Kinderseite Nr. 2: "Gnome"

"Gnome" Teil I

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von Joachim Größer (2007)

 

„Lass sofort den Koffer stehen!“ Martin ließ den Koffer fallen. „Ich wollte doch nur ...“, erwiderte er zaghaft, wissend, dass sein Bruder ihm sowieso nicht glauben würde.

„Ich weiß, was du wolltest!“, knurrte Anton. „Das ist mein Koffer und du hast nicht das Recht, ihn zu öffnen! Aus und basta!“

Doch auch mit Antons energischem „Basta!“ war der Ärger um den alten Koffer nicht beendet. Dieser alte Koffer verbirgt die „geheimen Schätze“ des zehnjährigen Antons. Martin, Antons drei Jahre jüngerer Bruder, versuchte nun schon seit geraumer Zeit, einen Blick auf diese Schätze zu werfen. Da aber Anton seinen Schatzkoffer immer zuschließt, wartet Martin auf einen günstigen Augenblick, um seine Neugierde zu befriedigen. Doch dieser Moment ist nun auch vorbei. Gerade als er den Deckel lüften wollte, überraschte ihn sein Bruder. Und zu allem Ärger musste er sich nun auch noch die dummen Sprüche seines Bruders zum x-ten Male anhören: „Meine Schätze bewacht der Koffergeist, und wenn du ihn störst, wird es dir furchtbar schlecht ergehen!“

„Du und dein blöder Koffergeist, du spinnst doch!“, antwortete ihm Martin wütend. „Und noch eins: Ich bin keine 4 Jahre mehr. An deinen Koffergeist glaube ich nicht mehr! Merke dir das endlich!“ Wütend verließ Martin das Kinderzimmer und knallte die Tür zu. Doch das brachte ihm nun Ärger mit seiner Mutter ein. Um weiteren Ärger aus dem Wege zu gehen, kletterte er auf den alten Kirschbaum im Garten, verkroch sich im Baumhaus und haderte mit sich und der Welt.

Doch Antons Koffer ließ ihn auch den Rest des Tages nicht los, immer und immer wieder kehrten seine Gedanken zu diesem blöden, von Anton erfundenem, Koffergeist zurück. Er hütete sich aber, seinen Bruder deswegen anzusprechen. Und entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten schlief er sehr schlecht ein, erwachte häufig und erst kurz vor Mitternacht fiel er in einen tiefen Schlaf.

„Aufwachen Martin! Aufwachen!“ Martin öffnete die Augen. Das Zimmer war ganz dunkel. Nichts und niemand war zu sehen. „Vielleicht veräppelt mich auch nur Anton“, murmelte er und drehte sich erneut auf seine Schlafseite. Nach einigen Augenblicken war wieder zu hören: „Aufwachen Martin! Aufwachen!“

Martin setzte sich im Bett auf. „Anton, hör mit dem Blödsinn auf!“, knurrte er verärgert. Doch von seinem Bruder kam keine Antwort. Martin lauschte. Jetzt hörte er die ruhigen Atemzüge seines Bruders. Anton schlief! Wer also wollte, dass er wach wurde? Aber darüber nachzudenken, war er viel zu müde. So begnügte er sich mit einem Gemurmelten: „Lass mich in Ruhe.“

Doch Ruhe oder Schlaf fand er nicht mehr. „Willst du nun endlich munter werden und mich aus diesem Koffer lassen?!“ Die Stimme war grob und befehlend. Martin saß kerzengrade mit aufgerissenen Augen im Bett. Jetzt war das Zimmer rötlich erleuchtet und dieses Licht kam eindeutig aus der Richtung, wo Antons „Schatzkoffer“ lag. Martin streckte sich und nun konnte er den Koffer erblicken. Der Koffer strahlte, zwischen goldgelb und feuerrot wechselten die Farben. Auch begann er sich zu bewegen, er rappelte und zappelte, als wäre er lebendig. Das war Martin zu unheimlich. „Anton!“, schrie er. „Anton!“ Doch sein Bruder drehte sich nur auf die andere Seite, ließ einen kleinen „Schnarcher” hören – das war`s! Als sich die Farbe des Koffers erneut veränderte, er strahlte jetzt in einem tiefen Violett, sprang Martin aus dem Bett, rannte zu Anton und schüttelte ihn so lange, bis der die Augen öffnete.

„He, was ist denn los? Ist schon Zeit zum Aufstehen?“, fragte er gähnend.

„Anton, dein Koffer! Schau doch mal!“, flüsterte Martin.

„Lass meinen Koffer in Ruhe!“, bekam Martin zur Antwort. „Das ist mein Koffer und der geht dich nichts an! Geht das nun endlich in dein Spatzenhirn hinein!“

Anton drehte Martin den Rücken zu. Und Martin verzweifelte fast. „Warum ist Anton so grob? Sieht er den Koffer nicht leuchten? Sehe ich das nur? Oder spinne ich nur?“, fragte Martin sich leise selbst. Ängstlich starrte er zum Koffer. Der lag nur zwei Armlängen von ihm entfernt, leuchtete intensiv violett, das nun langsam in ein ganz dunkles Purpurrot überging. In Abständen rappelte und zappelte er und dann war auch wieder die befehlende Stimme da: „Jetzt habe ich genug gewartet! Wie oft soll ich dich noch bitten, mich endlich aus diesem blöden Koffer zu befreien, Martin! Öffne gefälligst die Schlösser!“

„Das kann ich nicht, lieber Koffer! Nur Anton, mein Bruder hat die Schlüssel! Ihm gehört der Koffer!“

„Dann wecke ihn!“, befahl der Koffer barsch.

Und Martin schüttelte seinen Bruder. „Anton, nicht weiterschlafen! Dein Koffer spricht und befiehlt mir, ihn zu öffnen. Ich habe doch keinen Schlüssel. Du musst aufschließen!“

Endlich öffnete Anton die Augen und setzte sich im Bett auf. „Was erzählst du da für einen Blödsinn!“, fuhr er seinen Bruder barsch an.

„Na dann sieh doch selbst!“, konterte Martin fuchtig. „Schließlich ist das dein Koffer!“

Anton war in der Zwischenzeit richtig wach geworden. Ungläubig starrte er auf den Koffer, der jetzt hellrot glühte. „Das ist ja verrückt!“, murmelte Anton. „Mein Koffer ...“

Weiter kam er nicht mit seiner Feststellung. „Natürlich ist das dein Koffer! Und würdest du ihn gefälligst öffnen und mich befreien!“, herrschte ihn die Stimme aus dem Koffer an.

