses Wissen über die Kraft des Martins verängstigt, legte er den großen Feuerzauber über sein Reich. Die Erde tat sich auf und sie gebar das Feuer. So sollen Martin und sein Bruder am Weiterkommen gehindert werden.“

Während der Teufel erzählte, lugte er immer wieder zu dem großen Topf auf dem Feuer. Seine Schwester, die dies mit einem Lächeln quittierte, gab ihm aber unmissverständlich zu verstehen, dass er erst alles berichten musste, ehe er speisen konnte. So setzte der Teufel seinen Bericht fort: „Ich habe den Märchenerzähler auch gefragt, warum Martin feststellen musste, dass seit dem Besteigen des Hexenberges die Gegenwart anders verläuft. In seinem Märchen hätte er es anders erzählt. Die Antwort gab der König: Er habe aus Vorsicht ein neues Königs-Gesetz verfügt! Da bekannt wurde, dass Rebuaz über Martins Vorhaben bescheid wusste, verfügte die Majestät, dass Martin Helfer bekommen darf. So lässt er Martin fragen, ob er auch weiterhin ein Kämpfer für die `Andere Welt´ sein wolle. Und Anton lässt der König fragen, ob er gemeinsam mit seinem Bruder gegen den Zauberer kämpfen würde. Dich, liebe Schwester bittet die Königin, mit dem `Großen Schutzzauber´, den selbst der Zauberer Rebuaz nicht brechen kann, die beiden Menschenkinder zu beschützen.“

„Den `Großen Schutzzauber´!“, flüsterte die Hexe erschrocken. Kreidebleich war sie geworden. „Ich habe ihn noch nie gesprochen“, fügte sie schnell hinzu.

„Aber du bist die Einzigste, die ihn ausführen kann und darf. Das hat ausdrücklich die Königin gesagt!“, erwiderte der Teufel. „Unsere Mutter hat ihn dir gelehrt. Nur dir! So war es doch!“

„Ja, du hast ja recht, aber in den letzten zweihundert Jahren wurde er nie angewandt. Es ist ein mächtiger Zauber!“

Dem Teufel knurrte der Magen. Immer und immer wieder schielte er zum dampfenden Topf auf dem Feuer. Ungeduldig, die köstliche Speise vor Augen, murrte er: „Jetzt sagt mir eure Antwort. Der König wartet darauf!“

Er schaute die Brüder fragend an. Die nickten zustimmend, wenn man ihnen auch ansah, dass ihnen dabei nicht ganz wohl war. „Und du, Schwester?“

Die Hexe murmelte: „Ja, ja! Ich werde ihn aussprechen!“

„Dann kann ich die Botschaft dem König senden“, sagte erfreut der Teufel. Er winkte einem bisher unsichtbaren Geschöpf, es war eine große Eule und befahl ihr, dem König zu berichten.

„So, das wäre erledigt“, rief er dann fröhlich und eilte zum großen Topf. „Wie das wieder duftet, Schwester!“, lobte er sie im Vorgeschmack eines genussvollen Essens.

„Halt!“, kam es befehlend von der Hexe. „Noch wissen wir nicht alles. Was ist mit dem Befehl des Königs?“

Der Teufel, der bereits mit der Kelle sich bedienen wollte, zuckte zurück. Dann erwiderte er lächelnd: „Ach, nichts Besonderes. Der König meinte, dass ich der Einzige in unserem Reich bin, der das mächtige Erdfeuer besiegen kann. Das ist mein Auftrag. Kann ich nun endlich essen?“

„Ja, das kannst du.“ Die Hexe gab ihm den Topf vom Feuer. Dann rief sie die Jungs zu sich. „Jetzt spreche ich den `Großen Schutzzauber´ über euch. Martin gib mir das `Auge´.“

Martin nahm aus dem goldenen Becher das Auge und gab es vorsichtig der Hexe. Die schürte das Feuer, legte mächtige Holzscheite nach und ständig murmelte sie dabei - für die Jungs Unverständliches. Als das Feuer hell loderte, legte sie das `Auge´ in das Feuer. Jetzt stoben die Funken, ein gewaltiges Prasseln, das in ein mächtiges Dröhnen überging, erfüllte den ganzen Raum. In diese Feuerglut ging sie hinein und forderte die Brüder auf, es ihr gleich zu tun. Der Teufel schaute vor Ehrfurcht auf das Treiben seiner Schwester und vergaß sogar, das mächtige Stück Braten in den Mund zu schieben.

Ängstlich gingen die Brüder zum Feuer. „Kommt nur!“, flüsterte die Hexe. „Euch kann nichts geschehen. Ich beschütze euch!“

Und so fassten die Brüder Mut und schritten in die Feuersbrunst.

