Ossi-Wessi-Geschichten

(Eine etwas andere Rückerinnerung an die deutsche Einheit)

 

von Joachim Größer

 

Zwanzig Jahre ist es nun schon wieder her und so mancher, um nicht zu sagen sehr viele, die die Zeit des Umbruchs, des Beitritts der DDR und damit der Vereinigung zweier deutscher Staaten bewusst erlebt haben, reden heute so, wie es die Zeit von ihnen verlangt. Der Volksmund hat dafür ein Sprichwort kreiert: „Die Zeiten ändern sich und wir ändern uns mit ihnen.“

Und da dies ein lateinisches Sprichwort ist, so müssen wir davon ausgehen, dass es garantiert schon immer so war.

Ein Nachbetrachten dieser Zeit der Vereinigung ist aber auch zugleich die Möglichkeit zum Schmunzeln oder zum Nachdenken. Also blicken wir zurück:

 

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1. Episode: Die Ampel

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Ein nicht mehr ganz junger Mann fährt nach Bielefeld. Dort will er in einem feinen Hotel für mehrere Tage – der neuen Zeit gehorchend – sich fortbilden. Das ist die neue Art zu umschreiben, dass der Herr, nennen wir ihn Alois Schulte, arbeitslos zu werden droht. Und da er immer - auch im Sozialismus – nie die Hände in den Schoß gelegt hatte, will er auch jetzt im Kapitalismus, der getarnt als Soziale Marktwirtschaft über ihn hereingebrochen war, sich um Arbeit und seine Zukunft bemühen. Dafür las er alle Anzeigen, diskutierte mit seiner Familie, und entschied letztendlich: „Da versuch ich mein Glück!“

Das „Glück“ kostete ihm mindestens 650 Mark, und da dieses Glück so teuer war, glaubte er, dass das ein guter neuer Job werden müsste.

Somit haben Sie garantiert erraten, dass dieser Mann aus der (nun bereits zur Geschichte gewordenen) DDR stammt und damit ein sogenannter Ossi ist.

Alois Schulte ist ein pünktlicher Mann und so erreicht er kurz nach dem spätherbstlichen Sonnenaufgang die Stadtgrenze. Eine Stunde bleibt ihm noch und er ist zuversichtlich, dass er sich in der fremden Stadt zurechtfinden wird. Er fährt an die erste große Kreuzung heran und wartet, wie es sich in der DDR gehörte, vor einer roten Ampel. Er wartet und wartet und wartet …

Nervös schaut er auf die Uhr. Sein schöner Zeitplan schien völlig durcheinanderzugeraten. Er überlegt, ob er nicht einfach bei „Rot“ weiterfahren solle. Doch in diesem Moment hält hinter ihm ein Auto und der Fahrer wartet mit ihm. Während die Autos für alle anderen Fahrtrichtungen rot, gelb und grün von der Ampel kriegen, bleibt diese verdammte Ampel auf „ROT“.

So steht Alois Schulte und hinter ihm steht das West-Auto. Dann sieht Alois Schulte ein freundliches Gesicht an seiner Autoscheibe. Er kurbelt die Scheibe hinunter und hört: „Das ist eine Bedarfsampel. Sie müssen über den Strich fahren.“

Dankbar nickt Alois Schulte für den Rat und fährt auch sogleich über den Strich, über den dicken weißen Strich. Und er bleibt hinter der roten Ampel auf der Kreuzung stehen, als heftiges Hupen und ein nun gar nicht mehr freundliches Wessi-Mann-Gesicht ihm zu verstehen geben, unterstützt von heftigen Gebärden: „Zurück! Zurück!“

Also legt Alois Schulte den Rückwärtsgang ein und fährt wieder hinter die rote Ampel und steht damit genau auf seinem alten Platz. Der nun nicht mehr so freundliche Wessi-Mann kommt erneut zu ihm und fordert Alois mit einer Handbewegung auf, das Ost-Auto zu verlassen.

So steht Alois Schulte neben dem Wessi-Mann und lauscht dessen Erläuterung. Der zeigt ihm die in die Asphaltdecke eingelassenen Kontakte, zeigt dann auf die Ampel, die gerade in diesem Moment auf „GRÜN!“ steht und Alois steht geduldig neben dem Wessi-Mann, dessen Redefluss auch durch die Grün-Phase nicht zu stoppen ist. Erst als die Ampel wieder auf „ROT!“ steht, kann Alois Schulte ins Auto einsteigen und fährt jetzt gehorsam über die Kontakte und bleibt vor dem dicken weißen Strich stehen. Die Ampel zeigt rot, auch nach mehreren Minuten immer noch rot, während alle anderen Fahrbahnen hatten längst gelb und grün bekommen. Nur die Ampel, vor der Alois Schulte steht, bleibt beim „ROT“.

Der Herr Schulte wird jetzt sehr ungeduldig und fährt vor und zurück, um doch diese Ampel zu überlisten. Man könnte ja sonst denken, die Ampel will ihm einen Gefallen tun und sie zeigt nur ihm das „ROT“ an, weil er ja aus dem ehemals „roten Osten“ kommt.

Dem Wessi-Mann gehen jetzt die Nerven durch. Er fährt an Alois Schulte vorbei und fährt trotz roter Ampel über die Kreuzung.

Alois Schulte hört das Gebrüll des ehemals freundlichen Wessi-Mannes: „Blöder Ossi!“

Ja, Alois Schulte weiß seit dieser Kreuzung, dass er ein Ossi ist. Und er weiß seit diesem Bielefeldbesuch auch, dass er „blöd“ ist, hatte er doch wirklich gedacht, ein teurer Lehrgang für 650 Mark würde ihm einen neuen Job bringen.

 

Um die Episode noch abzuschließen, muss erwähnt werden, dass der Ossi Alois Schulte auch nach einer Wartezeit von mindestens 10 Minuten bei „ROT“ die Kreuzung überfuhr.

