Geschichten für Erwachsene: Von Ethik und Moral

Der Reiter

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von Joachim Größer (2011)

 

„Mama, Mama, die Bilder auf den Fliesen bewegen sich!“ Ein fünfjähriger Junge lief in die Küche und schrie die Worte der Mama entgegen.

„Was ist, Jonas?“, fragte die Mutter.

„Mama, die Bilder bewegen sich!“

„Welche Bilder? Und wo?“

„Na, die Bilder auf den Fliesen, Mama! Komm, ich zeige sie dir!“

Jonas zog die Mutter vom Küchenherd weg und rannte mit der Mutter ins Bad.

„Schau hier!“, rief der kleine Junge und zeigte auf die Bodenfliese. „Dort ist ein Reiter, er winkt mir zu!“

Die Mutter starrte auf die Fußbodenfliese. Sie sah die in sich gemusterte Fliese, die aber keinem Muster folgte, kein Bild darstellte.

Erschrocken fasste die junge Frau ihrem Sohn an die Stirn.

„Jonas, du bist ja kochend heiß!“

Die Mutter legte ihren Jonas ins Bett, holte das Fieberthermometer und erschrak.

„39,5 °, ich hol den Doktor!“

Sie stürzte ans Telefon und suchte hektisch nach der Rufnummer. Endlich fand sie die Liste mit den wichtigen Rufnummern und endlich hörte sie die vertraute Stimme der Arzthelferin.

„Frau Schuster, im Moment kann der Doktor nicht. Es ist doch Sprechstunde, aber …“

Jonas Mutter schluchzte ins Telefon: „Aber mein Jonas hat solch hohes Fieber, fast vierzig Grad!“

„Kleinen Moment, Frau Schuster, der Doktor kommt gerade aus seinem Zimmer …“

„Na, Bettina, was gibt es denn Wichtiges?“

Die Stimme des Arztes beruhigte Bettina Schuster. Sie wusste jetzt, ihr wird geholfen. Und als sie sich ihre Angst um ihren kleinen Jonas von der Seele geredet hatte, wurde sie ruhig.

„Bettina, jetzt machst du das, was deine Mutter damals mit dir gemacht hast, wenn du Fieber hattest: Du machst Wadenwickel und senkst damit das Fieber. Ich komme heute Abend garantiert bei euch vorbei!“

Ja, die Bettina Schuster war jetzt die Ruhe selbst. Wenn ihr Doktor sagte, er kommt vorbei, ja – dann kommt er vorbei! Ist doch der Doktor nicht nur der einzige Arzt in dem kleinen Dorf, er ist auch einer der ältesten Dorfbewohner und immer da gewesen, wenn er gebraucht wurde. Keiner im Dorf kann sich erinnern, dass die Arztsprechstunde einmal ausgefallen wäre. Keiner hatte ihren Doktor je krank gesehen. Überhaupt war dieser Arzt eine Zierde seines Berufsstandes. Seine jüngeren Kollegen lächelten zwar heimlich, wenn sie über seine Heilmethoden sprachen. Galt doch der alte Doktor als ein Mediziner, der althergebrachte Heilmethoden der modernen Arznei-Medizin vorzog. „Warum soll das Kind eine Pille schlucken, wenn ein kalter Wadenwickel dieselbe Wirkung  erzielt!“ Das war seine Ansicht und seine Patienten akzeptierten sie. Auch hatte er immer Zeit. Schauten seine jüngeren Kollegen auf die Uhr, wenn ein Patient nach zehn Minuten noch immer auf dem Stuhl saß und sie unbedingt noch eine ganz wichtige Frage geklärt haben wollten, so hatte der alte Doktor die Uhr aus seinem Behandlungszimmer verbannt. Dafür war das Wartezimmer immer voll und oftmals saßen seine Patienten nach drei Stunden immer noch und warteten auf die Behandlung. Als er deswegen von der Ärztekammer gemahnt wurde, meinte er nur: „In meinem Wartezimmer kommen die Menschen einmal am Tag zur Ruhe – ob sie wollen oder nicht. Das kann ich ihnen doch nicht nehmen!“