Erschrocken wich Anton zurück. „Siehst du nun, dass dein Koffer spricht, Anton!“, flüsterte Martin. „Der Koffer ist verwünscht.“

„Quatsch! Verwünscht! Wie kommt ihr Bengels nur auf solch einen Blödsinn! Macht endlich diesen verdammten Koffer auf!“

Anton kroch jetzt die Angst in die Stimme. Sich wieder und wieder räuspernd, fragte er den Koffer: „Bist du ein Koffergeist?“

„Ein Koffergeist?! Ich ein Koffergeist!“, kicherte jetzt der Koffer. Aber seine Heiterkeit war nur von kurzer Dauer. „Entweder ihr beiden Bengels öffnet jetzt diesen verdammten Koffer oder ich muss mich frei sprengen! Nur, dann kann euer ganzes Haus zerstört werden!“

Hastig suchte Anton den Kofferschlüssel, den er gut vor Martin in seinem Brustbeutel versteckt hatte. Endlich fingerte er ihn aus dem Beutel und steckte ihn mit vor Aufregung zitternden Händen in das Schloss.

„Warte Anton“, flüsterte Martin und legte seine Hand auf Antons Arm. „Der Koffer muss uns erst versprechen, dass er uns nichts tut.“

„Hast recht, Martin“, flüsterte Anton zurück. Laut sagte er dann betont forsch: „Wer immer du auch bist! Du musst schwören, dass du uns nichts Böses antust! Schwörst du das?“

„Ja, ja ich schwöre!“, kam es barsch aus dem Koffer.

„Schwörst du das bei allen Geistern des Himmels und der Hölle und bei deinem Kopf?“

„Solch komischen Schwur habe ich ja noch nie gehört. Aber ich schwöre es!“

„Das gilt nicht! Du musst sagen: Ich schwöre es bei allen Geistern des Himmels und der Hölle und bei meinem Kopf!“

„Also gut, damit ich endlich dieses widerlich stinkende, abscheuliche Gefängnis verlassen kann: Ich schwöre es bei allen Geistern des Himmels und der Hölle und bei meinem Kopf! Jetzt zufrieden?“

„Jetzt darfst du raus“, antwortete Anton, schloss den Koffer auf und öffnete ihn ganz wenig. Sofort nahm der Koffer seine alte braune Farbe wieder an. Nichts kroch aus dem Koffer heraus. Martin brachte schnell eine Taschenlampe und leuchtete durch den Spalt in den Koffer. Doch so sehr er sich bemühte, alle Ecken des Koffers auszuleuchten - die Brüder sahen außer Antons „Schätzen“ nichts.

„Ich möchte wirklich wissen, was in dem Koffer war“, meinte Martin. Und Anton bestätigte: „Es muss was drin gewesen sein, denn wir beide haben doch gesehen, wie der Koffer glühte und wir haben diese Stimme gehört.“

Verärgert schloss Anton seinen Koffer wieder ab. „Na ja“, sagte er dann, „legen wir uns schlafen.“

„Ich kann noch nicht schlafen“, erwiderte Martin. „Das war doch unheimlich, was wir erlebt haben. Ich träume bestimmt diese Nacht davon.“

„Vielleicht haben wir das auch nur geträumt?! Morgen früh haben wir den Traum wieder vergessen!“

„Das glaube ich nicht! Nein, bestimmt nicht, denn es war kein Traum!“

Da war sie wieder diese Stimme aus dem Koffer. Nur kam sie jetzt nicht aus dem Koffer, sondern vom Fenster.

Anton sprang aus dem Bett und knipste die Deckenbeleuchtung an. Er erstarrte, als er zum Fenster sah: Auf dem Fensterbrett saß eine puppengroße Gestalt, gekleidet wie aus dem Märchenbuch. Es war ein Mann - er saß da und lächelte. Jedenfalls glaubte das Anton zu sehen, denn der dichte schwarze Bart, der das halbe Gesicht bedeckte, war wirklich üppig.

„So Jungens“, sagte dieses Männchen, „nun habe ich mich erholt und die klare Nachtluft geatmet. In diesem hässlichen Koffer hatte ich immer das Gefühl bekommen, ich ersticke an diesem fürchterlichen Gestank.“

„Also eins merke dir, wer immer du auch bist: Mein Koffer stinkt nicht!“ Anton war wütend über diese Bemerkung. Er war überzeugt, dass sein Koffer, mag er auch schon uralt sein, bestimmt nicht stinken würde.

Das Männchen griente: „Ihr Menschen habt nicht solch feine Nasen wie wir. Dafür seht ihr besser am Tage, aber nicht in der Nacht. Da sehen wir alles, uns übertrifft nur der große Uhu.“

Martin hatte den gesamten Disput verfolgt. Jetzt stellte er dem Männchen die Frage: „Wer bist du denn überhaupt und was suchst du in Antons Koffer?“

Das kleine Wesen, das aussah, wie ein Mensch und doch kein Mensch war, setzte sich bequem hin, ab und zu zog er tief atmend die frische Nachtluft, die aus dem spaltgroß geöffneten Fenster hereinströmte, wohltuend ein. „Das ist eine lange Geschichte. Ich werde euch jetzt nur das Wichtigste erzählen, damit ihr wisst, warum ich eure Hilfe brauche. Also ...“

„Weißt du, du Zwerg, erst beschimpfst du uns, beleidigst meinen Koffer und nun sollen wir dir auch noch helfen?!“, unterbrach ihn Anton barsch.

„Entschuldige, Anton“, sagte das Männlein freundlich. „Endlich ist der Tag der Abrechnung mit meinem Todfeind gekommen und ich stak in deinem Koffer und konnte ihn nicht öffnen, weil dieser widerliche `Gernegroß` mir meine Kräfte raubte. Wenn ihr meine Geschichte hört, versteht ihr meine Wut.“

„Also gut, erzähl“, erwiderte Anton. Er setzte aber schnell hinzu: „Aber keine Lügen!“

„Das, was ihr jetzt hört, ist wahr! Jedes Wort – alles! Ich gehöre zum uralten Geschlecht der Gnome und heiße Harry.“

„He, ein Gnom bist du?! Was ist ein Gnom?“, fragte jetzt Martin ganz erstaunt. Ehe der Gnom antworten konnte, sprach Anton: „Ein Gnom ist ein Berggeist.“ Kaum hatte er diesen Begriff ausgesprochen, als er verwundert fragte: „Aber Berggeister, Gnome gibt es doch nur im Märchen oder in Sagen?“