 

2. Episode: Alles Dreck!

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Ein Bummelzug fährt durch die Magdeburger Börde. Ein Mann in den besten Jahren, nennen wir ihn Jens Läder, sitzt auf den Lederolsitzen und starrt nach draußen. Ihm gegenüber packt ein Ehepaar, dem Rentenalter nahe, die Vesperpakete aus. Am Dialekt der beiden erkennt Jens Läder, dass sie wohl aus dem Rheinischen kommen müssen und auf dem Weg sind, einen Verwandten die „letzte Ehre“ zu geben.

Die beiden Rheinländer vergnügen sich an ihren Stullen, Jens Läder schaut nach draußen ins Novembergrau. Ihn plagen schwere Gedanken. Er leitet als Diplom-Agronom eine LPG, die nun in Begriff ist, sich selbst aufzulösen. Eine Mitgliederversammlung jagt die nächste. Und immer wieder muss er reden, argumentieren, überzeugen. Dass ein Mitglied der Genossenschaft jetzt nach der Wende seinen in die LPG eingebrachten Boden auch wieder allein bearbeiten möchte – das versteht er ja noch. Dass es aber einige gibt, die ihren Boden „für einen Appel und ein Ei“ an Westdeutsche verhökern wollen – das versteht der Diplom-Agronom nicht. Erst gestern fuhr der Lehmann junior mit einem neuen alten Opel vor und präsentierte sein neues Auto seinen ehemaligen Genossenschaftsmitgliedern. Jens Läder sah die begehrlichen Blicke der Bauern, er ahnte, was sie dachten. Noch konnte er sie überzeugen, nicht ihr wichtigstes Eigentum und Garant ihrer Zukunft – den Boden – zu verkaufen. Ein Satz, erregt von Jens Läder ausgesprochen, brachte die Bauern zu Vernunft: „Der Lehmann hat jetzt ein altes Westauto für seinen guten Boden eingetauscht. Das Auto ist in wenigen Jahren Schrott. Er hat keinen Boden mehr, ist ohne Arbeit. Wovon will er jetzt leben?!“

Ja – der Boden. Magdeburger Börde – der Name garantiert gute Ernten. Schwarz und glänzend liegt der Boden da draußen im Nieselregen. Ackerwertzahl 100 - es gibt keinen besseren Boden in ganz Deutschland, in ganz Europa. Es ist zwar verständlich, dass auch andere nun von dieser fetten Erde etwas abhaben wollen, was aber soll aus den hiesigen Bauern werden?! Für Jens Läder gibt es nur einen Ausweg: Die Genossenschaft muss als Großbetrieb erhalten bleiben, um so wettbewerbsfähig auf dem großen Markt der Nahrungsmittelproduzenten zu sein.

So hängt Jens Läder seinen Gedanken nach. Dann schreckt der Agronom hoch. Hatte er da richtig gehört? Hat die Frau, die ihm gegenüber sitzt, wirklich gesagt: „Im Osten ist alles dreckig! Selbst der Boden ist schwarzer Dreck! Schau mal Heinrich!“

Sie hat es gesagt! Heinrich schaut durchs Fenster und bestätigt: „Ja, Mathilde, du hast recht! Selbst der Boden ist dreckig! Wie kann man nur in diesem Dreck leben?!“

Jens Läder sieht erregt zum Ehepaar. Diese Aussage kann er so nicht stehen lassen. So beginnt er ein Gespräch: „Meine Herrschaften, darf ich mich vorstellen, ich bin Agronom! Ich …“

Diplom-Agronom Läder wird von der Frau unterbrochen: „Angenehm, Herr Agronom, wir sind Herr und Frau Schelder.“

Sie reicht dem Agronomen die Hand, die der auch verdutzt schüttelt. Auch der Heinrich Schelder erfasst des Agronomen Hand und schüttelt sie mit viel Inbrunst.

Dann erfährt Jens Läder, dass der liebe Erbonkel im Mansfeldischen gestorben sei und man nun auf dem Weg sei, um ihn unter die Erde zu bringen. Auch erhoffe man sich ein kleines Erbteil, da sie ja die einzigen Verwandten des lieben Onkels seien. So plapperte Frau Schelder und ließ den Agronomen nicht zu Worte kommen.

Dann endlich sah der eine Gelegenheit, den Wortfluss der Frau zu unterbrechen.

„Liebe Frau Schelder“, säuselte er, „ich möchte Sie über einen Irrtum aufklären. Dieser schwarze Boden ist kein Dreck. Dieser Boden heißt Schwarzerde und ist das Beste, was es an Boden geben kann. Sie können es mir glauben, im Osten ist nicht alles nur Dreck! Wenn Sie …“

„Ach, junger Mann, was reden Sie da? Man sieht doch den Dreck! Alles ist schwarz! Die Kommunisten haben alles verloddert. Alles! Autos fahren hier, die sind aus Pappe! Na, ich hoffe nicht, dass das Auto von Onkel Franz auch solch Pappauto ist! Dann nehmen wir die Erbschaft nicht an! Stimmt doch, Heinrich?!“

Und noch einmal machte Agronom Läder einen Versuch, die beiden netten Leute über ihren Irrtum aufzuklären. Aber weiter als „Bei uns …“ kam er nicht. Resigniert verabschiedete er sich von Frau und Herrn Schelder, die aus dem Rheinischen kamen, um im Mansfeldischen eine Erbschaft anzutreten.

 

3. Episode: Das Begrüßungsgeld

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Das Ehepaar schlenderte durch die wunderschöne Kleinstadt. Dieses Städtchen, das mit Recht den Namen Bad in seinem Namen trägt, liegt im Hessischen, nicht weit von der nun ehemaligen Grenze zum anderen Deutschland, das sich DDR nannte. Herr und Frau Schneid kommen aus dieser DDR und sind zum ersten Male in dem für sie anderen Deutschland. Und das andere Deutschland begrüßt die zukünftigen Neubürger des geeinten Deutschlands mit dem Begrüßungsgeld in Höhe von 100 Mark - Westmark.

