Geschichten für Erwachsene: Von Liebe und Schmerz

Sein größter Sieg

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von Joachim Größer (2010)

 

Zwischen zwei Felsenblöcken saß ein Mann mittleren Alters, bekleidet mit Jeans und einem warmen karierten Hemd. Zusätzlich schützte eine alte Wolldecke vor der Abendkühle. Dirk Hempel hieß er und hatte vor 10 Stunden endgültig beschlossen, seinem Leben ein Ende zu bereiten. War er doch immer ein Mensch, der sich in die Gesellschaft integrierte, immer angepasst war, so wolle er wenigstens im Tode aus diesen Zwängen ausbrechen und anders zu Tode kommen, als dies gewöhnlich ein Selbstmörder tut. Der Gedanke, mit seinen 47 Jahren das eigene Leben zu beenden, kam nicht überraschend, sondern entwickelte sich über viele Wochen. Es waren die Wochen und Monate, die zu den schlimmsten im Leben des Dirk Hempels gehörten. Alles fing damit an, dass seine Frau ihm erklärte, sie hätte die Scheidung eingereicht. Dirk Hempel fiel aus allen Wolken. Nie hatte er daran gedacht, dass seine Frau ihn verlassen könnte. Er schuftete und rackerte von morgens bis abends, machte Überstunden über Überstunden und selbst am Wochenende war er auf der Baustelle, wenn sein Chef ihn rief. Dirk Hempel war eben unabkömmlich.

Seine Frau hatte es längst aufgegeben, ihn für ein geordnetes Familienleben zu gewinnen. Seine Argumente, wie: „Ich kann doch meine Kollegen nicht im Stich lassen!“ oder „Mein Chef braucht mich!“ oder „Ohne mich geht es nicht!“, kannte sie zur Genüge und war nicht mehr bereit, sie zu akzeptieren. So warf sie ihre „Angel“ aus und fischte sich einen Freund aus der Masse der Single heraus, der nur darauf wartete, seine Füße in einem weichen Bett zu wärmen.

Selbst als der Richter die Trennung verkündete, gab sich Dirk Hempel immer noch keine Schuld an dieser Scheidung. Aber mit dieser Scheidung begann seine Unglücksphase.

Dass seine Frau ihn nach fast 20 Jahren so einfach verließ, das konnte er noch verschmerzen. Dass sie aber den Jungen, den Felix mitnahm, das traf ihn mitten ins Herz. Zwar sah er den Jungen noch ab und zu, aber seine Frau wusste es so einzurichten, dass die Tage des Zusammenlebens immer seltener wurden. Kämpfte er zuerst noch dagegen an und pochte auf seine Rechte als Vater, so kapitulierte er nach einem Jahr. Er war jetzt völlig einsam – einsam und verlassen. Das Zimmer, indem er nun hauste, wurde zu seinem selbst gewählten Gefängnis, und in diesem Loch hatte er nur noch einen Freund: den Alkohol.

Als er an einem Morgen zu Arbeitsbeginn mit einer Alkoholfahne auf seinen Kran steigen wollte, gab es die erste Abmahnung. Dann waren es nur noch wenige Tage und er erhielt die fristlose Kündigung.

Der soziale Abstieg war nicht mehr aufzuhalten. Dirk Hempel war ein gebrochener Mann. Sein Körper reagierte auf den Alkoholmissbrauch und Dirk Hempel bekämpfte die Schmerzen mit Alkohol. Dann, als er sich zwischen zwei Besäufnissen aufraffte und den Arzt aufsuchte, kam die Hiobsmeldung: Krebs – unheilbar.

Dirk Hempel trank keinen Schluck Alkohol mehr. Er entschloss sich, seinem versauten Leben ein Ende zu bereiten.

Da er sich von allen verlassen fühlte, wollte er einen Freitod wählen, der seinem jetzigen Leben entsprach. Er kramte in dem Koffer mit alten Büchern und fand das Gesuchte: sein Lieblingsbuch aus den Kindertagen. Er las es die ganze Nacht, und als der Morgen graute, wusste er, dass er so sterben wollte, wie der Indianerhäuptling, der im Buch „Grauer Wolf“ hieß. Er suchte seine starken Schmerztabletten, nahm die alte Wolldecke und marschierte in den Morgen. Sein Ziel war die einsame Bergkuppe mit dem Felsmassiv. Diesen Platz hatte er auf einem Ausflug mit seinem Sohn entdeckt. Hier spielte er oft mit seinem Felix „Winnetou und Old Shatterhand“, hier war er einst sehr glücklich und hier wollte er mit diesen glücklichen Erinnerungen sterben.