„Ja, das denken die unwissenden Menschen. Die Wissenden kennen uns, sie kennen die Feen, die Wichtel und alle anderen sogenannten Geister. Jetzt gehört ihr auch zu den Wissenden und könnt euch in unserer Welt aufhalten und leben. Aber dazu später. Lasst mich bitte weiter erzählen.“ Er schaute die Brüder freundlich an. Die setzten sich in Martins Bett und deckten sich mit der Decke zu. Sie lauschten diesem Gnom Harry, der eine wirklich märchenhafte Geschichte erzählte:

Harry war der Herr vom „Roten Stein“. So nannten die Gnome einen Berg. Er lebte mit seiner Frau Henny friedlich in diesem Berg, ging seiner Arbeit nach und war mit sich und der Welt zufrieden. Wäre da nicht der Obergnom gewesen. Dieser Obergnom war der Herr über den „Weißen Stein“ und tief im Inneren des Berges bewahrte er einen kindskopfgroßen weißen, hell leuchtenden Stein von edlem Aussehen auf. Dieser weiße Stein verleiht seinem Besitzer die Macht über alle Gnome. So wurde dieser Gnom, Harry nannte ihn verächtlich Mek, Obergnom, ausgestattet mit einer Machtfülle, die ihn zum unumschränkten Herrscher über alle Gnome des ganzen Gebirges machte. Dieser Mek besaß aber einen fiesen Charakter. Er hatte immer Angst, seine Macht zu verlieren und so beauftragte er die Fledermäuse, die anderen Gnome zu belauschen und ihm dann alles zu erzählen. Diese Fledermäuse mussten ihm gehorchten, denn sonst hätte er sie aus ihren Schlafhöhlen vertrieben.

So bekam dieser Mek auch Kunde von dem Fund eines kleinen weißen Steines, der ebenfalls wie sein großer weißer Stein die Kraft zum Leuchten besaß. „Wo solch ein kleiner weißer Stein sich finden lässt, da gibt es bestimmt auch große weiße Steine“, sagte der Obergnom und quälte die Fledermaus so lange mit Fragen und Drohungen, bis die ihm verriet: Harry fand diesen Stein! In aller Eile rief der Obergnom eine Versammlung der Berggeister ein. Und sie kamen alle, der Herr vom „Grünen Stein“, vom „Blauen Stein“, vom „Klaren Stein“, vom „Rauchigen Stein“, vom „Harten Stein“ und von allen anderen „Steinen“ weit und breit. Natürlich erschien auch Harry mit seiner Frau Henny. Erstaunt hörten sie und die anderen Gnome die Anklage: Harry, Herr des „Roten Steines“ habe versucht, sich widerrechtlich die Herrschaft über alle Gnome anzueignen. Ungläubig blickten die Gnome zu Harry, denn sie kannten ihn als freundlichen und lustigen Berggeist, der nie nach Macht gestrebt hatte. So sprach der älteste der Gnome, der Herr des „Violetten Steines“: „Harry soll zu diesen Vorwürfen antworten!“ Alle Gnome murmelten leise aber bestimmt: „Ja, das soll er!“

Doch ehe Harry sprechen konnte, rief Mek mit wütender Stimme: „Harry ist schuldig. Kraft meiner Macht entziehe ich ihm alle Fähigkeiten eines Gnoms, verbanne ihn für 10 Jahre, nein für 50 Jahre! In seinem Gefängnis kann er über sein schändliches Handeln nachdenken!“

Diese Vollversammlung der Gnome fand um Mitternacht auf dem „Bunten Stein“, ihrem Versammlungsberg, statt. Unterhalb dieses Berges auf einem einsamen Waldweg gingen zwei Menschen. Der eine trug einen Koffer. In diesen Koffer verbannte Mek den Gnom Harry. Als Henny ihren Mann verteidigen wollte, erlitt sie das gleiche Schicksal, nur das ihr Gefängnis der Rucksack des anderen Mannes wurde. Solange die beiden Wanderer den gleichen Weg hatten, solange konnte sich Harry mit seiner Henny verständigen. Doch dann trennten sich die beiden Weggefährten und Harry wurde von Henny getrennt. „Ich höre immer noch ihr Schluchzen, als die Männer sich voneinander verabschiedeten“, sagte Harry leise und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

„Habe ich das richtig verstanden, dass deine Gefängniszeit in meinem Koffer jetzt beendet ist?“, fragte Anton.

„Ja“, antwortete Harry, „50 Jahre sind vorbei. Ich weiß nicht, wo meine Henny ist. Ich habe zwar einen Teil meiner besonderen Kräfte wieder erlangt, aber längst nicht alle. Dazu brauche ich meinen roten Stein. Er gibt mir bestimmt die Kraft, diesen Tyrannen zu bestrafen. Aber vorher will ich meine liebe Henny finden.“ Und wieder wischte sich Harry eine Träne aus dem Auge und seufzte tief.

„Mir ist noch nicht klar geworden, wie du in meinem Koffer für mich nicht sichtbar sein konntest?“, fragte Anton.

„Dieser Schurke Mek hat einen Zauber ausgesprochen. Deshalb meine Unsichtbarkeit. Wir selbst können uns zwar auch für die Menschen, nicht für die Gnome oder Feen und Wichtel, unsichtbar machen, aber diese Kraft hat er mir, dieser dreimal verfluchte Schurke, genommen. Jetzt habe ich diese Fähigkeit wieder, aber viele andere leider noch nicht. Um diese zu erlangen, brauche ich meinen roten Stein! Und ihr müsst mir helfen!“

„Welche besonderen Fähigkeiten hast du denn noch?“, fragte Martin sehr neugierig.

„Oh mein lieber Martin, dies darf ich dir nicht verraten. Das ist ein Gnom-Gesetz. Dass ihr mich überhaupt seht, ist schon außergewöhnlich genug. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die jemals einen Gnom zu Gesicht bekamen.“

Auch Anton hatte noch Fragen an Harry, dem Berggeist aus einer anderen Welt. So interessierte ihn sehr, ob der Gnom als Geist auch zaubern könne. Harry beantwortete die Frage auch, indem er lächelnd sagte: „Keine Antwort darf ich geben.“ Doch dabei zwinkerte er mit dem linken Auge und nickte sehr deutlich. „Sollte ich dir die Antwort geben, würde ich stumm werden. Unsere besonderen Fähigkeiten müsst ihr selbst entdecken. Dann bin ich an dieses Gesetz nicht mehr gebunden.“ Er zwinkerte wieder mit dem linken Auge. (Später entdeckten die Jungs, dass das Zwinkern mit dem linken Auge „ja“ bedeutete und ein kurzes Zwinkern mit dem rechten ein „nein“.)