Sie waren durch den Zauber der Hexe geschützt. Nichts merkten sie von der Feuerglut. Sie sahen durch das Feuer hindurch und nahmen alles, wie gewohnt, war. „Fasst euch an“, sagte die Hexe und die Jungs fassten sich an die Hände. Die Hexe nahm aus der Glut das „Sehende Auge“ und gab es Martin in die Hand. Es war überhaupt nicht warm, obwohl es im Feuer gelegen hatte.

„Lege deine Hand darauf, Anton“, flüsterte die Hexe und Anton tat es. Jetzt trat die Hexe in ihren Kreis, und als sie die Hände der Jungs umfasste, spürten diese eine ungeheure Wärme und Energie in sich aufsteigen. Der Stein in ihren Händen begann zu leuchten und vermittelte den Brüdern ein wohliges Gefühl, das man nur erleben, aber nicht beschreiben kann.

Um den großen Schutzzauber abzuschließen, sprach die Hexe wieder wundersame Worte, in einer Sprache, die die Jungs nicht verstanden. Plötzlich hielt sie inne. Das „Sehende Auge“ nahm wieder seine ursprüngliche Farbe an und lag kalt in den Händen der Brüder.

„Der Zauber ist vollbracht“, sagte die Hexe und verließ das Feuer. Sie forderte die Jungs auf, ebenfalls aus dem Feuer zu gehen. Erschöpft setzte sich die Hexe neben ihren Bruder. Als Martin zu ihr schaute, erschrak er. Die gute Hexe sah um viele Jahre gealtert aus. Ächzend und mit rauer Stimme sagte sie: „Bruder, jetzt erfülle du des Königs Befehl. Ich muss schlafen.“

Das letzte Wort war verklungen und die Hexe sackte am Tisch in sich zusammen und lautes Schnarchen erfüllte den Raum. Der Teufel hob sie hoch und trug sie in die Hexenkammer. Obwohl er die Tür gut verschloss, hörten die Jungs immer noch ihr ohrenbetäubendes Schnarchen. „Unsere Mutter hat ihr diesen mächtigen Zauber gelehrt. Aber eine Hexe kann ihn nur einmal im Leben ausführen. Jeder Zauber nimmt ihr die Kraft vieler Jahre.“

Das Feuer war in sich zusammengefallen, der Teufel schuf Ordnung in der Hütte. „So“, murmelte er, „nun werde ich das Erdfeuer des Rebuaz löschen.“ Er drehte sich zu den Jungs um und forderte sie auf, das „Sehende Auge“ in den goldenen Becher zu tun und dann vor die Hütte zu gehen. Dort fragte er: „Wie wollt ihr den Hexenberg verlassen, allein oder mit mir?“ Die Brüder wussten darauf keine Antwort. Schließlich meinte Anton: „Der sicherste Weg wäre wohl recht!“

„Gut, so reitet mit mir!“, erwiderte der Teufel schmunzelnd. Er pfiff und ein ausgewachsener Ziegenbock mit riesigen Hörnern kam meckernd zu den Jungs gelaufen. „Nehmt Platz! Setzt euch vorne hin. Am Schwanz zieht mich Adelbert!“

Wer Adelbert war, brauchten die Jungs nicht zu raten. Der Ziegenbock meckerte freudig: „Nur aufgesessen und geschwind geht es ins Tal!“

Martin und Anton saßen auf. Die Hörner des Bockes waren wirklich gewaltig. Beide Jungs konnten sich daran festhalten. Kaum saßen sie, als der Teufel den Schwanz des Ziegenbockes fasste und rief: „Lauf Adelbert!

Lauf wie der Wind!

Hinab in das Tal,

geschwind, geschwind!“

Und der Ziegenbock „stürzte“ sich den Berg hinab. Sicher sprang er von Fels zu Fels und wurde doch immer noch vom Teufel zur Eile angetrieben. Der Wind pfiff den Jungs um die Ohren und doch hatten sie nie das Gefühl, in Gefahr zu sein.

Unten auf der Wiese wurden sie von dem Einhorn und dem Zentaur erwartet. „Beeilen wir uns!“, rief der Zentaur. „Wir haben Botschaft, dass der Zauberer Rebuaz seine fliegenden Drachen als feuerspeiende Kampfmaschinen gegen die Menschenkinder einsetzen will!“

„Eia! Etwas Besseres hättest du mir nicht sagen können!“, frohlockte der Teufel. „Mit diesen Ungetümen wollte ich sowieso schon immer meine Kräfte messen! Auf geht's, Adelbert! Auf in den Kampf!“ Doch bevor Adelbert losrennen durfte, glitten die Brüder vom Rücken des Ziegenbockes und bestiegen den Zentaur und das Einhorn. Fast hätte man meinen können, dass es ein Wettrennen zwischen dem Ziegenbock, dem Einhorn und dem Zentaur sei. Die Erde dröhnte unter ihren Hufen. Zuerst versagten dem Zentaur die Kräfte, dann wurde auch das Einhorn langsamer. Des Teufels Ziegenbock, angetrieben vom Teufel, der immer noch am Schwanz seines Tieres hing, jagte über Wiesen, preschte enge Waldschneisen entlang und übersprang große Flüsse und kleine Bäche mit Riesensätzen.