Lächelnd verließ der Gerügte die vorgesetzte Behörde und änderte nichts.  Er änderte auch nicht seine Gewohnheit, alle Patienten, denen er als Arzt auf die Welt verholfen oder als Kind behandelt hatte, zu duzen. Kam dann Oma Irmchen mit ihrer Enkelin zum Doktor, so fragte er: „Na, Irmchen, was fehlt dir heute oder ist die Sophie der Patient?“

Auch wenn Oma Irmchen die 60 bereits überschritten hatte, für den Doktor blieb sie das kleine Mädchen, das er einst als junger Arzt von den Masern geheilt hatte.

Und dieser Arzt „heilte“ schon mit seiner Anwesenheit. So empfand es auch Bettina Schuster, die ihrem Jonas kalte Wadenwickel bereitete.

„Jonas, es wird alles gut. Der Doktor kommt heute Abend vorbei.“

„Mama, ich möchte aber den Reiter auf den Fliesen sehen. Er wollte mit mir sprechen!“

„Was für ein Reiter …, ach ja, der Reiter?! Hier Jonas, nimm diesen Reiter, ich glaube, der möchte auch mit dir reden.“ Und die Mutter gab ihrem Sohn den Reiter aus dem Spielkasten und Jonas sprach mit dem Reiter und der Reiter „antwortete“ ihm.

Mit fieberglänzenden Augen sprach Jonas und die Mutter hörte seinem Geplapper zu, während sie die Wadenwickel neu anlegte. Dann schlief Jonas ein und wurde erst wach, als der alte Doktor ihn begrüßte: „Na, Jonas, was hat dir denn der Reiter erzählt?“

Und Jonas plapperte munter drauflos, erzählte, dass er beim Reiter aufgesessen hatte und dass es mit dem Pferd dann über Stock und Stein gegangen sei.

„So, mein junger Mann, dann bist du wohl jetzt wieder gesund?!“

Der Arzt schaute aufs Fieberthermometer und nickte zufrieden der Mutter zu. Während sich der Doktor mit Jonas Mama unterhielt, sprach Jonas mit dem Reiter in seiner Hand.

Als der Doktor sich verabschiedete, sagte Jonas zum Arzt: „Herr Doktor, der Reiter hat mir gesagt, er möchte bei dir sein. Ich möchte dir den Reiter schenken.“

„Oh, Jonas, das ist aber ein tolles Geschenk. Danke! Wie heißt denn der Reiter?“

„Er heißt Reiter, Herr Doktor. Er freut sich schon, wenn er bei dir ist.“

Lächelnd steckte der Arzt den Reiter in die Arzttasche. „So, da ist er gut verwahrt, da kann er mir nicht davonreiten.“

„Herr Doktor, du musst dich hinten aufs Pferd setzen. So habe ich das auch gemacht!“

„Danke für den Rat, Jonas. Und nun gute Nacht. Morgen früh, noch vor der Sprechstunde, schaue ich zu dir!“

Der Arzt fuhr in seinem Auto davon. Noch zwei wichtige Besuche hatte er heute zu machen und dann - dann wartete sein großer Ohrensessel auf das verdiente Schläfchen vor dem Abendbrot.

Als er dann in dem Sessel saß, erinnerte er sich an das Geschenk. Er holte die Arzttasche und entnahm ihr den Reiter.

„Na, wohin wollen wir beide heute hintraben. Jonas meinte, ich solle mich hinter dich aufs Pferd setzen. Wollen wir?“

Und der Reiter „antwortete“ ihm, und der Doktor „schwang“ sich aufs Pferd und er saß hinten auf -  so, wie es der Jonas ihm gesagt hatte, und es ging über Stock und Stein.

Als die Haushälterin den Doktor zum Abendessen rufen wollte, fand sie den Doktor mit dem Spielzeugpferd in der Hand in seinem Sessel. Er war mit dem Tod davongeritten.