Die Schaufenster der kleinen Geschäfte sind gut gefüllt und mit begehrlichem Blick ortete Frau Schneid bereits einige Kleidungsstücke, die sie sich von ihren 100 Mark kaufen könnte. Doch bislang sahen die beiden älteren Leute keine Stelle, wo dieses Geld ausgehändigt wird.

„Schau mal, dort!“ Frau Schneid zeigte auf ein großes Plakat, welches über dem Postsymbol schwebte. „Hier Begrüßungsgeldausgabe!“, las Herr Schneid und begab sich mit seiner Frau zu dieser Hauptpoststelle.

Es war Nachmittag und die Post war gut besucht. Herr und Frau Schneid stellten sich an das Ende einer kurzen Schlange und warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren. Schlangenstehen war man in der DDR gewöhnt und Geduld hatte man da auch gelernt – beim Schlangestehen.

Dann kam der Moment, wo Herr Schneid schüchtern anfragte, ob er hier das Begrüßungsgeld bekommen könnte. Ein netter Postbeamter, ein kleines Bäuchlein und ein lichter Haarschopf zeigten an, dass der Herr Beamte auch schon einige Jährchen auf dem Buckel hatte, antwortete dem Herrn aus dem Osten erfreut: „Aber ja, mein Herr!“ Und streng fügte er hinzu: „Aber nur, wenn Sie mir einen gültigen Ausweis vorlegen können!?“

Natürlich konnte dies Herr Schneid und auch seine Frau zückte den Ausweis. Beide Ausweise verschwanden in der eingelassenen Versenkung am Schalterbord und der nette freundlich dreinblickende Postbeamte holte sie hinter der Scheibe wieder hervor. Dann las er laut und deutlich die Namen des Herrn Schneid und auch dessen Frau vor, vergaß auch nicht einen der vielen eingetragenen Vornamen, und erwartete nun eine Bestätigung durch die vor ihm stehenden Personen. Da die beiden sich jedoch nicht rührten, erhob der Herr Postbeamte hinter dem Schalter die Stimme: „Wenn Sie Frau Karla Isolde Paula Schneid sind, so antworten Sie mit ‚Ja‘!“

Frau Schneid piepste aufgeregt das „Ja“ nur leise, denn mit „Ja“ musste sie nur vor 30 Jahren auf dem Standesamt antworten. Der Herr Schneid knurrte nur sein „Ja“. Irgendwie ärgerte ihn das ganze Tamm-Tamm. Und wenn er die Ausweise in der Hand gehabt hätte, er hätte auf dieses Begrüßungsgeld verzichtet. Aber so stand er verärgert vor der mächtigen Scheibe, die ihn von den Ausweisen trennte.

Doch Herr Schneid brauchte noch viel Geduld. Der Herr Postbeamte aus der hessischen Kleinstadt stieg auf seinen Stuhl und rief den hinter dem Ehepaar Schneid wartenden Postkunden über der Scheibe hinweg zu: „Bitte, Herrschaften, ich bediene Kunden aus der DDR. Es dauert ein bissel. Gehen Sie bitte an die anderen Schalter. Danke!“

Und der Herr Beamte strahlte die Postkunden so freundlich an, dass die ohne Murren sich zu den anderen drei Schaltern begaben.

Das Ehepaar Schneid aus dem anderen Deutschland hätte nie gedacht, dass die Auszahlung des Begrüßungsgeldes so aufwendig sein würde. Hätten sie allerdings die feixenden Gesichter der anderen Postbediensteten gesehen, so hätten sie erahnen können, was noch auf sie zukommen sollte.

Der nette freundliche kleinstädtische hessische Postbeamte klopfte jetzt an die Scheibe und erklärte: „Panzerglas! Haben wir erst vor einem viertel Jahr bekommen! Hält garantiert jede Pistolen- oder Gewehrkugel auf!“ Und nochmals klopfte der Postbeamte an die Scheibe.

Der Herr Schneid wusste zwar, dass es im Westen viel mehr Banküberfälle als in der DDR gab, aber warum muss er wissen, dass diese Schalterscheibe aus bestem Panzerglas besteht?

Aber nach Meinung dieses Beamten musste der Herr Schneid auch wissen, dass das Panzerglas so angebracht sei, dass der Postbeamte hinter solch einer Scheibe immer geschützt sei.

„So, Herr Schneid!“, rief der Beamte hinter der Scheibe. „Jetzt schießen Sie mal auf mich!“

Herr Schneid verstand nicht, seine Frau verkroch sich hinter ihm. Und da Herr Schneid keine Anstalten machte, auf den netten Beamten zu schießen, schrie der: „Machen Sie eine Pistole!“ Und damit der DDR-Mensch auch weiß, was er machen sollte, zückte der Herr Beamte seine Hände zur Pistole und rief: „Piff! Paff!“

Noch dämlicher konnte der Gesichtsausdruck eines Ost-Menschen nicht werden. Dreimal musste der Beamte doch den Herrn Schneid auffordern, eine „Pistole zu machen“. Dann endlich hatte der Herr aus dem Osten das begriffen und „zückte“ seine rechte Hand zur Pistole.

Erfreut rief der Hesse: „Nun mal mit der linken!“ Und Herr Schneid „schoss“ mit der linken Hand und erfreut stelle der nette freundliche Postbeamte fest: „Sehen Sie, ich bin aus allen Richtungen geschützt!“

Während alle anderen Postbeamten und auch die Postkunden begeistert dieser Demonstration beiwohnten – es hätte nicht viel gefehlt und es hätte Beifallsapplaus gegeben -, wäre Herr Schneid am liebsten zur Fliege an der Wand geschrumpft. Frau Schneid hatte schon lange das Staunen aufgegeben und starrte fast fassungslos zu ihrem Mann. Der sollte jetzt nach Meinung des hessischen Beamten die „Pistole“ mit dem „Gewehr“ vertauschen. Doch da gingen mit dem Herrn Schneid die Nerven durch.