Plötzlich hielt der Zentaur. Auch das Einhorn vor ihm, mit Martin auf dem Rücken, verharrte. Am dunklen Horizont flogen riesige Vögel, die einen Feuerball vor sich herwälzten.

„Was sind das für Vögel?“, fragte Martin. Und das Einhorn antwortete ihm: „Keine Vögel, es sind die Schrecken der `Anderen Welt´. Es sind die Feuer speienden Drachen des Rebuaz. Keiner hat sie bisher besiegt. Ich hoffe nur, der Teufel ist stark und klug genug, um sie zu bezwingen.“ Der Zentaur, der inzwischen mit Anton zum Einhorn aufgeschlossen hatte, ergänzte: „Der Teufel hat schon einmal mit ihnen gekämpft. Damals, vor mehr als 100 Jahren war er noch ein Junge und verlor. Nur der Zauber seiner Mutter hatte ihm damals das Leben gerettet. Aber er hat den Drachen ewige Feindschaft geschworen.“

Jetzt erlebten die Brüder einen einzigartigen Kampf. Der Teufel war auf den Rücken des Adelbert gestiegen, in der einen Hand blitzte sein Dreizack und in der anderen Hand glänzte ein riesiges Schwert. Adelbert jagte durch die Lüfte, laut meckernd, das aber eher wie Kampfgeschrei klang. Schon nahm der Teufel den ersten Drachen aufs Korn. Der spuckte eine riesige Flamme gegen den Angreifer, doch der Teufel warf sich direkt in dieses Flammenmeer. Mit dem Dreizack spießte er den Drachen auf und mit dem Schwert schlug er dem Drachen alle seine drei Köpfe ab. Und diese Kampftechnik wandte er gegen jeden Drachen an und bald lagen alle sieben Drachen des Rebuaz tot auf der Erde. So glaubten jedenfalls die Brüder und ihre Reittiere. Doch der siebente Drache hatte noch Leben in sich. Als der Zentaur mit Anton nahe an ihm vorbei ritt, fauchte er nochmals einen mächtigen Feuerball. Während Anton durch den großen Schutzzauber der Hexe geschützt war, wurde der Zentaur geblendet.

Erschrocken eilten der Teufel und Martin mit dem Einhorn zum Zentaur. „Damit deine Schmerzen gelindert werden, nimm das!“, sagte der Teufel und spie eine blaue Flamme auf die Augen des Zentaur. „Feuer musst du mit Feuer bekämpfen!“, erklärte er den erschrocken dreinblickenden Brüdern. „Danach handeln alle Teufel!“ Er wandte sich direkt an den Zentaur und bat: „Warte hier. Ich will das Erdfeuer besiegen und dann führe ich dich zum Hexenschloss. Meine Schwester wird deine Augen heilen!“

Das Einhorn ließ Anton aufsteigen und im gemächlichen Trab ging es hinter dem Teufel hinterher. Der war vor Kampfeslust richtig außer Rand und Band. Der Sieg über die sieben Drachen machte ihn zum größten Kämpfer im Märchenreich. Und jetzt wollte er sein Meisterstück abliefern: Das mächtige Erdfeuer, das der Zauberer Rebuaz tief in der Erde entzündet hatte, zum Stillstand zu bringen.

Er trieb seinen Ziegenbock zur Eile an und reimte voller Übermut: „Der Rebuaz, der Rebuaz – der kriegt von mir jetzt eine vorn Latz!“ Und die immer näher kommenden, brennenden, Feuer speienden Berge widerhallten vom Gelächter des Teufels.

Und dann sahen die Jungs und ihr Reittier, das Einhorn, ein wundersames Schauspiel. Mit einem gewaltigen Satz sprang Adelbert mit dem Teufel am Schwanz in das größte Kraterloch – mitten hinein. Eine gewaltige Eruption erschütterte die Erde. Die Luft flimmerte vor Hitze und der Himmel war nur noch rot, glutrot. Schlagartig hörte das Beben auf, die Bläue des Himmels verdrängte das Rot und aus dem Krater schoss Adelbert senkrecht in den Himmel, höher und immer höher. Auf seinem Rücken saß verkehrt herum der Teufel, den Dreizack triumphierend in die Luft stoßend und ein mörderisches Freuden- und Siegesgeheul ausstoßend. „Rebuaz, du Wicht, du Nichtskönner, du Dummbart! Deine Drachen und dein Feuer habe ich besiegt! Jetzt verlierst du deine ganze Macht. Zwei Menschenkinder werden dich besiegen! Das schwöre ich - ich Luzifer, der Teufel - Bändiger des Erdfeuers und Bezwinger der dreiköpfigen Drachen!“

Als der Ziegenbock neben dem Einhorn den Boden berührte, verbreitete sich ein fürchterlicher Gestank. Ruß, Schwefel, Asche schüttelte der Ziegenbock aus seinem Fell. Der Teufel war kohlrabenschwarz, aber froh gelaunt. Er kraulte dem Adelbert aus Dankbarkeit für dessen Hilfe die Ohren.