„So, genug geredet Jungs! Meine Henny braucht mich! Brechen wir auf!“ Harry sprang auf den Fußboden und ging zur Tür.

„Halt, Harry!“, rief Anton. „Du musst bis morgen früh warten. Dann können wir dir helfen.“ Harry versuchte, die Jungs zu überreden, doch die meinten, sie müssten erst ihren Eltern Bescheid geben. Harry sah das zwar nicht ein, musste sich aber fügen. „Weißt du Harry“, sprach Martin, „wir Menschenkinder können nicht einfach in der Nacht verschwinden. Unsere Eltern würden die Polizei rufen und sie würden Angst um uns haben. Anton und ich, wir sagen morgen früh nach dem Frühstück, dass wir in den Wald gehen. Morgen ist Sonnabend und wir haben keine Schule. Bis zum Mittag haben wir Zeit.“

„O, das wird knapp! Das wird knapp!“, murmelte der Gnom. „Ach wäre ich doch nur im Vollbesitz meiner Kräfte.“

„Könntest du uns dann verzaubern?“ Anton startete noch einen Versuch, um von den besonderen Kräften des Berggeistes doch etwas zu erfahren. Doch Harry lächelte wieder und zwinkerte mit dem linken Auge. „Ich darf das doch nicht beantworten, mein lieber Anton!“

Anton gab sich, ebenfalls mit dem linken Auge zwinkernd, mit der Antwort zufrieden. Sie gingen zu Bett. Der Gnom wollte zwar im Freien schlafen, aber war dann doch mit der Fensterbank am geöffneten Fenster einverstanden.

Schnell schliefen die Jungs ein. Doch beide hatten einen seltsamen Traum. Sie sahen Harry, der sie bat, sie sollen ihm sagen, wo dieser Berg zu finden sei. Und Harry fuchtelte mit seinen Armen in der Luft herum und „zeichnete“ so einen Berg. „Kennt ihr diesen Berg?“, fragte Harry sie. „Das ist der `Rote Stein´, mein Zuhause. Da ich nicht weiß, wo ich bin, brauche ich euch, damit ihr mir den Weg zeigt. Sucht diesen Berg! Sucht ihn!“

Und Anton sah Martin im Traum und Martin den Anton. Sie redeten miteinander und Martin meinte dann zu Harry gewandt: „Das kann nur der `Hohe Berg´ sein.“

Anton schüttelte heftig den Kopf: „Harry, Martin irrt! Das ist eindeutig der `Adlerstein´. Da bin ich mir ganz sicher.“

Und der Gnom antwortete: „Überlegt noch einmal! Schaut euch genau die Konturen des Berges an!“ Und wieder zeichnete er einen Berg.

„Harry, morgen früh zeigen wir dir die beiden Berge. Sie liegen dicht nebeneinander. Dann kannst du dich selbst überzeugen, wer von uns recht hatte!“ Anton gähnte im Traum und ging durch eine durchsichtige Wand. Martin folgte ihm. Sie hörten Harry noch rufen: „Ihr müsst morgen für mich sehen! Am Tage bin ich fast blind! Denkt daran!“

Der Morgen sah zwei noch verschlafene Jungs. Kaum hatten sie das Frühstück hinuntergeschlungen, verabschiedeten sie sich mit „Zum Mittag sind wir wieder da!“ von ihren Eltern. Vor der Tür wurden sie bereits vom unsichtbaren Harry empfangen. „Hier bin ich“, hörten die Brüder Harry flüstern. Und nur für einen kurzen Augenblick machte sich der Gnom sichtbar. Martin hatte seinen Rucksack mitgenommen und forderte Harry auf, hineinzuschlüpfen. Der wollte erst einmal wissen, warum er sich schon wieder in ein Gefängnis begeben sollte, denn es stand für ihn außer Frage, dass jeder Koffer, Rucksack oder auch nur ein ähnliches Behältnis ein Gefängnis war. Martin erklärte es ihm: „Harry, wir müssen weit laufen und du kannst mit deinen kleinen Beinen nicht unser Tempo halten.“

Jetzt prustete Harry laut vor Freude. „Ich kann nicht euer Tempo halten?! Ich kann nicht ...Ha! Ha! Ha! Ich bin zu langsam, ich der Berggeist Harry!“ Und erneut schüttelte er sich vor Lachen. Ja, das Lachen bewirkte aber, dass er vergaß, sich unsichtbar zu machen. Und so erblickte der Vater der Brüder, er war vor die Tür getreten, um in die Garage zu gehen, ein kleines Männlein mit dunklem Vollbart. Es trug ein grünes Gewand, das mit einem leuchtend roten Gürtel zusammengehalten wurde. Auf dem Kopf saß eine Ledermütze, wie sie von Bergleuten in früherer Zeit getragen wurde.

„He Jungs!“, rief der Vater. „Was ist denn das für eine Figur?“

„Wo, was Papa? Ich sehe nichts!“, antwortete ihm Anton. Und Martin pflichtete seinem Bruder bei: „Nee Papa, hier ist nichts! Nur mein Rucksack steht auf dem Boden!“

„Na so etwas!“ hörten die Jungs ihren Vater sagen und verschwanden so schnell es ging aus der Reichweite desselben. Hinter dem großen Baum warteten sie auf Harry. Doch der war längst neben ihnen. „Oh, oh!“, sagte er leise. „Ich muss besser aufpassen. Es war aber auch zu komisch, was ihr gesagt habt.“

„Ich verstehe zwar nicht, was daran komisch ist, wenn wir dir unsere Hilfe anbieten“, knurrte jetzt Anton verärgert. „Ach Jungs, seid mir nicht böse. Ich zeige es euch am besten. Wo müssen wir hin?“

Und als Anton auf den Gipfel des kleinen Berges zeigte, meinte Harry: „Also machen wir ein Wettrennen. Ich mit meinen kurzen Beinen und ihr mit euren langen. Wer ist wohl zuerst oben? Na, Martin?“

„Ich!“, schrie Martin und stürzte davon. Anton, der gemerkt hatte, dass sie den Gnom unterschätzten, rief ihm nach: „So warte doch! Das Rennen gewinnst du nie!“

Aber Martin rannte und rannte. Da blieb Anton auch nichts weiter übrig, als ebenfalls den Berg hinauf zu laufen. Völlig erschöpft ließen sich die Brüder ins weiche Gras fallen. „Wo bist du denn nun, Harry“, keuchte Martin. Und direkt vor Martin machte sich Harry sichtbar. Er war weder außer Atem, noch merkte man ihm irgendeine Anstrengung an.