„Können Sie mir bitte unsere Ausweise geben?!“, bat er höflich aber bestimmt.

„Aber – das Gewehr?“ Der Beamte verstand diesen Mann aus dem Osten wohl nicht.

„Wir haben es eilig!“, knurrte der Herr Schneid nur.

„Das hätten Sie doch gleich sagen können, mein Herr!“

Und der nette Postbeamte aus der wunderhübschen hessischen Kleinstadt blickte noch einmal auf die beiden DDR-Ausweise, drückte den Post-Stempel auf eine der leeren letzten Ausweisseiten und legte die Dokumente in die Vertiefung ab. Auf der anderen Seite schnappte sich der Herr Schneid die Ausweise und machte kehrt um, seine Karla Isolde Paula hinter sich herziehend.

„Halt!“, tönte es vom Schalter. „Ihr Begrüßungsgeld!“

Der Beamte stand auf dem Stuhl und hangelte mit der Hand, in der er zwei Hunderte schwenkte, über die Panzerglasscheibe.

Und da fielen die beiden Hunderte auch schon und Herr Schneid musste sich sputen, sie aufzufangen.

Draußen vor der Tür knurrte der Herr Schneid: „Hätte ich gewusst …“ Er schaute zu seiner Frau und sah das Lachen in ihrem Gesicht. Und so verzog sich auch sein Gesicht zu einem breiten Grinsen.

 

4. Episode: Der Schlossherr

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Kaum war die Vereinigung politisch und juristisch vollzogen, begann die Umverteilung der materiellen Güter. Auf gut Deutsch: Die Alteigentümer meldeten ihre Besitzansprüche an.

Fürstenhäuser erhielten ihre im Osten verbliebenen Schätze zurück, die nun zu einem Teil in den Museen als Leihgaben verblieben oder aber den Weg in die Tresore der großen Banken antraten. Wenn auch an der Bodenreform politisch festgehalten wurde, so gab es doch genügend Mittel und Wege, altes Eigentum für wenig Geld wieder zu bekommen. So erhielten riesige Wald- und Ackerflächen neue alte Namen in den Grundbüchern. Auch Immobilien waren begehrt – versprachen Sie denn einen guten Verkaufswert. Ansonsten zeigte man sich großzügig und überließ dem Bund oder dem Land die Eigentumsrechte.

Und es gab auch einige, die nichts besaßen, aber auch von dem großen DDR-Ausverkauf profitieren wollten. So flatterte auch eines Tages ein Brief auf dem Tisch eines Landrates, indem ein Herr von … - nennen wir ihn Herr von Näseburg – den Besitz an seinem Schloss anmeldete.

Große Aufregung herrschte im Amt. War doch die gesamte Bürokratie des Landkreises in den ehrwürdigen Gemäuern untergebracht. Der Kreistag beschäftigte sich mit dem Brief, die Lokalzeitung informierte die Bürger. Ja, man begann sich ernsthaft, nach Alternativen für die gesamte Verwaltung umzusehen.

Pragmatiker meinten, man solle doch abwarten, was dieser ehemalige Besitzer denn wolle. Und diese Leute wurden von dem Herrn über die Archive unterstützt, der nämlich trotz nächtelanger Recherchen keinen Herrn von Näseburg in den alten Dokumenten finden konnte.

So erhielt denn dieser ominöse Herr einen freundlichen aber sachlichen Brief, indem er gebeten wurde, doch die Dokumente hinsichtlich seiner Besitzansprüche zur Einsicht, am besten persönlich, dem Amt vorzulegen. Und dem wollte der Herr auch nachkommen – so konnte man es später in der Zeitung lesen.

Für diesen Herrn von Näseburg wurde der „große Bahnhof“ vorbereitet. Mit leichter Verspätung, die man dem dichten Verkehr auf der Autobahn schuldete, fuhr eine schwere Limousine auf den Schlossplatz vor. Alles an dem Auftritt des Herrn von Näseburg war fragwürdig: Das Auto war zu protzig und zu alt, der Chauffeur zu ungepflegt, der Herr von Näseburg zu aufgemotzt.

Höflich wurde der Herr ins Amtszimmer gebeten und dort sollte er seine Dokumente vorlegen. Er öffnete seine funkelnagelneue, noch nach frischem Leder riechende Aktentasche und zeigte seine Dokumente. Er bat, sehr vorsichtig mit diesen altehrwürdigen Pergamenten umzugehen, denn sie würden schließlich seinen Besitz dokumentieren.

Allerdings war damit der Archivar nicht einverstanden, denn kaum hielt er eines der drei „Dokumente“ in den Händen, ging ein breites Grinsen über sein Gesicht. Er nickte einem Mann, der sich im Hintergrund gehalten hatte, zu und der öffnete eine Tür zum Nebenraum. Zwei uniformierte Beamte traten zum „Herrn von Näseburg“ und verhafteten ihn. In der Zelle der Polizeiwache traf der „Blaublütige“ seinen „Chauffeur“ wieder und keine drei Tage später freuten sich zwei Polizeibeamte aus einem westdeutschen Bundesland, ihre alten Bekannten nach Hause überführen zu können.

 

5. Episode: Der Herr Gockel

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Aus dem Sächsischen kamen Frau und Herr Mandly, um eine Ostseeküsten-Tour zu starten. Die ersten großen Entlassungswellen hatten sie überstanden und hofften, dass ihre Arbeitsplätze ihnen auch noch einige Jahrzehnte erhalten bleiben. Und wer Hoffnung hat, lebt besser! Und zum besseren Leben gehört für das Ehepaar auch das Reisen. Auch zu DDR-Zeiten reisten sie gern und auch oftmals weit – weit wenn, ja wenn man einen der begehrten Ferienreisen des Reisebüros oder der Gewerkschaft ergattern konnte. So blickten Frau und Herr Mandly mit den Jahren auf eine ganze Palette schöner Urlaubserinnerungen zurück. Das Ehepaar füllte mit den Bildern ihre Fotoalben und mit jedem Bild verbanden sie Erinnerungen.