„Den Befehl des Königs habe ich ausgeführt. Ich werde jetzt den Zentaur zu meiner Schwester führen. Ihr ,Martin und Anton, müsst jetzt immer dem `Sehenden Auge´ folgen. Fragt das `Auge´ und es wird euch den Weg weisen. Hütet es und beschützt es, denn nur dann kann es auch euch beschützen. Der Rebuaz ist geschwächt, aber noch nicht besiegt. Er ist falsch und grausam, kann verschiedene Gestalten annehmen und ist ein mächtiger Kämpfer. Seid also immer auf der Hut. Noch kann euch das Einhorn einen kurzen Weg bringen, doch dann seid ihr allein. Besiegen könnt ihr den Rebuaz aber nur, wenn ihr ihm sein `Sehendes Auge´ nehmt.“

Verwundert fragte Martin: „Er hat auch eins?“ Und der Teufel antwortete: „Einst hat er es als Mitgift für die Hochzeit mit meiner Schwester von meiner Mutter, der großen Hexe, erhalten. Doch er brach sein Heiratsversprechen, behielt aber das zweite `Auge´. Nur, da dieser Rebuaz nicht aufrichtig ist, hat sein `Auge´ weniger Kraft.“ Er schaute Martin an, als er weitersprach: „Du weißt doch noch, welche Prüfungen du bestehen musstest, ehe dir meine Schwester das `Auge´ geben durfte?“

Martin nickte: „Mut, Aufrichtigkeit und Klugheit, das musste ich beweisen.“

„Und wie du das bewiesen hast!“, rief der Teufel lachend aus. „Und damit wirst du dem Rebuaz überlegen sein! Höre Martin und auch du Anton, beherzigt meine Worte: Wer mutig, aufrichtig und klug ist, den verlässt das `Sehende Auge´ niemals! Es beschützt euch und bekämpft mit euch das Schlechte in der `Anderen Welt´!“

Sich an das Einhorn wendend, bat er es, die Brüder bis zu den Toren des Zauberreiches zu bringen. Weiter sollte es aber nicht gehen, denn nur die Menschenkinder allein können den Zauberer besiegen. „Ich bringe sie bis zum großen Zaubertor und dort warte ich auf sie, um sie nach Hause zu bringen“, versprach das Einhorn.

 Nun trieb der Teufel Adelbert zur Eile und das Einhorn lief mit den Brüdern auf dem Rücken in die andere Richtung. Mit gewaltigen Sätzen brachte es die Kinder zum Reich des Zauberers. Vor ihnen taten sich die Berge auf, zwei mächtige Kegelberge bildeten das Tor zum Zauberreich. Wer dieses Reich betritt, begibt sich in die Hand des mächtigen Rebuaz. „Hier werde ich auf euch warten, seid vorsichtig in eurem Kampf. Der Mutige ist auch immer klug, denn sonst könnte er die Gefahren schlecht erkennen. Solltet ihr trotzdem in eine arge Bedrängnis kommen, so ruft mich. Ich werde euch aus dem Machtbereich des Rebuaz bringen. Reißt mir aus meiner Mähne ein Haar aus, jeder nur ein Haar! Wisst ihr nicht weiter, dann zerreißt es und ich werde kommen!“

Und die Jungs zupften dem Einhorn aus seiner dichten Mähne je ein Haar und wickelten es um einen Jackenknopf. „So können wir es nicht verlieren“, kommentierte Anton ihr Tun. Das Einhorn wünschte den Brüdern nochmals Erfolg für ihre Aufgabe und ermahnte: „Denkt daran: Mut und Klugheit gehören zusammen!“

„Wir denken bestimmt daran, liebes Einhorn“, erwiderte Martin. Das Einhorn trabte auf die große Wiese und legte sich schnaubend ins weiche Gras.

„Jetzt gilt es, Martin!“ Anton schaute seinen jüngeren Bruder an. „Wollen wir?“ Martin nickte nur. Und als würde das ihre Kraft verdoppeln, fassten sich die Brüder an die Hände und durchschritten das Tor. Eigentlich erwarteten sie sofort irgendwelche Ungeheuer, die versuchen werden, sie zu töten. Aber nichts geschah, rein gar nichts! Was allerdings den Brüdern sofort auffiel, war, dass kein Vogel sang, kein Hase oder ein anderes Getier durchs Gras lief, selbst die Sonne nur irgendwie unwirklich schien.

Als sie ein zweites Tor durchschritten, das von kleineren Kegelbergen gebildet wurde, verfinsterte sich der Himmel. Der Donner grollte und Blitze zuckten, grell die Umgebung erleuchtend. Mit lautem Zischen schlugen sie neben den Jungs ein. Jetzt zeigte sich, dass der große Schutzzauber der Hexe die Menschenkinder wie mit einer Glocke beschützte.