Statt einer Antwort, griente er nur. Anton meinte lächelnd: „Martin, in Zukunft keine Wettrennen mehr!“

Martin, immer noch außer Atem, stammelte: „Ich, ich hab`s kapiert!“

Anton, der sich schneller erholt hatte als sein jüngerer Bruder, zeigte jetzt auf die Berge am Horizont. „Schau Harry, dort diese beiden Gipfel sehen so ähnlich aus wie deiner Zeichnung im Traum.“

„Ah, das hat also bereits geklappt!“, jubelte Harry. „So langsam kommen meine Kräfte wieder.“ Dann schaute er sehr lange auf die beiden Berge. „Leider sehe ich alles nur sehr undeutlich. Doch dieser dort könnte es sein. Ja, der müsste es sein – oder?!“ Er zeigte auf den rechten Gipfel. Hilflos schaute Harry zu den Brüdern. Doch die konnten sich nicht einig werden, welcher Berg der richtige sei. „Sucht eine einzelne mächtige Tanne“, sagte Harry. „Auch nach 50 Jahren muss sie als Signalbaum noch zu erkennen sein. Dort ist mein Zugang zum Berg!“

Die Brüder einigten sich jetzt auf den Adlerstein, so jedenfalls nannten ihn die Menschen. Der Weg zum Gipfel war noch weit. Bei dem Tempo, das die Jungs vorlegten, meinte Harry, dass sie zu viel Zeit verlören. „Ich muss ausprobieren, ob der Weg nicht schneller zu bewältigen ist“, meinte er. „Martin, spring auf Antons Rücken!“ Verwundert sahen ihn die Brüder an. „Mach schon! Mach!“, lachte Harry. Also sprang Martin auf Antons Rücken. „Gut so!“, kommentierte der Gnom. „Jetzt Anton, setze dich auf meinen Rücken!“

„Wie, auf deinen Rücken?“

„Ja, ja! Mach schon und habe keine Scheu!“

„Na, was das werden soll?!“, murmelte Anton. „Martin halte dich fest!“, forderte er seinen Bruder auf und versuchte, sich wirklich auf den Rücken des kleinen Mannes zu setzen. Doch kaum hatte Anton den Gnom berührt, wuchs der auf Übermenschengröße und stiefelte in einem unwahrscheinlichen Tempo mit den beiden Jungs auf dem Rücken davon. „Ihr müsst mir nur den richtigen Weg zeigen!“, forderte Harry und das taten die Brüder. Und diesen Weg, für den ein Mensch mindestens eine Stunde benötigte, absolvierte der Berggeist in wenigen Minuten.

Die letzten Meter bis zur mächtigen Tanne, es war wirklich ein sehr prachtvoller Tannenbaum, gingen die Jungs auf ihren eigenen Beinen. „Ja, das ist er!“, rief Harry freudig aus. „Es ist erstaunlich, wie wenig sich in 50 Jahren verändert hat.“

Er hüpfte vor Freude um die Tanne herum, sodass die Brüder an das Märchen vom Rumpelstilzchen denken mussten. Aber ihr Harry war kein böser Zwerg, der den Eltern Kinder wegnehmen will. Ihr Harry jauchzte vor Freude darüber, endlich wieder in seinem Reich zu sein. Hier im Berg lag seine Kraft, die Kraft eines Berggeistes in Form des roten Steines. Harrys Freudentanz war doch etwas heftig ausgefallen. Er stolperte über eine Wurzel und fiel lachend ins grüne Gras. Kaum hatte er den Boden mit seinem Körper berührt, wurde er sehr ernst. „Henny, ich habe meine Henny vergessen!“, flüsterte er. Und an die Brüder gewandt, befahl er: „Schluss mit den Späßen! Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen und ihr wolltet mir helfen! Also kommt!“

Harry ging etliche Meter den Berg hinab, die Jungs folgten ihm. Vor einer Felsspalte, die durch Kraut und Gebüsch kaum auszumachen war, blieb er stehen. „Hier müssen wir hinein!“, sagte er und verschwand auch sofort im Stein. Die Jungs standen und blickten sich verdutzt an. „Soll ich etwas durch diese kleine Spalte kriechen?“, fragte Martin Anton. Doch der brauchte nicht zu antworten. „Ach“, knurrte Harry verärgert über sich selbst, „so kommt ihr nicht in den Berg.“

Er stellte sich in die Spalte, die genau für seine Größe bestimmt war, stemmte die Arme gegen den Fels und drückte den Fels auseinander. Dann fasste er an die Decke und vergrößerte die Spalte in der Höhe, indem er sich selbst vergrößerte.

„Wau!“, staunte Martin. Und Anton meinte, dass er auch solche Kräfte gerne besitzen würde.

„Das ist möglich“, erwiderte Harry. „Wenn ihr einverstanden seid, kann ich euch für eine kurze Zeit zu kräftigen Riesen machen.“

Dem Martin war Harrys Vorschlag unheimlich. Er sollte über Riesenkräfte verfügen? Kräfte, die imstande sind, Felsen zu sprengen? So lehnte er Harrys Vorschlag ab: „Das wird nichts Harry. Wir müssen zu Mittag zu Hause sein! Unsere Eltern warten doch!“

„Keine Sorge, Martin!“, entgegnete der Gnom. „Sobald ihr meine Kräfte in euch verspürt, bleibt für euch die Zeit stehen. Ihr könnt mir sogar jetzt schon sagen, wo ihr in die wirkliche Zeit, in die Menschenzeit, zurückkehren wollt.“

„Also, dann möchte ich auf unsere Terrasse zurück.“ Anton wollte unbedingt an diesem neuen Abenteuer teilnehmen. So blieb Martin nichts anderes übrig, als seinem Bruder beizupflichten. „Ja, die Terrasse ist nicht schlecht.“