Und warum sollten sie jetzt, wo auch die Grenzen gen Westen gefallen sind, nicht mehr verreisen?! Sachsen reisen gerne – das sagt man ihnen nach. Also wollten auch Frau und Herr Mandly wieder verreisen und die Reise sollte Ost und West verbinden.

Es war ein goldener Herbst, die Ostseeküste fast verwaist, die Preise im Osten niedrig, im Westen angemessen. Es war eine schöne Reise, die alten Hansestädte präsentierten sich im besten Glanz, die Filme waren fast alle vollgeknipst, jetzt freute man sich wieder aufs Zuhause. Erinnerungen hatte man gesammelt, fast ausschließlich gute, wenn da nicht diese Golfer-Gaststätte gewesen wäre.

Sie hatten die ehemalige Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten hinter sich gelassen, nichts deutete mehr auf den ehemaligen Grenzverlauf hin. An den Häusern erkannten die beiden Urlauber, dass sie wieder im Osten waren. Es war vor 11 und dem Herrn Mandly dürstete es nach einem heißen Kaffee. Die kleinen Gaststätten, die auf dem Weg lagen, waren alle noch geschlossen oder für immer geschlossen. Dann wies ihnen ein Schild „Golfer-Club“ den Weg zum heißen Getränk. Stand doch auch da: „Geöffnet, auch für Nichtclubmitglieder.“

Auf dem Parkplatz standen neben einem Trabant mindestens sechs Autos. Eine Tankfüllung Benzin in ein solches Auto gefüllt, kostete garantiert mehr als dieser Trabant.

Solidarisch lenkte Herr Mandly sein Ost-Auto neben den Trabant.

Über zwei Dinge wunderte sich Herr Mandly. Wieso sind am Vormittag - an einem Werktag wohlgemerkt - so viele Golfer anwesend? Und wieso suchen sich West-Golfer solch ein Gebäude als Vereinshaus? Das Haus machte wirklich keinen exklusiven Eindruck, hatte mehr vom Charme eines Vereinshauses einer Sportgemeinschaft aus der ehemaligen DDR.

Während noch Frau Mandly auf die Luxusschlitten schielte, strebte Herr Mandly dem heißen Kaffee entgegen und wurde noch auf der Treppe vom Wirt des Vereinshauses begrüßt. Höflich fragte Herr Mandly, ob er hier bedient werde. Kaum, dass der Satz gesprochen war, erstrahlte der Wirt: „Ein Sachse?! Willkommen mein Herr! Ich empfehle Ihnen meinen besten sächsischen Kaffee. Nee, nee, kein Bliemchen! Nur erste Qualität! Das Beste für meine Besucher aus meiner alten Heimat! Bin nämlich in Leipzig geboren, dort aufgewachsen und bin mit jungen 20 Jahren meiner Liebe zu den Fischköppen gefolgt. Ja, ja, alles schon vergangen! Aber nun hinein mit Ihnen! Ach, da kommt bestimmt die bessere Hälfte?!“

Und sofort ergoss sich über Herrn Mandlys Frau ein Schwall an Begrüßungsworten.

Kaum saßen Frau und Herr Mandly an einem Tisch, als auch schon die Wirtin herbeieilte und von ihrem Mann sofort in die Küche geschickt wurde.

Der Wirt dagegen setzte sich zu den beiden Urlaubern und erkundigte sich nach Neuem aus dem Sachsenland. „Es ist überall dasselbe“, erzählte er, „um nicht arbeitslos zu sein, haben meine Frau und ich dieses Vereinshaus gemietet. Ja, von der ehemaligen LPG, jetzt nennt sie sich Agrargenossenschaft, konnten wir miesen Sandboden billig pachten und haben dann den Golfplatz mithilfe der Genossenschaft angelegt. Unsere ganzen Ersparnisse haben wir in die Inneneinrichtung gesteckt. Noch haben wir keine Schulden und wir hoffen jeden Tag auf viele Gäste. Na ja, Sie sind heute die ersten. Und vielleicht auch die letzten. Wenn nicht die Golfer wären, dann …“

Der Wirt war aufgesprungen und begrüßte die Herren Golfer. Er nahm ihre Bestellung entgegen und enteilte zu seiner Frau in die Küche.

Herr Mandly flüsterte seiner Frau zu: „Mit solch einem Umsatz kann der Wirt schwerlich überleben.“

Frau Mandly nickte nur bestätigend und trank ihren heißen und wirklich guten Kaffee.

Die Golfer unterhielten sich leise über ihre erzielten Ergebnisse. Schlagartig veränderte sich das Verhalten dieser Männergruppe, als eine junge Frau den Wirtsraum betrat. Man unterbrach das angeregte Gespräch, das sich nur um Schläger, Bälle und Löcher gedreht hatte. Die Herren sprangen auf und begrüßten die junge Frau – einer sogar mit gehauchtem Handkuss.

Die junge Dame, als solche gab sie sich, besaß all dass, was man von einer schönen Frau sagt: Ein angenehmes Äußeres und Rundungen, die überall all dort zu finden waren, wo man sie bei einer Frau erwartet.