So plötzlich, wie der Spuk begann, so plötzlich endete er auch. Der Rebuaz erkannte, dass er so die Jungs nicht besiegen konnte. Dafür entsandte er seine beiden Leibdiener, Riesen von Gestalt und zu jeder Untat fähig. Als die Jungs diese zwei Gestalten, sie wuchsen auf die Höhe eines Kirchturmes und trugen Schwerter aus glänzendem Stahl, sahen, wurde ihnen ganz schön mulmig. Kleinlaut flüsterte Martin: „Wollen wir das `Sehende Auge´ um Hilfe bitten?“

„Versuchen wir es“, antwortete ihm Anton. Er zog den goldenen Becher aus seiner unergründlich tiefen Hosentasche. „Ich nehme den Deckel ab und du fragst. Klar Martin? Denk daran, du bist der Bestimmer!“ Und so fragte Martin: „Auge, du allwissendes, du sehendes Auge, kannst du uns helfen? Sag, wie können wir die beiden Riesen besiegen?“

Und das `Auge´ begann zu leuchten, hob sich aus dem goldenen Becher und sandte helle Strahlen, gleich einem Laserstrahl der Menschen, gegen die Riesen. Vor den Augen der Jungs zerflossen die Riesen und nur zwei Rinnsale kündete von ihrer Existenz.

Erleichtert flüsterte Martin: „Danke, `Sehendes Auge`! Danke!“

Das „Auge“ erlosch und sank in den Becher zurück. „Ich behalte den Becher am besten gleich in der Hand. Der Rebuaz hat bestimmt noch mehr Anschläge auf uns vor“, meinte Anton. Doch sie hatten die Macht des Zauberers überschätzt. Der mächtige Schutzzauber der guten Hexe war dem Rebuaz nicht verborgen geblieben. So konnte er die Menschenkinder nicht besiegen – also griff er zur List. Er zeigte sich ihnen in seinem goldenen Festgewand. Ein mächtiger, spitzer, goldener Hut bedeckte die pechschwarzen Haare, die bis zu den Knien fielen. Seine Füße steckten in Stiefeln aus rotem Samt, die mit Goldfäden bestickt waren. Und überall, auf dem Umhang, dem Hut und den Stiefeln, waren Drachen und Schlangen abgebildet. Auf der Stirn haftete in einer goldenen Fassung das zweite „Sehende Auge“. Es schimmerte nur matt und schien nur äußerlich mit dem `Auge´ der Hexe identisch zu sein. Auf einem goldenen Thron sitzend, der Rebuaz war bestimmt dreimal so groß, wie ein normaler Mensch, empfing er die Menschenkinder. Betont freundlich begrüßte er sie: „Herzlich willkommen in meinem Reich! Es freut mich, ebenso mächtige Zauberer, wie ich einer bin, begrüßen zu können. Nehmt mir meine kleinen Überraschungen nicht übel. Ich wollte nur den Beweis, dass meine Gäste mächtig und mir ebenbürtig sind.“ Jetzt lächelte der Zauberer sogar und lud die Jungs mit einer Handbewegung zum Weitergehen ein. Doch die hielten einen gebührenden Abstand zu ihm.

„Ich möchte euch zum Willkommen mit Schätzen überhäufen. Nehmt sie als Geschenk!“ Und der Zauberer bewegte die Arme und aus den weiten Ärmeln seines Umhanges fielen edelste Diamanten, Saphire, Rubine, Smaragde. Wie ein Teppich breiteten sie sich vor den Kindern aus. „Nehmt und ihr seid reicher als jeder König in eurer Welt! Nehmt! Nehmt!“ Beschwörend sprach er dieses „Nehmt!“, immer und immer wieder. Wie benommen standen die Kinder, dann schüttelte sich Anton, so, als wollte er die Beschwörungen des Zauberers abschütteln. „Martin! Martin!“, zischelte er. Als Martin immer noch wie in Trance verharrte, stieß er ihn seinen Ellenbogen mit voller Kraft in die Seite. „Aua!“, schrie Martin. Der Zauberer dies sehen und damit erkennend, dass seine Beschwörung wirkungslos blieb, änderte sofort die Taktik.

„Wenn ihr nicht meine Schätze wollt, was wollt ihr dann? Als meine Gäste werde ich euch jeden Wunsch erfüllen!“ Mit einer großzügigen Handbewegung unterstrich er gönnerhaft seine Worte.