„So, dann kommt!“, befahl Harry und ging voraus in den Berg. Die Jungs hatten überhaupt nicht daran gedacht, dass sie ja im Gegensatz zu Harry in der Höhle nichts erkennen konnten. Als das Tageslicht weniger und weniger wurde, fasste Martin Anton an. So stolperten sie in den Berg. Von Harry war keine Spur mehr zu sehen. Er schien wie ausgewechselt, seitdem er seinen Berg wieder in Besitz nehmen konnte. Erst als Anton über einen Stein stolperte, hinschlug und fürchterlich zu fluchen begann, kehrte Harry zurück. „Oh Anton“, bat er, „ich habe nur an mich gedacht. Verzeiht mir meinen Eifer. Ich werde euch leuchten.“ Und Harry ging jetzt langsam voraus. Sein Körper begann zu leuchten und dieses Licht reichte aus, mehrere Meter weit zu schauen. So sahen die Jungs, dass viele kleine Gänge vom Hauptgang abzweigten. Dieses und viele Schutthalden an den Wänden deuteten auf Bergwerksarbeiten hin. Auf Antons Frage, antworte der Gnom: „Ja, wir Gnome graben seit Urzeiten nach den Schätzen des Berges. In den Steinen liegt unsere Kraft. Je mehr wertvolle Schätze wir anhäufen, umso größer ist unsere Kraft, unser Ansehen und unsere Zauberkunst.“

Lang, sehr lang kam den Brüdern der Weg in den Berg vor. „Kommen wir hier wieder heraus“, dachte Martin. Und die Brüder lernten eine neue fantastische Eigenschaft ihres Freundes kennen. Hier in seinem Reich konnte er die Gedanken der Menschenkinder verstehen. Und so antwortete er Martin: „Ich gebe euch einen Teil meiner Kraft. Mit dieser Kraft kannst du Berge versetzen.“ Und schmunzelnd fügte er hinzu: „Aber nur sehr kleine, Martin! Aber du kannst dir jeden Weg durch einen Fels ebnen.“

„Etwa auch Gedankenlesen?“, fragte Anton, der sich über Harrys Antwort sehr gewundert hatte.

„Ja, auch ein wenig Gedankenlesen!“

Und Martin kommentierte diese Möglichkeiten mit einem sehr lauten „Wauuu!“ Und dieses „Wauuu!“ schallte jetzt als ein mächtiges Echo von den Felswänden wieder: „Wauuu! Wauuu! Wauuu!“

Dann endlich hatten sie das Zentrum der Höhle erreicht. Eine weite und hohe Halle tat sich auf. Im Gegensatz zu den Gängen leuchtete dieser Bereich allein. Überall an den Wänden glitzerte und funkelte es. „Meine Schätze! Meine Kraft!“, kommentierte Harry dieses Lichterschauspiel. „Kommt! Schaut euch meinen Stein an!“ Harry rannte mit kurzen Trippelschritten in eine Nebenhöhle, die in einem blutroten Licht erstrahlte. Auf einem steinernen Tisch lag ein unscheinbarer faustgroßer Stein. Fast ehrfurchtsvoll betrachtete Harry seinen Stein. „Ist er nicht schön? Und welche Kraft in ihm wohnt!“, murmelte er andächtig.

„Der sieht doch nur wie ein ganz gewöhnlicher roter Stein aus“, meinte Martin. Doch jetzt wurde Harry fuchtig. “Mein Stein ein gewöhnlicher Stein!?“, schrie er Martin an. Er nahm den Stein in die Hand. Sofort begann der, blutrot zu leuchten - in einem Licht, das man, auch wenn man es ständig sehen könnte, es doch nicht zu beschreiben vermag. „Nimm den Stein in deine Hände!, befahl Harry. Martin, erschrocken über den Zornesausbruch ihres kleinen Freundes, ergriff hastig den Stein. „Spürst du seine Kraft?! Sag Martin, spürst du sie?“, schrie Harry.

Martin spürte sie, diese Kraft, die den Gnomen ihre besondere Fähigkeiten gab. Zuerst war es nur ein sehr warmes und äußerst angenehmes Gefühl, das vom Bauch ausgehend sich über den ganzen Körper ausbreitete. Dann überkam ihn ein Tatendrang, der ihn ausrufen ließ: „Komm Harry, jetzt kämpfen wir gegen deinen Mek!“

Ein lautes Lachen hallte jetzt als Echo wieder und wieder von den Wänden. Harry lachte und lachte. „Dass mein Stein so schnell wirkt, hätte ich nicht gedacht“, rief er dann. Und wieder erschallte sein Lachen, verstärkt durch den Widerhall der Höhle. Nach einigen Minuten, die beiden Jungs wussten schon nicht, wie sie sich Harry gegenüber verhalten sollten, hatte er sich so weit beruhigt, dass ihn Anton fragen konnte: „Darf ich deinen Stein auch in die Hände nehmen?“

Anton war nicht nur neugierig auf diese Kraft des Steines, sondern wollte auch Harrys Aufmerksamkeit auf sich lenken. Sein jüngerer Bruder stand nämlich wie ein begossener Pudel neben ihm und hätte am liebsten Harrys Stein weit weggeworfen. Als Harry Antons Frage nickend bejahte, übergab er hastig Anton den Stein. Der empfand jetzt genauso wie Martin – nur er hielt sich mit dem Kommentar zurück. Stattdessen sagte er nur lakonisch: „Ein wirklich schönes Stück.“

„Ein wirklich schönes Stück!“, äffte ihn jetzt Harry nach. „Mehr kannst du nicht über meinen Stein sagen?“

„Was willst du hören? Dass ich bereit bin zum Kampf gegen deinen Feind? Ich bin bereit! Gehen wir!“

Diesmal lachte Harry nicht mehr. Sehr ernst sagte er jetzt: „Ihr beide habt die erste Prüfung durch den Stein bestanden! Ich darf euch jetzt einen Teil meiner Kraft für eine kurze Zeit übertragen.“ Und da nun beiden Brüdern anzumerken war, dass sie mit Harrys Verhalten überhaupt nicht mehr klarkamen, fügte Harry hinzu: „Entschuldigt, dass ich etwas sonderbar war. Das letzte Mal, dass ein Mensch den Stein eines Gnoms in den Händen hielt, da missbrauchte er die Kraft des Steines. Dies ist zwar schon viele Hundert Jahre her, aber deshalb musste ich euch prüfen und nach der Wirkung, die der Stein auf euch hatte, weiß ich: Ihr seid zwei mutige und ehrliche Jungs! Ihr könnt euch beherrschen und selbst bezwingen!“

„Aber warum hast du mich so fürchterlich ausgelacht?“, fragte jetzt Martin verlegen. „Ach Martin, mir fiel im Moment keine bessere Methode ein, dich zu prüfen, ob du dich selbst bezwingen kannst.“

Und da die Jungs immer noch irgendwie verstört waren, entschuldigte er sich nochmals. Doch dann befahl er: „Jetzt gebe ich euch meine Kraft! Dann suchen wir meine Henny und dann ... Oh Mek, dann geht es dir an den Kragen!“

Harry nahm seinen kostbaren Stein und trug ihn in die große Halle. Dort legte er ihn auf einen großen Stein, der als Amboss diente. Ein mächtiger Hammer, mindestens dreimal so groß wie Harry, lehnte an diesem Stein. Harry griff nach diesem Hammer und hob ihn sogleich in die Höhe, so als wäre es ein Hämmerchen. Mit einem gewaltigen Schlag, die gesamte Höhle dröhnte von diesem Krachen, zersprang der rote Stein in vier Stücke: zwei große und zwei kleine.