Während die meisten Herren wieder zu ihrem Tagesgespräch zurückkehrten, kümmerte sich einer der Herren um die Schöne. Seine Sprache wurde immer lauter, immer lebhafter. Die beiden Ost-Urlauber verstanden jetzt jedes Wort. Der Herr, der Herr Mandly nannte ihn im Stillen den Herrn Gockel, „balzte“. Die Schöne genoss seine Annäherungen und je mehr das der „Herr Gockel“ merkte, umso aggressiver wurde sein Werben. Jetzt ging seine Rede von Belanglosigkeiten zur Protzerei über. Er sprach Sätze aus, die dem Ehepaar aus dem Sächsischen noch lange im Gedächtnis bleiben sollten. Gab er doch zum Besten, dass er hinter der „Zonengrenze“ eine kleine Fabrik besaß. Und um die Fördermittel im Osten abzukassieren, übernahm er „in der Zone“ eine alte Fabrik. Zwei Jahre bräuchte er, dann kann er diesen „Laden“ wieder abschreiben. Auf die Frage der Frau, was denn mit den Beschäftigten dann geschehe, grinste er nur unverschämt und zuckte mit den Schultern, was wohl heißen sollte: „Ist mir doch egal!“

Und dieser Herr krähte noch einige „Weisheiten“ heraus: „Die Ossis sind doch dämlich! Ich habe alle entlassen, bin dann zum Arbeitsamt und habe mir neue Mitarbeiter vermitteln lassen. Die bekommen ein Arbeitsverhältnis auf Probe, nur ein halbes Jahr. Ich zahle höchstens 50 % des Lohnes, das Arbeitsamt stockt die Summe auf. Nach einem halben Jahr werden die Ossis entlassen und das ganze Spiel beginnt von Neuem.“ Und dann gab der „Herr Gockel“ noch lautstark bekannt: „Ich habe jetzt meine erste Million gemacht! Im nächsten Jahr kommen garantiert noch zwei hinzu. Auch meine Stammbelegschaft wird entlassen und ich hole mir Leute aus dem Osten. Die arbeiten auch für die Hälfte und bedanken sich noch dafür!“

Die Schöne bekam, als das Wort „Millionen“ fiel, ganz runde Auge. Ihr Busen straffte sich und sie begann, die körperliche Nähe des „Herrn Gockel“ zu suchen. Der, in der Körpersprache bewandert, beantwortete die eindeutigen Signale mit noch heftigerem Gebalze. Die anderen Herren zogen es jetzt vor, unter dem Vorwand ein neues Spiel zu machen, den Gastraum zu verlassen. Auch der Gockel und die Schöne erhoben sich und winkten dem Wirt. Was der Herr den Wirt fragte, konnten Frau und Herr Mandly nicht verstehen. Was der Wirt antwortete, verstanden sie wohl. Unüberhörbar hörte man den Wirt in seinem besten Sächsisch mit hochrotem Kopf erzürnt ausrufen: „Ich habe doch keine Absteige!“

Wieder im Auto schwiegen die beiden Urlauber aus dem Sächsischen. Erst, als in den Nachrichten davon gesprochen wurde, dass im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung die Zahl der Millionäre in Deutschland sich um 200 erhöht habe, schauten sich Frau und Herr Mandly an. Reden brauchten sie nicht, ihre Gedanken …

 

6. Episode: Die Annonce

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Es war die Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs in der DDR. Ines, eine junge Frau und Mutter einer dreijährigen Tochter, hatte Stress. Ein lauter Streit, der fast in Handgreiflichkeiten ausgeartet war, beendete nun aber wirklich endgültig die Beziehung zu Frank, dem Vater ihrer Tochter. Ines nahm ihr Töchterlein und fuhr mit ihr zu ihren Eltern nach Berlin. Der Personenzug war überfüllt, denn Tausende wollten zu der Grenze, die Berlin seit 28 Jahren geteilt hatte.

Ines hatte von all den hochpolitischen Ereignissen so gut wie nichts mitbekommen – der Dauerstreit mit Frank war ihr Problem. Als sie ein junges Mädchen fragte, ob sie auch nach Westberlin wolle, verwunderte sie sich sehr. Die Mutter des Mädchens bemerkte Ines Verlegenheit und klärte Ines über die politische Sachlage auf. Das war zwar auch für Ines eine aufregende Sache, aber viel wichtiger war erst einmal, dass sie sich bei ihren Eltern ausheulen konnte.

Drei Tage später gehorchte auch Ines der Zeit und wollte in den Westen. Töchterchen Susann war bei den Großeltern bestens aufgehoben und wurde nach allen Regeln, die scheinbar nur für Großeltern gelten, verwöhnt.

Was blieb nun bei Ines von ihrem „Westbesuch“ im Gedächtnis haften? Blickt sie zurück, so ist es eigentlich nur eine Zeitung, die jemand achtlos auf einer Bank liegen gelassen hatte, die Annonce in dieser Zeitung und ein Telefongespräch, das sie noch von einer Westberliner Telefonzelle führte. In dieser Anzeige stand kurz und knapp: „Ältere alleinstehende Frau sucht dringend eine Hilfe im Haushalt und der Wirtschaft.“

Erst im Telefonat erfuhr Ines, dass die ältere Frau in einem abgelegenen Haus hoch oben im Schwarzwald wohnte. Auch wenn Ines einige Aussagen der Frau am Telefon aufgrund des badischen Dialektes nur schwer verstand, das verstand sie: Sie wäre der Frau auch mit Töchterchen Susann willkommen. Kurz entschlossen sagte Ines der Frau zu. Ausschlaggebend für die schnelle Entscheidung war, dass sie dort garantiert nicht von Frank gefunden werden würde und endlich zur Ruhe kommen könnte.

Erst später, bei ihren Eltern, begann sie darüber nachzudenken, wie sie es anstellen sollte, in den Schwarzwald zu kommen. Und dabei hatte sie es sich alles so einfach vorgestellt. Ihre Eltern machten zwar ein bedenkliches Gesicht, aber unterstützten sie. „Wenn du drüben nicht klarkommst, Ines“, sagte ihr Vater wieder und wieder, „komm zurück! Wir sind immer für dich da!“

Die Möglichkeit, in den Schwarzwald zu kommen, ergab sich mit der großen Grenzöffnung. Ihr Begrüßungsgeld und das ihrer Eltern reichte für die Fahrkarten. Und dann saß Ines mit Töchterchen Susann auch schon im Zug. Es war eine Reise in die Fremde – nur, dass die Sprache Ines mit den Menschen, in dessen Land sie fuhr, verband.