Dirk Hempel setzte sich an die Felsen, legte sich die wärmende Decke über und entschied endgültig: Ich will nicht mehr leben!

Aber immer wieder brachten ihn die Schmerzen in seinem Bauch ins Leben zurück. So nahm er alle Schmerztabletten und endlich hatte er Ruhe und konnte sich auf den Tod einstimmen.

Er schloss die Augen, die er nie wieder öffnen wollte. Er summte ein altes Wiegenlied aus den Kindertagen. Er kannte zwar die Melodie, nicht aber den Text.

Hätte ihn jetzt ein Wanderer gesehen, er hätte glauben müssen, dass dieser Mann in Trance sich sanft hin und her bewegte. Ja, Dirk Hempel hatte es geschafft, sich mithilfe der Medikamente und des melodischen Sing-Sangs in einen Trance-Zustand zu versetzen.

Der, der den Tod suchte, hatte aber nicht mit der Energie seines eigenen Ichs gerechnet. Dirk Hempel hatte sich so in eine andere Welt versetzt, dass in seinem Inneren zwei Dirk Hempels begannen, um Leben und Tod zu streiten:

„Ich bin ein Versager, habe immer nur aufgegeben und nie gewonnen!“

„Quatsch nicht blöd! Du bist ein Siegertyp! Immer hast du den Kampf gesucht und nie feige gekniffen!“

„Und wie war das in den Kindertagen? Meine Klassenkameraden haben mich verspottet und veralbert und ich habe klein beigegeben!“

„Hast du nicht! Du hast dir den größten Angeber vorgeknöpft und hast ihn vor allen deinen Mitschülern verprügelt!“

„Und dafür musste ich nachsitzen – also bin ich doch ein Verlierer!“

„Du hast gewonnen, denn deine Mitschüler akzeptierten dich! Neue Freunde hat dir der Kampf gebracht!“

„Und was war in der Lehre? Für den Ausbilder war ich der Junge mit den zwei linken Händen? Nichts gelang mir!“

„Und was war nach der Ausbildung? Wer hat den Wettkampf gewonnen? Wer heimste das Lob für die beste ausgeklügelte Arbeit ein. Das warst du und dein ehemaliger Ausbilder meinte: ‚Der Junge hat goldene Hände!‘“

„Und als ich auf dem Bau anfing und den Lehrgang zum Kranführer machte, wer hat da den Kran fast zum Umfallen gebracht? Das war ich!“

„Ja, das warst du. Aber du warst auch der einzige Kranführer, der nur mit einem Fernglas versehen, ein Kerzenlicht am Boden löschen konnte, ohne dass die Kerze umfiel. Du warst der große Könner!“

„Ich habe die falsche Frau geheiratet! Sie hat mich verlassen! Ich habe versagt!“

„Ja, du hast Fehler gemacht, aber deine Frau auch. Es ist müßig zu sagen, wer von euch beiden die größeren Fehler gemacht hat. Fehler zu machen ist menschlich, Dirk!“

„Ich habe Krebs! Unheilbar! Ich werde sowieso in Kürze sterben! Mit meinem Freitod erspare ich mir Schmerzen!“

„Ja, du hast Krebs! Aber hast du nicht gelesen, dass es Selbstheilungen gab?! Du kannst das auch! Aktiviere deine Kräfte und bekämpfe deinen inneren Schweinehund!“

„Solche Heilungen waren doch nichts als Zufälle!“

„Du hast nur keine Energie, um das zu versuchen!“

„Ich habe immer Energie bewiesen und Stärke gezeigt!“

„Dann zeige sie auch jetzt! Jetzt! Jetzt …!“

So stritten sich die beiden Ichs des Dirk Hempels. Hatte aber der Dirk Hempel geglaubt, dass es nicht auffallen würde, wenn es ihn nicht mehr gäbe, so irrte er. Zuerst wunderte sich die alleinerziehende Nachbarin. Fragte doch ihre Tochter, wo der „Onkel“ heute sei. Und da es der Frau seltsam vorkam, dass der Briefkasten nun schon den dritten Tag nicht geleert wurde, da rief sie den Hausmeister an.

Mürrisch kam er auch und knurrte: „Was soll schon mit dem versoffenen Hempel sein? Er ist garantiert sturzbetrunken!“ Aber er öffnete die Tür mit dem Generalschlüssel.