Martin, inzwischen wieder bei vollem Bewusstsein, schrie ihn an: „Wir wollen die geraubte Prinzessin!“

Der Zauberer blieb gönnerhaft. „Ja, wenn ihr weiter nichts wollt? Nehmt eure Prinzessin und verlasst dann mein Reich.“ Er klatschte dreimal in die Hände und junge Mädchen kamen und stellten sich im Kreis auf. Eine war schöner als die andere, alle trugen eine kleine Krone auf dem Kopf. „Nehmt eure Prinzessin und geht!“ Der Zauberer hatte sich erhoben. Jetzt war er nicht mehr gönnerhaft, jetzt befahl er. Dann sahen die Jungs sein hinterhältiges Lächeln. Was hatte der Zauberer jetzt im Sinn? Die Antwort kam sofort: „Die Prinzessin, die ihr auswählt, wird mit euch gehen. Egal, ob sie eine Prinzessin oder nur eine Vision ist. Das befiehlt der große Rebuaz!“

Stolz reckte er sich und rief: „Wählt!“

Anton flüsterte als Antwort auf Martins hilflosen Blick: „Martin, du bist der Bestimmer! Du musst die richtige Prinzessin auswählen!“

„Welche ist denn die richtige?“, fragte Martin leise zurück. Statt einer Antwort hielt ihm Anton den goldenen Becher hin. Er öffnete den Deckel und Martin bat: „Liebes, gutes, sehendes und allwissendes Auge, ich Martin bitte dich, mir bei einer Entscheidung zu helfen. Wir wollen die Prinzessin befreien, aber wir haben sie noch nie gesehen. Also wissen wir auch nicht, wie sie aussieht. Kannst du uns die richtige Prinzessin zeigen?“

Und das `Sehende Auge´ begann zu leuchten, schwebte aus dem goldenen Topf und verschwand dann ebenso schnell wieder.

Verstört schaute Martin zu Anton. Der Zauberer, der diesen Vorgang zwar von Weitem, aber mit „Adleraugen“ verfolgte hatte, höhnte: „Euer `Auge´ ist blind! Nehmt die Prinzessin und verlasst mein Reich! Sofort!“

Anton hatte nicht auf den Zauberer geachtet, sondern sich die Prinzessinnen angeschaut. Das „Sehende Auge“ war nicht erblindet und hatte doch Martins Bitte erfüllt. Ein kleines Mädchen, nicht älter als Martin, stand als Einzige in der Reihe der Prinzessinnen, die eine goldene jetzt aber hell strahlende Krone auf ihren blonden Haaren trug. „Martin, sieh!“, flüsterte Anton. „Schau dir doch mal die Mädchen genauer an!“ Und Martin sah, was sein Bruder meinte. Nur zur Bestätigung fragte er Anton: „Du meinst die Kleinste?“ Und Anton nickte.

Mit forschem Schritt ging Martin zur richtigen Prinzessin, fasste sie an die Hand und zog sie aus dem Kreis der anderen Prinzessinnen. Kaum hatte das Mädchen den Kreis verlassen, verschwanden die anderen als Trugbilder des Rebuaz. Der schäumte vor Wut. Nochmals versuchte er, mit feurigen Blitzen die Jungs zu treffen. Doch der Schutzzauber der Hexe wirkte weiter. Nur die Prinzessin war nicht vor den Angriffen des Rebuaz geschützt.

„Beschütze du die Prinzessin! Ich knöpfe mir diesen Rebuaz vor!“, rief Anton. In einem günstigen Moment gelang es ihm, sich hinter einem Stein vor den Augen des Rebuaz zu verbergen. Martin schützte indessen mit seinem ganzen Körper das Mädchen. Zum Glück war sie mindestens einen Kopf kleiner als Martin. Dem Zauber des Rebuaz schien sie aber noch zu gehorchen. Zwar hatte sie sich von Martin aus dem Kreis wegführen lassen, sonst aber zeigte sie keinerlei Reaktionen. Sie sprach nicht, bewegte sich nicht, ihre ganze Haltung und ihr Gesichtsausdruck signalisierten: Ich, der mächtige Zauberer Rebuaz, beherrsche dieses Geschöpf!

Zum Glück für Anton war der Zauberer immer noch bemüht, Martin und das Mädchen zu vernichten. Doch der Schutzzauber war mächtig und so schäumte der Rebuaz vor Wut. Jeder neue abgeschlagene Angriff, ob das Feuerblitze oder giftige Fliegen, heiße Kübel mit Pech oder kleine fliegende Drachen mit messerscharfen Zähnen waren, vergrößerte die Wut des Zauberers. Er wollte nicht einsehen, dass der Schutzzauber der Hexe doch stärker war als seine Zauberkraft.

Anton konnte, von Rebuaz unbemerkt, sich hinter den Zauberer schleichen. Jetzt stand er hinter dem goldenen Stuhl, auf dem Rebuaz in angespannter Haltung thronte. Antons Plan war eigentlich, dem Zauberer das zweite `Sehende Auge´ zu stehlen, um so seine Macht weiter zu verringern. Aber der Stuhl, auf dem der Zauberer saß, war viel zu hoch und damit war die Stirn des Zauberers mit dem `Auge´ für Anton nicht greifbar.

