Geschichten für Erwachsene: Von Liebe und Schmerz

Der Rosenmann

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von Joachim Größer (2010)

 

Es ist das dritte und letzte Haus in der Rosenstraße. Eigentlich ist die Rosenstraße keine Straße, sondern eine Gasse. Wobei Gässchen wohl die bessere Bezeichnung für diesen schmalen Weg wäre. Dieses dritte und letzte Haus, besser wäre zu sagen Häuschen, war im sanften Gelb gestrichen. Freundlich wirkte es auf die Spaziergänger, die diesen Weg zum großen Stadtwald am Wochenende nutzten. So mancher blieb am niedrigen Zaun stehen und bewunderte im Vorgarten die nie versiegende Rosenpracht. Der Hobbygärtner und Eigentümer des Hauses und des Gartens sah dies gern, beantwortete bereitwillig neugierige Fragen, und wenn einer der Bewunderer ihm besonders sympathisch war, lud er ihn in den großen Rosengarten hinter dem Haus ein.

Dann erfreute es den Rosengärtner, wenn die Besucher in ein "Ahhh!" und "Ohhh!" ausbrachen, wenn sie den betörenden Duft, der diesen Garten nicht nur für das Auge sondern auch für die Nase erlebbar machte, tief in sich einsogen. Der Gärtner, der eigentlich Stämpfli hieß, war in der Nachbarschaft nur als der Rosenmann bekannt. Und Herr Stämpfli genoss diesen Namen "Rosenmann", wie er jedes freundliche Wort der Anerkennung in sich aufsog - so wie den Duft seiner Rosen. Traurig wurde er im Spätherbst, wenn der nahende Winter seine Rosen zum "Schlafen" zwang. Um aber auch in dieser Jahreszeit, für den Rosenmann ist dies eine unnütze, seine Rosen "genießen" zu können, baute Herr Stämpfli ein Gewächshaus, in dem er selbst bei Temperaturen weit unter minus 20° C sich mit Rosen beschäftigen konnte. Frau Stämpfli hatte sich in den langen Jahren ihrer Ehe an die Marotten ihres Gatten gewöhnt. Zuerst hatte sie versucht, ihn auch für andere Dinge des Lebens zu begeistern, musste aber feststellen, zwang sie ihn zu einer Urlaubsreise oder auch nur zu einem Verwandtenbesuch, so wurde er unleidlich, verdrossen und zu einem über alles nörgelnden Zeitgenossen. Kaum betrat er seinen Rosengarten blühte Herr Stämpfli auf, sein Unwirsch wandelte sich in ein Lächeln, er scherzte und schäkerte mit seiner Frau, die ihm dann all seine schlechte Laune verzieh. Nur einmal brachten die Rosen des Herrn Stämpfli seine Ehe ernsthaft in Gefahr. Dies war gleich zu Beginn ihrer Ehe, als Herr Stämpfli sich nämlich weigerte, eine teure und lange Reise nach Übersee anzutreten. Der Grund dafür war ein von den Meteorologen vorausgesagtes kräftiges und lang andauerndes Hoch, das einen besonders heißen und trockenen Sommer versprach. Weinend musste Frau Stämpfli hören, dass ihr Mann seine Rosen nicht verlassen könne und sie solle alleine reisen. So vergrub sie sich drei Wochen hinter Büchern und Fernsehfilmen, während Herr Stämpfli dieses Rosenwetter mit seinen Züchtungen verbrachte. Drei Wochen lang sprach sie nicht mit ihm. Erst am letzten "Urlaubstag" beendete sie das Schweigen mit dem Satz: "Zu Hause ist es doch am schönsten!"

Als Wiedergutmachung präsentierte Herr Stämpfli ihr eine Neuzüchtung, der er den Namen seiner Frau "Anne-Rose" gab. Und "Anne-Rose" war wirklich eine Schönheit. Von blauroter Farbe, versehen mit einem betörenden Duft bezauberte diese Züchtung nicht nur Frau Stämpfli sondern auch die Rosenzüchter. Fortan kannte man den Namen "Stämpfli" im ganzen Rosenland.

So vergingen die Jahre und jedes Jahr kürte Herr Stämpfli eine neue Rose. Erinnern sich andere Leute zurück und sagen "Das war das Jahr mit dem besonders kalten Winter!", dann sagt Herr Stämpfli "Das war das Jahr als `Rosetta´ den ersten Preis gewann!"

