Geschichten für Erwachsene: Von Liebe und Schmerz

Der erste Schnee (eine etwas andere Liebesgeschichte)

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von Joachim Größer (2011)

 

Gilbert Schmitts stapfte durch die weiße Pracht. Es schneite seit Stunden – große weiche Flocken. Jeder hatte seinen weißen Hut bekommen. Die Dächer, der Haufen Laub, die Äste und Zweige und selbst die dünnen Stromleitungen glänzten mit der weißen Pracht. Auch Gilberts Mütze war weiß statt grau, weiß leuchtete auch das Haar unter der Mütze hervor - weiß nicht vom Schnee sondern vom Alter. Schon längst hätte der alte Mann zu Hause sein müssen, seine Frau wird sich schon Gedanken machen, wo er nur bleibe: Er, der Gilbert, der die „innere Uhr“ besaß, nie zu spät kam und Unpünktlichkeit hasste, wie die Unehrlichkeit und die Überheblichkeit.

Aber heute wusste er selbst nicht, was mit ihm los war. Es muss an diesem Schnee, dem ersten Schnee in diesem Jahr liegen. Jetzt sah er den ersten Jungen, der freudestrahlend seinen Schlitten durch den Schnee zog. Gilbert sah die Spur im Schnee und er sah, dass der Rost des Eisens der Schlittenkufen den Schnee in der Spur braun färbte. Und sofort kamen Kindheitserinnerungen hoch, Erinnerungen, die ihn in eine Zeit zurückführte, als er nicht älter war, als der Knirps, der vor ihm mit seinem Schlitten lief. Er dachte an seinen Freund, den Max und an seine große Kindheitsliebe, an Gerda. Er erinnerte sich, wie er sich mit Max geprügelt hatte, weil er dem Max von seiner Liebe zu Gerda erzählt hatte und sein bester Freund nichts Besseres zu tun hatte, als ihn, den Gilbert mit dieser Liebe aufzuziehen.

Gilbert lächelte gedankenversunken. Ja, er sah noch die roten Tropfen Blut, die den weißen Schnee färbten, er sah sich „auf Leben und Tod“ prügeln und er wusste auch noch, dass er mit dem Max hinterher zwei Wochen kein Wort gesprochen hatte. Nun – der Max lebt schon einige Jahre nicht mehr und Gerda? Gerda zog ein Jahr später aus der Stadt. Nie wieder hatte er von ihr gehört.

Gilbert lüftete die Mütze und schüttelte den Schnee herunter. Auch hoffte er, dass er damit die alten Erinnerungen vertreiben konnte.

Doch die Erinnerung blieb. Zwanghaft suchte Gilbert die spielenden Kinder, und um sich an ihrem Schlittenfahren, ihrem fröhlichen Lachen, ihrem Zecken und Necken erfreuen zu können. Und so setzte sich der alte Mann auf eine schneebedeckte Bank. Dort saß er nun und die alten Augen nahmen wahr, was oftmals den Jungen verborgen blieb. Da stritten sich doch zwei Bengel, wer auf dem Schlitten, der einem Mädchen gehörte, mit dem Mädchen rodeln dürfe. Die Kleine schlichtete, indem sie mit beiden den Berg hinunterrodeln wollte.

„Kinder“, murmelte Gilbert lächelnd und er schloss die Augen. Die Vergangenheit kam wieder zurück und erfasste das gesamte Denken des alten Mannes. Gilbert saß mit geschlossenen Augen und erwärmte sich an den Erinnerungen der Kindheit, der Jugend. Er sah sich um die Hand seiner Konstanze anhalten, erlebte das Glück, Vater genannt zu werden. Gilbert saß und wären Spaziergänger im Park gewesen, so hätten sie ihn für einen Schlafenden gehalten. Aber die Einzigen, die den Park mit ihrem Lachen und Schreien mit Leben erfüllten, waren die rodelnden Kinder am Rande des Parks.

Doch - einen Besucher gab es. Eine alte Frau hastete mit hochrotem Gesicht auf den verschneiten Wegen. Ihre Augen suchten ihren Mann, der nun schon mehr als eine Stunde überfällig war. Dann endlich erblickte sie eine menschliche Gestalt auf der anderen Seite des Parkes. Völlig eingeschneit war diese Gestalt. Mit klopfendem Herzen verließ die Frau den Parkweg und hastete über Beete, durchs Gestrüpp. Dornige Rosenzweige zerkratzten ihre Hände, ein Ast streifte ihr die Kappe vom Kopf – die Frau spürte davon nichts.

Dann stand sie vor dem Menschen, von dem sie annahm, dass dies ihr Gilbert, mit dem sie fast sechzig Jahre verheiratet war, sei.

Vorsichtig strich sie ihm den Schnee von der Mütze. Sie erkannte die Kopfbedeckung, sah sein Gesicht.

„Gilbert“, flüsterte sie, „Gilbert, komm, wir gehen heim!“

Aber erst bei dem dritten Versuch regte sich der Gilbert Schmitt. Mühsam öffnete er die Augen. „Konstanze! Du hier?“

„Komm Gilbert“, antwortete sie ihm. „Wir müssen heim! Komm, ich führe dich!“

Sie zog ihren Mann mit all ihren Kräften hoch. Mühsam nur gelang es dem Alten, auf den Beinen stehen zu bleiben.

„Wir müssen laufen, Gilbert! Schnell laufen!“ Und die Frau begann, mit Trippelschritten zu laufen und zog und zerrte an ihrem Gilbert, bis der auch die Beine schwerfällig bewegte.

„Laufen, Gilbert!“ Fast zärtlich klangen die Worte und ihr Gilbert tat ihr den Gefallen, und er lief mühselig mit schweren Schritten neben seiner Konstanze.

„Ach, Konstanze, ich sah die Kinder beim Rodeln und sah ihnen beim Spielen zu. Die Erinnerungen kamen hoch, Erinnerungen, Konstanze.“

„Später Gilbert! Später! Jetzt musst du laufen! Laufen, Gilbert!“

Und Gilbert lief mit seiner Konstanze und er lief nach Konstanzes Ansicht dem Tod davon. Die beiden Alten liefen noch mit ihren kleinen Trippelschritten, als sie auf der Hauptstraße waren. Und so mancher der jungen Leute auf der Straße sah verwundert oder auch mitleidig lächelnd den beiden Alten hinterher.