„Ich muss an dem Stuhl hochklettern. Nur so kann ich meinen Plan ausführen“, sagte sich Anton. Und vorsichtig, sehr vorsichtig zog er sich an der Rücklehne des Stuhles empor. Zum Glück gab es genügend Vorsprünge und goldene Trottel, an denen er sich festklammern konnte. Nur einmal erwischte er das Gewand des Rebuaz, aber der hatte einen erneuten Wutausbruch und merkte nichts von dem Jungen, der hinter ihm hochkroch.

Als Anton jetzt den Kopf des Zauberers erreicht hatte, lugte er hinter ihm hervor. Er wünschte sich, dass Martin seine Gedanken erraten könnte. Wenn nämlich Martin den Zauberer ablenken würde, wäre es einfacher für Anton, das `Sehende Auge´ von der Stirn zu nehmen.

Und Martin entdeckte Antons Gesicht hinter dem Zauberer. Erstaunt und zugleich ängstlich rief er aus: „Vorsicht Anton! Vorsicht!“

Für Anton war das die Gelegenheit. Mit einer blitzschnellen Handbewegung griff er an des Zauberers Stirn und riss das `Auge´ aus der Fassung.

Das Wutgeheul des Rebuaz erschütterte die Berge, widerhallte und das Echo brach sich erneut an ihnen. Anton, das `Auge´ fest mit der Hand umschließend, rutschte an dem Stuhl hinunter und rannte so schnell er konnte hinter einen Steinwall. Dort öffnete er die Hand und bat: „`Sehendes Auge´ kannst du mir helfen? Was muss ich tun, um den Zauberer endgültig zu besiegen?“ Und das `Auge´ begann zu leuchten, strahlte in allen Farben und begann, sich selbstständig auf den Rebuaz zu bewegen. Der, dieses sehen, sackte in sich zusammen und schrie: „Nein! Nicht! Ich gebe meine Macht ab! Niemandem will ich mehr schaden!“

Das war jetzt kein mächtiger Herrscher, kein mächtiger Zauberer mehr, das war ein Jammerhaufen! Das `Auge´ flog um den Rebuaz und mit jeder Umkreisung erstarrte der Zauberer mehr und mehr. Als Rebuaz nur noch den Kopf bewegen konnte, blieb das `Auge´ über ihm stehen. Dunkelrot leuchtete es jetzt und hüllte die gesamte Umgebung in dieses Rot. Der Rebuaz gab nun keinen Laut mehr von sich, er war nur noch Stein.

Das `Auge´ hörte auf zu leuchten und kehrte zu Anton zurück. Just in diesem Moment erwachte die Prinzessin aus ihrer Starre. Sie hüpfte und trällerte, froh über ihre Befreiung. Dann eilte sie zu Martin und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. „Du bist mein Retter, ich danke dir!“, rief sie zwischen den vielen Küssen. Als sich Anton zu den beiden gesellte, lief die Prinzessin zu ihm und wollte auch ihn mit ihren Küssen eindecken. Doch der wehrte nur lachend ab: „Mir gehört nicht der Dank! Ich war nur der Helfer, Martin war der Bestimmer und Kämpfer!“ Und so bekam der arme Martin noch eine geballte Kussserie ab.

Anton tat sein bestes, um Martin vor weiteren Kussattacken zu schützen. „Prinzessin, Martin, lasst uns schnell diesen Ort verlassen. Hinter den Toren fühle ich mich sicherer“, sagte Anton. Er wusste nicht wieso, aber ein dumpfes Gefühl sagte ihm, dass der Kampf mit dem Rebuaz noch nicht zu Ende sei.

Und so rannten sie, die Prinzessin an den Händen fassend, zu den Toren. Anton hatte sich nicht getäuscht. Selbst nach seinem Tode versuchte der Zauberer noch, seine Bezwinger zu bekämpfen. Der Ausgang zu den Toren war durch eine mächtige Mauer aus Gestein, dass glatt wie Glas war, versperrt. Ein Überklettern war nicht möglich. Nicht der kleinste Vorsprung gab einen Halt für Hände oder Füße. Sie hatten den Zauberer besiegt und nun doch verloren?

Sie setzten sich und beratschlagten. Aber eine Lösung fanden sie nicht.

„Das kann doch nicht sein, dass zum Schluss doch der Rebuaz triumphiert!“ Anton schrie seinen Ärger hinaus. Als Antwort begann das `Sehende Auge´ in Antons Tasche zu leuchten und schob sich vorsichtig aus derselben heraus. Dies entdeckte Martin, denn an seinem Jackenknopf begann das Mähnenhaar des Einhorns zu leuchten.

„Anton, sieh!“, rief Martin und zeigte auf dieses Haar. „Natürlich, unser Freund - das Einhorn!“, antwortete ihm Anton und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Dass wir daran nicht gedacht haben.“ Er suchte sein Haar, aber das musste er verloren haben.