Freundlich wurde Ines überall mit ihrer Tochter aufgenommen. Sagte sie, dass sie aus dem Osten, aus der DDR, käme, überbot man sich sogar mit Hilfestellungen. Ja, die letzte Etappe, der Weg in den Hochschwarzwald, bekam sie quasi geschenkt. Als der Taxifahrer die Gebühr sagte, die die Fahrt etwa kosten solle, erschrak Ines sehr. „So viel Geld habe ich nicht mehr!“, sprach sie zu dem Taxifahrer. „Welchen Weg muss ich nehmen, damit ich noch vor Sonnenuntergang zum Gehöft der Frau Huberti komme?“

Der Taxifahrer schaute zu den beiden großen Koffern, lächelte die kleine Susann an, die sich hinter ihrer Mutter schnell versteckte, fragte, wie viel Geld die junge Frau denn noch hätte, und als er die offene Hand mit dem Geld sah, stieg er aus dem Auto, packte die Koffer in den Kofferraum, öffnete die hintere Autotür und bat im besten, für Ines im fast unverständlichen badischen Dialekt: „Willkumme im Schwarzwald! Nao, doan fahrn mer mol de beide Frooloans in de Berche!“

Die Fahrt zum Gehöft der Frau Huberti dauerte lange, sehr lange. Machte doch der freundliche Taxifahrer eine kleine Schwarzwald-Rundreise aus der Fahrt. Viel erklärte er und bemühte sich, hochdeutsch zu reden, damit seine Fahrgäste auch alles verstanden. Aber ab und zu verfiel er wieder in seinen Dialekt und dann dachte Ines, dass sie doch im Ausland sei.

Der Taxifahrer trug der Ines noch die Koffer zum Haus, wünschte ihr viel Glück und erklärte der kleinen Susann im allerbesten Hochdeutsch zum Abschied: „Bestimmt sehen wir uns noch einmal!“

In diesem Moment trat die Frau Huberti vor die Tür. Sie begrüßte zuerst den Taxifahrer als einen Schorsch und fragte, ob er nicht noch die Koffer hinauftragen könne. Und natürlich konnte der Schorsch das.

Frau Huberti widmete sich jetzt ganz und gar der Ines und der Susann. „Kaffee unn Kuche stäje uffem Disch. Willkumme in de naie Heimat!“ Und dann fragte die Frau Huberti auch noch den Schorsch, ob er nicht ein kleines Stückchen Kuchen essen möchte. Und der Schorsch wollte.

So wurde Ines in der neuen Heimat begrüßt. Sie erfuhr, dass der Schorsch im Dorf wohnt, dass das nächste Gehöft wohl eine viertel Stunde weit entfernt wäre und dass zweimal am Tag - morgens um 6 und abends zwischen 6 und 7 - ein Bus 200 Meter vom Gehöft entfernt vorbeifahren würde und dass dieser Bus die beste und einzige Verbindung zur nächsten Stadt wäre. Man müsse nur winken – der Fahrer würde schon halten!

Abends im großen Bett, das wohl noch aus der Zeit des vorigen Jahrhunderts stammte, grübelte sie lange darüber nach, ob es richtig gewesen wäre, die Heimat zu verlassen und in die Fremde zu gehen. Am nächsten Tag hatte sie keine Zeit mehr zum Nachdenken, ihr Arbeitsalltag hatte begonnen. D. h. für Ines die einzige Kuh, die sogar noch einen Namen hatte und auf „Liesel“ hörte, zu melken, den großen Garten zu bearbeiten, Essen kochen, aufwaschen, und, und, und …

Ines hatte so viel Arbeit, dass sie nicht mehr an ihren Ex-Freund dachte und durch die Arbeit in der Fremde zur inneren Ruhe fand. Nur ihre Tochter tat ihr leid. Als sie die Frau Huberti fragte, wann der Kindergarten im Dorf offen habe, sie müsse doch die Susann anmelden, antwortete ihr Frau Huberti etwas fassungslos. „Kinnergarte im Dorf? Vielleischt ischt in de Stadt oaner, äwwer de Stadt is nedd ohne Audo zu erreische.“

So wurde Susann in die tägliche Haus-, Hof- und Gartenarbeit einbezogen, wobei die Gartenarbeit ruhte, denn der Winter hatte jetzt Einzug gehalten. Nach einer Woche meldete sich Besuch an. Eine junge Nachbarin kam zur Frau Huberti. Sie brachte Brot, Fleisch und Wurst, Dinge für das tägliche Leben zur Frau Huberti. Und sie brachte ihre beiden Kinder mit. Nach anfänglichen Sprachschwierigkeiten verstand sich Susann mit den beiden Mädchen recht gut, und als die Nachbarin Ines den Vorschlag machte, dass Susann doch mit ihren Mädchen zusammen spielen könnte, war Ines sofort einverstanden.

So vergingen die Tage und Wochen. Ines, das Mädchen aus der Großstadt, wurde mithilfe der Frau Huberti eine fast perfekte Bäuerin. Schorsch, der hilfsbereite Taxi-Fahrer, hatte so oft Sehnsucht nach der alten Frau Huberti, dass es eigentlich jedem auffallen musste. Nur Ines hielt es für normal, hatte sie sich doch geschworen, keinen Mann mehr anzusehen. So wurde der Hochschwarzwald zur neuen Heimat. Da zur Heimat auch die Sprache gehört, vermeldeten Ines und ihr Töchterchen Fortschritte im Verstehen des badischen Gebabbels.

In den langen Winterabenden wurde jetzt oft das Fernsehen eingeschaltet. Als ein Beitrag zur Entwicklung des Tourismus ausgestrahlt wurde, meinte Ines zur Frau Huberti, dass dies doch auch etwas für den „Huberti-Hof“ wäre. Ging es doch in dem Beitrag um den Urlaub auf dem Bauernhof.