„Auch die zweite Probe habt ihr Brüder bestanden“, sagte Harry fröhlich. „Ich habe mich nicht in euch getäuscht!“ Und da nach dem Gesichtsausdruck der Jungs Harry mit Recht annahm, dass sie seine Aussage nicht verstanden hätten, erklärte er: „In unserer Welt können auch tote Dinge sprechen. Nicht mit Worten, aber mit Ergebnissen. So bat ich den Stein um Verzeihung, dass ich ihn zerschlagen muss. Ich bat ihn auch, um eine Meinung über euch, nur als letzte Bestätigung. Ihr müsst wissen, dass was ich tue, das hat noch nie ein Gnom in unserem Reich gemacht: Noch nie bat ein Gnom einen Menschen um Hilfe und noch nie hat ein Gnom seinen Stein zerstört. Würde ich mich in euch doch geirrt haben, wäret ihr Feiglinge oder unbesonnen, überheblich und Aufschneider, ja dann hätte das meine Verbannung aus dem Reich der Steine bedeutet, vielleicht sogar den Tod.“

Auch wenn die Prüfung für die Jungs gut ausfiel, Anton ärgerte sich über das Misstrauen des Berggeistes. So fragte er unwirsch: „Hast du noch weitere Prüfungen für uns? Oder zweifelst du überhaupt an uns, den Menschenkindern?“

Doch Harry ging gar nicht auf diese Fragen ein. Er nahm die beiden kleinen Steine. Mit einem goldenen Tuch, das er aus seiner unergründlichen Hosentasche gezogen hatte, wischte er über die Steine, sodass feinster Staub in eine Schale aus Bergkristall rieselte. Dabei murmelte er ständig in einer Sprache, die die Jungs nie gehört hatten. Die Zeremonie dauerte mehrere Minuten. Sehr zufrieden mit seiner Arbeit, nahm er zwei Becher, die ebenfalls aus Bergkristall gefertigt waren, und schritt zur Höhlenwand. Dort tropfte ständig das Wasser aus dem Stein und sammelte sich in einem kleinen Teich. Harry schritt mit all seinen Sachen in diesen Teich und an der tiefsten Stelle, das Wasser reichte ihm schon bis zum Mund, hob er die Becher und fing damit die Tropfen auf. Wieder murmelte er ständig vor sich hin. Als die Becher zur Hälfte gefüllt waren, entstieg er dem Wasser. Mit Erstaunen sahen die Brüder, dass das Wasser von Harry abperlte und er mit trockener Kleidung vor ihnen stand. „Kommt zu mir“, bat er und ging zum Stein. „Schaut in die Schale“, flüsterte Harry geheimnisvoll. „Seht ihr den roten Staub? Ihn habe ich von den kleinen Steinen, euren Steinen abgewischt. Dieser Staub, getrunken mit dem klaren Bergquell, verleiht euch für eine kurze Zeit die Kraft eines Gnoms. Nehmt und trinkt!“

Er reichte den Jungs die Becher, in denen der rote Staub sich mit dem Wasser zu mischen begann. Zaghaft leerte zuerst Anton den Becher. Das Wasser schmeckte, wie Wasser eben schmeckt.

„Fühlst du es schon?“, fragte Martin, der sein Glas noch nicht ausgetrunken hatte.

„Nee, ich fühle mich so wie immer“, antwortete ihm Anton.

„Na, dann probier mal deine Kraft an diesem Stein“, verlangte Harry schmunzelnd. Er zeigte auf den Ambossstein. „Hebe ihn hoch!“

Folgsam, aber sehr misstrauisch, umfasste Anton den Stein. Er hatte schon Schwierigkeiten, diesen großen Stein zu umfassen. „Das schaffe ich nie!“, meinte er. Doch Harry antwortete nur: „Probier es!“

Und Anton nahm den Stein auf und hob ihn über den Kopf.

„Das will ich auch können!“, schrie Martin und stürzte seinen Becher in einem Zuge hinunter. Dann verlangte er von Anton: „Wirf mir den Stein zu!“ Und Anton warf und Martin fing den Stein, der größer war als er, auf und warf ihn Anton zurück.

Lachend stand Harry an der Seite und freute sich über dieses Spiel der Menschenkinder. Dann fiel sein Blick auf die Bergkristallschale. Er nahm sie und zerschlug sie. „Probiert, die Schale wieder herzustellen.“

Jetzt überzeugt, dass Harry ihnen Zauberkräfte geschenkt hatte, griffen die Brüder zu den vier Teilen der Schale. Kaum hatten sie, jeder hatte zwei Scherben genommen, diese in den Händen, als sofort die Schale je zur Hälfte instand war. Verwundert murmelte Harry: „Erstaunlich diese Fähigkeit!“ Und laut fügte er hinzu: „Haltet eure Teile zusammen!“ Und die Brüder taten dies. Die beiden Hälften verschmolzen. Die Schale war wieder ganz. „Das hätte ich nicht gedacht.“ Harry schien über das Ergebnis, das er so nicht erwartet hatte, nachzugrübeln. Anton fragte ihn: „Ist das denn etwas Besonderes, das mit der Schale zusammenfügen?“

„Ja, Anton“, erwiderte Harry. „Diese Kunst, dass zwei verschiedene Wesen etwas zusammenfügen können, diese Kunst beherrscht sonst nur der Herrscher über den weißen leuchtenden Stein und das ist mein Feind Mek. Aber ich gab euch nur den roten Stein zum Trinken. Es muss noch eine Kraft in euch geben, die mir unbekannt ist. Ich kann mit meiner Henny diesen Zauber nicht vollbringen.“

„Dann können wir ja mehr als du, Harry!“, frohlockte Martin. „Anton, wir haben Superkräfte!“

„Und das kann nur gut für unser Vorhaben sein! Jetzt aber zu unserer Aufgabe!“ Harry erinnerte an seine Henny. Mit einer Handbewegung stellte Harry die Ordnung in der Höhle wieder her. So rollte der Ambossstein auf seinen alten Platz, die Schale und der Kelch flogen ins steinerne Regal, das goldene Tuch verschwand in Harrys unergründlicher Hosentasche. Nur die vier roten Steine hielt jetzt Harry noch in den Händen. Die beiden großen nahmen den Weg des goldenen Tuches und verschwanden in Harrys Tasche. Die beiden kleinen Steine, sie waren jetzt glatt geschliffen, gab Harry den Brüdern. „Ihr werdet euch meinen Steinen würdig erweisen!“, sprach er sehr würdevoll. „Noch nie gab ein Gnom einem Menschen seinen Stein. Diese Steine sollen euch auch später, wenn wir unsere Aufgabe erfüllt haben, Glück bringen. Mir hat mein roter Stein schon Glück gebracht und mich zu euch geschickt.“

Harry eilte zum Ausgang der Höhle. Die Brüder hasteten hinterher. Erst als sie am Ausgang waren, drehte sich Harry nach ihnen um und fragte verschmitzt: „Ist euch etwas aufgefallen?“

„Nee, was soll uns denn aufgefallen sein?“, antwortete ihm Martin.