Den Brief auf dem Tisch entdeckte zuerst die Nachbarin. Sie überflog die ersten Zeilen und kreidebleich reichte sie das Schriftstück dem Hausmeister: „Herr Hempel nimmt sich das Leben! Das ist sein Abschiedsbrief, gerichtet an seinen Sohn!“

Nun zeigte der Hausmeister, dass er das Herz auf dem rechten Fleck hatte: „Das hätte ich dem Hempel nie und nimmer zugetraut! Nein, da muss man doch was machen!“

Und er zückte sein Handy und wählte die 110.

Keine fünf Minuten später kam ein Polizist in Zivil die Treppen hochgestürmt. Zehn Minuten später raste ein Polizeiauto mit Blaulicht und Sirene zur Schule. Fünfzehn Minuten später saß ein kreidebleicher und innerlich furchtbar aufgewühlter Fünfzehnjähriger im Fahrzeug und erklärte dem Kommissar: „Ich war mit Papa immer am ‚Indianerfelsen‘. Dort haben wir sehr oft ‚Winnetou‘ gespielt. Ich kenne den Weg noch.“

Dreißig Minuten später japste ein rundlicher Kommissar nach Luft und ein Felix Hempel rief: „Schneller Herr Kommissar! Wir sind gleich oben!“

Und dann fühlte ein immer noch atemloser Kommissar dem an den Felsen Sitzenden den Puls und nach mehrmaligem Kontrollieren rief er dem Felix zu: „Dein Papa lebt noch! Ich fühlte ganz deutlich seinen Puls!“

Und Felix setzte sich zu seinem Papa und begann mit ihm zu reden. Er wusste hinterher nicht, warum er das getan hatte, aber er redete und redete auf seinen in sich gesunkenen Papa ein und beschwor ihn, nicht zu sterben. Mit Tränen in den Augen rief er, wieder und wieder: „Papa, ich brauche dich! Papa, du darfst nicht sterben!“

Der Pilot vom Rettungshubschrauber brachte das Kunststück fertig, auf der kleinen Fläche neben dem Felsmassiv zu landen. Fünfzehn Minuten später lag Dirk Hempel im Bett des Klinikums. Maschinen halfen, sein Leben zu erhalten.

Eine Stunde später standen Felix Hempel und der Kommissar vor dem Arzt und hörten, dass die Chance für Dirk Hempel am Leben zu bleiben, recht gut seien. Felix Vater war stark unterkühlt, aber das wiederum könnte auch ein Vorteil gewesen sein. Auf jeden Fall ist das Hoffen auf Genesung berechtigt.

Als dies der Arzt sagte, wusste weder er noch der Felix Hempel, dass Dirk Hempel unheilbar krank war. Nur der Kommissar, der den ganzen Brief gelesen hatte, dachte: „Dann wäre der Tod nur aufgeschoben, nicht aufgehoben!“ Und er bekam Gewissensbisse, dass er dem Felix dieses absichtlich unterschlagen hatte. Doch dann sagte er sich, dass es jetzt darauf ankäme, dass der Dirk Hempel erst einmal wieder den Sprung ins Leben gewinnen müsste.

Und das dauerte sehr lange. Viele Tage lag Dirk Hempel im Koma. Die Ärzte schafften es, ihn soweit zu stabilisieren, dass keine unmittelbare Lebensgefahr mehr bestand. Nur – „Der Patient muss leben wollen!“, so formulierte es der alte erfahrene Arzt. Er bat auch um viele Besucher, die mit dem Patienten sprechen sollten. So fand sich Felix täglich ein und sprach mit seinem Papa. Und er redete über sich, über seine Probleme und Sorgen und endete immer: „Papa, du musst aufwachen! Ich brauche dich doch!“

Auch Dirk Hempels Ex-Frau kam, sah sich das menschliche Wrack an, empfand keine Liebe mehr, noch nicht einmal Mitleid. Frau Hempel, die bald Frau Bacher heißen wird, kam nie wieder. Dafür kam die freundliche alleinerziehende Nachbarin. Oft wechselte sie sich mit dem Felix ab und beide verband der Wunsch, dass der Dirk Hempel die Augen aufschlagen solle. Auch der Hausmeister kam und selbst der Kommissar erkundigte sich, wenn er in der Nähe zu tun hatte, nach dem Befinden des Patienten. Einmal setzte er sich ans Bett und sprach mit Dirk Hempel: „Höre Dirk Hempel, ich habe deinen Brief deinem Sohn vorenthalten. Das hätte ich nicht tun dürfen, aber ich habe emotional entschieden. Jetzt musst du mir den Gefallen tun und wieder gesund werden. Du sollst selbst entscheiden, ob dein Sohn den Brief lesen soll oder nicht. Und außerdem darfst du dich nicht so aus dem Leben verabschieden. Dein Sohn braucht dich. Er braucht dich jetzt mehr als seine Mutter. Du hast die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, deinem Sohn beim Erwachsenenwerden zu helfen. Weißt, ich weiß, wovon ich spreche. Bin selbst nur mit Mutter aufgewachsen. Was hätte ich damals drum gegeben, noch einen Vater zu haben. Felix hat noch einen und du musst vergessen, dich selbst töten zu wollen. Verdammt noch mal, du musst gesund werden! Kämpfe Hempel! Kämpfe! Wenn ich wieder an dein Bett trete, will ich mit dir reden! Und zwar so, dass du redest und ich höre dir zu! Hast du das verstanden, Dirk Hempel?!“