„Zerreiße dein Haar“, forderte er Martin auf. Und Martin tat dies. Antons `Auge´ verschwand wieder in der Tasche. Mit einem mächtigen Satz übersprang das Einhorn die große Mauer. „Mit euch auf dem Rücken kann ich diese Mauer nicht überspringen“, sagte es. „Doch ich kann sie niederreißen!“

Und es trabte zur Mauer und schlug mit seinen Hinterhufen wieder und wieder gegen die Steine. Zuerst war es nur ein kleines Loch. Doch die gewaltigen Schläge des Einhorns vergrößerten es schnell. Als eine Bresche entstanden war, fiel die gesamte Mauer in sich zusammen. „Das war die letzte Zauberei des Rebuaz“, erklärte das Einhorn und forderte die drei Kinder auf, seinen Rücken zu besteigen. Schon wollte Martin der Prinzessin beim Aufsitzen helfen, als Anton sie aufforderte: „Wartet damit! Schaut euch mal die Hufe des Einhorns an!“

Was sie sahen, machte sie bestürzt. Die Hufe des Einhorns bluteten stark. Das harte, glasartige und scharfkantige Gestein der Mauer hatten die Verletzungen hervorgerufen.

„Wir müssen versuchen, die Blutungen zu stillen“, schlug Anton vor. So suchten sie krampfhaft nach einem Tuch. Als Martin sein Taschentuch anbot, schlug Anton das Angebot mit der Bemerkung „Das war vielleicht mal vor einer Woche sauber!“ aus. Ihre Jacken und Hemden trugen ebenfalls Spuren von Schmutz. „Nehmt doch dies!“, rief die Prinzessin und begann, einen ihrer weißen und sehr weiten Überröcke – und davon trug sie als Prinzessin fünf - zu zerreißen. Mehrere Bahnen übergab sie Anton. „Sie sind auch sauber!“, bemerkte sie als Anton die Stoffbahnen misstrauisch beäugte. „Ich bin kein Schmutzfink!“

Schnell wurden die blutenden Wunden mit dem Rockstoff verbunden. Dann gingen die Brüder mit der Prinzessin und dem stark hinkenden Einhorn zu den Toren. Keinen Blick zurück in das ehemalige Reich des Bösen riskierten sie. Es war, als hätten sie Sorge, dass Rebuaz noch eine Gemeinheit gegen sie geplant hätte. Vor ihnen lag eine große Blumenwiese, die die Sonne in den prächtigsten Farben erstrahlen ließ. Kaum betraten sie diese Wiese, als alle Bewohner der Märchenwelt aus dem nahen Wald auf die Wiese liefen. Sie jubelten und tanzten vor Freude. Hoch am Himmel jagte der Teufel, am Schwanz seines Ziegenbocks Adelbert hängend, und schrie: „Hoch leben unsere Helden! Ein Hoch auf Martin und Anton, den Bezwingern des Rebuaz! Hoch lebe unsere liebliche Prinzessin!“

Der König gebot mit den Armen Ruhe und begann, eine Dankesrede zu halten. Doch Anton unterbrach ihn mitten im Satz. „Verzeiht, Majestät“, sagte er, „das Einhorn ist schwer verletzt und braucht dringend medizinische Hilfe.“

Sofort flog die gute Hexe auf ihrem Besen durch die Luft und landete direkt neben dem Einhorn. „O je! O je!“, klagte sie, als sie den Notverband von den immer noch blutenden Wunden entfernt hatte. „Das sieht gar nicht gut aus!“ Sie entnahm ihrer Schürzentasche ein Döschen mit Salbe und bestrich damit die Wunden. Beschwörende Zauberformeln begleiteten ihr Tun. Die Wunden hörten auf zu bluten. Zufrieden bemerkte die Hexe: „In drei Tagen wird alles verheilt sein!“

Nun konnte der König seine Dankesrede halten. Allerdings ist in der Erinnerung der Jungs nur diese Aussagen der Majestät geblieben: „Wenn ihr uns besuchen wollt, so nehmt drei Schluck zu Mitternacht aus dem goldenen Becher. Immer werdet ihr bei uns willkommen sein!“

Den goldenen Becher hält Martin gut verschlossen. Nimmt er ihn heraus, um ihn zu betrachten, so kann er sich des Spotts seines älteren Bruders gewiss sein. „Na, Brüderchen“, heißt es dann, „willst du ins Märchenland und dir von deiner lieblichen Prinzessin neue Küsse schenken lassen?“ Was dann folgt, kann man sich denken: die allerbeste Kampelei!

Der Vollständigkeit halber sei noch angemerkt, dass als Geschenk der gesamten Märchenwelt die Brüder die beiden `Sehenden Augen´ erhielten. Sie verloren zwar in der Menschenwelt ihre Zauberkraft, aber in der Gesteinssammlung der beiden erhielten sie einen Ehrenplatz: Es waren zwei besonders schöne Achate. Ein glücklicher Umstand während ihrer Entstehung gab ihnen die fast perfekte Nachbildung menschlicher Augen.