„Na, dass ihr in der Höhle zum Sehen kein Extralicht brauchtet!“ Fröhlich schmetterte Harry diese Feststellung heraus. „Jetzt habt ihr nicht nur die gleichen Kräfte wie ein Gnom, nein ihr verfügt über Kräfte, die sonst nur der Obergnom besitzt.“ Als Martin ihn ungläubig ansah, sagte Harry: „Schon vergessen?! Ihr beide könnt etwas zusammenfügen - eine Fähigkeit, die eigentlich nur ein Obergnom hat!“

Harry hätte am liebsten wieder einen Freudentanz aufgeführt. Doch rechtzeitig besann er sich. „Hört!“, sagte er. „Ich klettere jetzt auf die Tanne und suche nach meiner Henny!“ Und sofort hüpfte er in einem atemberaubenden Tempo von Ast zu Ast, ganz hinauf bis zur Tannenspitze. Kaum war er oben, startete er schon wieder nach unten. „Ich habe sie gehört!“, schrie er vor Freude ganz laut. „Sie ist gar nicht weit von hier, nur hinter den drei kleinen Hügeln. Sie ist gefangen und kann sich nicht selbst befreien.“

Und nun zeigte er nochmals einen Freudentanz, der die Brüder zum Mittanzen verführte.

„Henny, wir kommen! Henny, wir befreien dich! Henny, wir werden Mek bestrafen! Henny! Henny!“

Mindestens sieben Runden tanzten die Jungs mit Harry um die alte Tanne. Ganz plötzlich hielt Harry inne: „Martin, Anton! Ich gehe vorneweg und ihr folgt mir! Bleibt ganz dicht hinter mir!“

Bereits beim letzten Wort stürmte Harry los. Anton stieß Martin an: „Los! Hinterher!“

Und die Brüder warfen die Beine. Hurtig ging es über Stock und Stein. Martin versuchte, Harry einzuholen, doch der Gnom war schneller. Es war, als zöge ihn seine Henny, mit der er jetzt Kontakt hatte, mit magischer Kraft zu sich.

Nach wenigen Minuten, die Jungs waren erstaunt, als sie anhielten, dass sie mindestens zehn Kilometer zurückgelegt hatten, standen sie vor einer alten Scheune. Windschief und mit fehlenden Brettern an dem Scheunentor stand sie einsam und von den Menschen verlassen auf einer Bergwiese. Harry schlüpfte durch einen Spalt im Scheunentor, die Jungs folgten ihm. In der Scheune sahen sie, dass ein großes Loch im Dach Sonne, Wind und Regen Zutritt gewährte. Erschrocken über den Besuch des Gnoms und der Menschenkinder flatterte eine Eule auf den höchsten Balken in die dunkelste Ecke. Und dann hörten sie Henny, Harrys Frau.

Kläglich klang ihre Stimme und auch ein wenig ärgerlich.

„Ach Harry, bist du endlich gekommen, mich aus meiner misslichen Lage zu befreien. Komm, beeile dich! Sieh doch nur, wie ich hier hängen muss! Bereits vor elf Jahren hat der Herr des Rucksacks, diesen dreimal verfluchten Rucksack an den Balken genagelt und damit mitten durch meinen Bauch. Nun hänge ich hier und kann mich nicht selbst befreien. Also schnell, zieh den Nagel raus!“

Doch ihr Harry schien irgendwie ratlos. Seine Antwort passte Henny gar nicht. Hatte doch Harry sich bemüht, Henny zu erklären, dass er als Gnom keine Kraft besäße, ein von Menschenhand Geschaffenes zu verändern. „Hast du das vergessen, liebste Henny“, säuselte er, bemüht, sie nicht zu erzürnen.

Doch Hennys missliche Lage ließ sie jetzt zürnen: „Dann lass dir was einfallen! Du bist doch kein Dummkopf!“

Verlegen stand Harry vor den Menschenkindern und zuckte nur mit den Schultern. Ihm fiel nichts ein, um seine Frau befreien zu können. Doch da hatte Martin die Idee. „Harry, ich bin doch ein Mensch! Also kann ich doch den Nagel entfernen? Oder?“

„Ja, na klar! Das müsste gehen!“ Harry klatschte vor Freude in die Hände. Jetzt suchten sie in der Scheune nach einer Leiter, denn auch Anton, als der Größte, reichte nicht bis zum Nagel, an dem Henny hing. Da die Suche ergebnislos verlief, befahl Anton: „Martin, klettere auf meine Schulter. Dann musst du mit den bloßen Händen den Nagel herausziehen. Du schaffst das, denn du hast doch die Superkräfte eines Gnoms. Harry, du stellst dich direkt unter deine Frau. Wenn sie herunterfällt, fängst du sie auf. Alles klar?“

Harry und Martin nickten nur, Henny dagegen wollte wissen, wer da gesprochen hätte.

„Ja, siehst du denn die beiden Menschenkinder nicht?“, rief Harry erschrocken.

„Wie kann ich sie sehen, wenn ich schon seit elf Jahren meine Kraft zum Sehen verloren habe. Dieser Mensch hatte doch einmal nicht den Nagel getroffen. Dafür aber meinen Kopf. Das muss diesen Schaden ausgelöst haben. Und du weißt ja, dieser Mek hat uns unsere Kraft genommen.“

„Oh meine liebste Henny, nicht mehr lange! In wenigen Augenblicken wirst du wieder die Kraft eines Berggeistes in dir spüren.“

Sich an die Brüder wenden, rief er: „Hurtig! Hurtig! Befreien wir meine liebste Henny!“ 


Fortsetzung hier!