So vergingen die Jahre und Herr Stämpfli, der Rosenmann, wurde von Jahr zu Jahr schrulliger. Zuerst begann er, mit seinen Rosen zu sprechen. Wie oft hörte ihn Frau Stämpfli sagen: "Guten Morgen, meine Schöne! Heute wird dich die Sonne erfreuen!" Glaubte sie das erste Mal, ihr Mann meine sie - sie fühlte sich sogar geschmeichelt - wurde sie schnell eines Besseren belehrt.

Mit Sorgen blickte Frau Stämpfli dem nahenden Ruhestand ihres Mannes entgegen. Und als dieser Tag kam, an welchem Herr Stämpfli nicht mehr das Haus verlassen musste, verließ er es auch nicht mehr. Er gehörte seinen Rosen - vollkommen und ohne jegliche Einschränkung! Pünktlich um 8 verließ er den Frühstückstisch und war bis um 12  für niemanden zu sprechen. Nach dem Mittag dasselbe - Punkt 6 abends rief ihn seine Frau zum Abendbrot. Ab 7 schaute sie in die Fernsehröhre und er las "Rosenbücher". Als er nichts Neues mehr über Rosen erfahren konnte, begann er selbst über Rosen zu schreiben.

So lebten sie, ein älteres Ehepaar, das leider kinderlos blieb, in den Tag hinein. Für Außenstehende war es die Harmonie einer wunderbaren Ehe - für Herrn Stämpfli die Rosenharmonie von Duft und Farbe und für Frau Stämpfli ... wurde diese Ehe zu einem Albtraum.

Das Verhalten ihres Mannes veränderte sich rasant. Zuerst sprach er im Traum und erzählte ihr morgens von den herrlichen Traumbesuchen im Rosenland, von der Herrschaft der Rosenprinzessin und von den Aufträgen, die ihm die Herrscherin übertragen habe. Dann schwieg er zusehends und auch auf ihr Nachfragen bekam sie keine vernünftige Antwort mehr. Nur einmal sagte der Herr Stämpfli zu ihr: "Mir ist Schweigen befohlen worden!" Und Herr Stämpfli schwieg! Hatte zuerst die ominöse "Rosenprinzessin" Herrn Stämpfli nur in seinen Träumen beherrscht, so weitete sie diese Herrschaft auf den Tag aus. Sie, die geheimnisvolle Prinzessin, musste ihm befohlen haben, nur noch Rosenwasser zu trinken und Frau Stämpfli musste alle seine Speisen mit einem Rosenaroma versehen. Er bereitete diese Extrakte in seinem Gewächshaus und niemandem gewährte er Eintritt und Einblick.

Nicht nur seine Seele litt - auch körperlich verfiel Herr Stämpfli zunehmend. So kam der Tag, an dem Frau Stämpfli im Krematorium die Asche ihres Mannes entgegennahm. Ohne Zaudern entnahm sie heimlich die Asche der Urne und verfüllte diese mit Asche des häuslichen Herdes. Teilnahmslos schaute sie dem Beerdigungsritual zu, teilnahmslos nahm sie die Beileidsbekundungen entgegen. Erst zu Hause, allein im Garten mit den Rosen ihres Mannes, sprach sie: "So erfülle ich dir deinen letzten Wunsch." Sie öffnete den Beutel mit der Asche und roch daran. "Selbst deine Asche riecht noch nach Rosen, Stämpfli", murmelte sie. Nun ging sie das letzte Mal durch den Rosengarten. Vorsichtig streute sie die Asche um die Rosen. Die meiste Asche erhielt ihre Rose - die Anne-Rose. "Nun wachst, ihr Geschöpfe!", sagte sie und fügte hinzu: "Siehst du’s, Stämpfli? Ich habe dir deinen letzten Wunsch erfüllt! Leb wohl!"

Frau Stämpfli betrat den Garten nie wieder. Die Rosen gediehen prächtig. Ihren betörenden Duft konnte Frau Stämpfli bei geöffnetem Fenster riechen. Dann dachte sie an die letzten Worte ihres Mannes - Worte, die er kurz vor seinem letzten Atemzug bei klarem Verstande sprach: " Du bist das Beste in meinem Leben gewesen! Du bist die wahre Rosenprinzessin!" Und die Tränen rollten ihr über die runzligen Wangen.

Die Rosen des Herrn Stämpfli wuchsen, verwilderten und bald war kein Zugang zum Garten mehr möglich. Auch der Vorgarten bot nun keinen Blickpunkt für Spaziergänger mehr. Trotzdem rief ein kleines Mädchen freudig aus, als sie das Haus mit den Rosen sah: "Das ist das Dornröschenschloss!" Nur, dass die alte, weißhaarige Frau am Fenster keine Prinzessin war.