Noch eine Woche dauerte der Kampf. Dann konnte der Kommissar einen Blick ins Krankenzimmer werfen. Er sah einen glücklichen Felix, der die Hände seines Papas hielt. Er sah die freundliche Nachbarin, die gerade Blumen in eine Vase stellte, er sah den Hausmeister, der auf seinen Mieter einredete. Schon wollte er die Tür schließen, als ihn Felix entdeckte. Er sprang auf und zog den Kommissar ins Zimmer.

„Papa, das ist der Kommissar, der mit mir zum Indianerfelsen aufgestiegen ist.“

„Dann verdanke ich Ihnen mein Leben!“, sprach Dirk Hempel leise.

„Nein, nein! Mir verdanken Sie gar nichts! Ich tat nur meinen Job. Bedanken Sie sich bei Ihrer Nachbarin, bei Ihrem Hausmeister und Ihrem Sohn. Diesen drei Menschen verdanken Sie Ihr Leben. Aber wenn Sie das Krankenhaus verlassen, besuche ich Sie. Wir müssen noch etwas klären!“

Erleichtert verließ der Kommissar das Zimmer.

Einige Wochen später suchte Dirk Hempel den Facharzt auf. Der Arzt kontrollierte das Röntgenbild wieder und wieder, startete nochmals eine Untersuchung mit dem Ultraschallgerät, schüttelte wiederholt den Kopf und murmelte: „Das kann doch nicht sein?! Das gibt es doch gar nicht!“

Dann stürzte er aus dem Raum und kam aufgeregt diskutierend mit einem Kollegen wieder. Nochmals wurden alle Röntgenbilder begutachtet, nochmals wurde das Ultraschallgerät benutzt. Eine Arzthelferin kam ins Behandlungszimmer und wollte die Ärzte an die wartenden Patienten erinnern. Doch beide Ärzte winkten nur ab: „Sollen warten!“

Dann hörte Dirk Hempel einen Satz, der sein Leben noch einmal verändern sollte: „Herr Hempel, manchmal geschehen Wunder, die kein Arzt erklären kann. Wir können Ihre Krebsgeschwulst nicht mehr entdecken. Sie haben Ihren Krebs besiegt! Wir können Ihnen nur gratulieren!“

Wissen Sie, wie ein Dirk Hempel die Straße entlangspazierte?! Nicht nur seine Augen, sein ganzer Körper strahlten vor Glück.

Und Glück hatte Dirk Hempel ein zweites Mal. Er traf den Paule, seinen ehemaligen Arbeitskollegen. Von ihm erfuhr er, dass der Bauleiter schon mehrmals fluchend angemerkt hatte, dass dem Hempel solch ein Pfusch nie passiert wäre. Jetzt suche er krampfhaft nach einem neuen Kranführer. Und Paule meinte: „Mann, Dirk, komm mit zum Chef! Frage ihn, ob er dich braucht!“

Dirk Hempel zögerte, wollte nicht, zu sehr schämte er sich für den berechtigten Rausschmiss. Dann dachte er an seinen Sohn Felix, der den Wunsch geäußert hatte, zu ihm zu ziehen. Er brauchte Geld, er brauchte einen Job. So stand er in der nächsten Stunde vor dem Bauleiter und am nächsten Tag saß er in seinem Kran.

Ein glücklicher Dirk Hempel schaute aus luftiger Höhe zu den „kleinen“ Menschen da unten. Und damit nichts mehr schief laufen sollte, hatte er diesmal vorgesorgt. Er verlangte nämlich, dass Überstunden nur bedingt von ihm zu leisten seien, damit die Familie nicht wieder auseinanderbrechen solle.

Ach ja Familie, dazu gehören ja bekanntlich neben Mann und Kind auch eine Frau. Nun ja, liebe Leser, Sie haben doch viel Fantasie und wissen doch, wie meine Geschichte endet. Oder?