„Moanscht, dassde des schaffe tätscht?“, fragte Frau Huberti. Und als Ines aufzählte, was sie alles bieten könnten, antworte ihr die Frau Huberti nur: „Noa, doann mach mol! Du waaschd joh, isch koann dir faschd nedd helfe!“

Und Ines machte! Leer stehende Zimmer wurden tapeziert, die alten rustikalen Möbel, die Ines auf dem Heuboden fand, wurden mithilfe des wirklich immer sehr hilfsbereiten Schorschs in die Räume gebracht. Der Heuboden wurde jetzt ein „Heu-Hotel“, die Kuh Liesel, wie auch die beiden Katzen und der kleine Hund, den die nette Nachbarin mitgebracht hatte, wurden zu „Streicheltieren“ ernannt. Zwar war Ines mit dem Ergebnis noch lange nicht zufrieden, aber sie meinte zur Frau Huberti, dass die ersten Besucher zum Testen kommen könnten. Und als „Tester“ lud Ines ihre Eltern in den Hochschwarzwald ein.

Und als der Anreisetag kam, hörte Ines ein bekanntes Geräusch. „Susann, Oma und Opa kommen mit dem Trabbi! Lauf ihnen entgegen!“

Vierzehn Tage blieben die Eltern, vierzehn Tage testeten Oma und Opa die Unterkunft, indem sie von morgens bis abends Hand anlegten. Der Trabbi machte seinem Namen als „Großraum-Transporter“ alle Ehre und selbst Schorsch staunte, was solch kleines Auto alles wegschleppen konnte.

Als der Abschied kam, meinte der Vater: „Ines, hier oben brauchst du ein Fahrzeug. In drei Wochen bekomme ich meinen Opel. Ich lasse dir unseren Trabbi hier. Fahr ihn, bis du dir ein kleines Auto zusammengespart hast. Wir nehmen den Zug zurück.“

Und so kam der Trabbi in den Hochschwarzwald.

Auch Frau Huberti fuhr einmal im Trabant mit. Ines staunte nicht schlecht, als Frau Huberti sie einmal fragte: „Ines, färscht du misch bidde in de Stadt?!“

Als Ines die Frau Huberti wieder hinauf in die Berge fuhr, machte die alte Frau einen zufriedenen Eindruck. „Ich häbbe geregelt, woas geregelt soan misse.“ So erklärte sie Ines ihren Ausflug in die große Stadt.

Das zweite Weihnachtsfest feierte nun Ines auf dem Huberti-Hof. Sie war zufrieden mit dem, was sie auf dem Hof geschaffen hatte. Ihre Eltern annoncierten in Berlin und warben um Gäste für den Huberti-Hof. Und Ines hoffte für das neue Jahr auf viele Urlaubsgäste.

Aber es sollte anders kommen. Frau Huberti erkrankte schwer und stand nicht mehr von ihrem Krankenlager auf. Der Arzt machte der Ines keine Hoffnung auf Besserung. So pflegte Ines die Frau Huberti. Und als sie eines Morgens wie üblich das Frühstück ins Krankenzimmer brachte, konnte Ines nur noch zur Susann sagen: „Unsere Frau Huberti ist eingeschlafen.“

Zwei Anrufe betätigte die Ines: Sie rief den Arzt und den Schorsch an! Den Schorsch bat sie um Hilfe bei der Erledigung aller Formalitäten und Schorsch half. So konnte Ines die Frau Huberti in Ehren bestatten lassen.

Am nächsten Tag packte Ines ihre wenigen Habseligkeiten in den Trabant. Die Schlüssel wollte sie zur Nachbarin geben, damit diese sich um die Tiere kümmern könnte - bis sich die Erben melden. Dann sollte es noch einen Zwischenstopp in der Stadt geben. Dort wollte sie den Notar aufsuchen, damit dieser sich um den Nachlass kümmern könnte.

Als sie den Motor startete, sagte Ines zu Susann: „Schau dich noch einmal um! Hier kommen wie nie wieder her!“ Und los ging’s - in die alte Heimat!

Als Ines mit dem Trabbi auf die Hauptstraße fuhr, sah sie Schorschs Taxi. Schorsch betätigte immer und immer wieder die Lichthupe, was nur heißen konnte: Ines sollte halten – Schorsch möchte sich verabschieden. Sie hielt, doch statt Schorsch stieg ein älterer würdevoll aussehender Mann aus dem Taxi. Er stellte sich als Notar und Nachlass-Verwalter der Frau Huberti vor und bat Ines, ihn in das Haus zu begleiten. Verwundert fuhr Ines zurück auf den Huberti-Hof. Ihr folgte das Taxi, und als Ines jetzt den Schorsch sah und ihn verwundert anstarrte, grinste der nur übers ganze Gesicht. Und als Ines das Hoftor aufschloss und sich nochmals umschaute, sah sie, wie Schorsch ihre Koffer aus dem Trabbi nahm und Susann ihm dabei half.

Als der Notar den Huberti-Hof verließ, ließ er eine sprachlose Ines zurück. Sie nahm ihre Tochter an die Hand, ging mit ihr durchs ganze Haus, zur Liesel, zur Scheune, auf den Acker, in den nahen Wald und auf die Wiese. Dann blieb sie stehen und sagte: „Susann, das alles gehört jetzt uns beiden. Frau Huberti hat uns das geschenkt.“

Der Erste, der zum Gratulieren kam, war … Schorsch. Er erzählte, dass er der Frau Huberti in die Hand versprechen musste, sofort nach ihrem Tod den Notar aufzusuchen und ihn in die Berge zum Hof zu fahren. Und auf Schorsch Hilfe ist immer Verlass!

Jetzt wollen Sie von mir wissen, wie die Geschichte weiter geht? Leider wusste der, der sie mir erzählte, das auch nicht. Aber Sie wissen das doch sowieso – oder?

 

Für den Wahrheitsgehalt dieser Episoden wird garantiert!